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Offener Brief: Abschiebung von Jesidinnen und Jesiden sofort stoppen

Offener Brief gegen die Abschiebung von Jesidinnen und Jesiden aus Deutschland
Offener Brief gegen die Abschiebung von Jesidinnen und Jesiden aus Deutschland (Quelle: jungleblog)

Tausende von Jesidinnen und Jesiden in Deutschland sind von der Abschiebung in den Irak bedroht. Dieser offene Brief an alle Mitglieder des Deutschen Bundestags fordert einen sofortigen Abschiebestopp. Er wurde auch auf Change.org veröffentlicht und kann immer noch unterzeichnet werden.

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

mit diesem Brief wenden wir uns an Sie, da uns täglich neue Mitteilungen über Abschiebungen von Jesidinnen und Jesiden und viele verzweifelte Hilferufe erreichen.

Vor nicht einmal einem Jahr, am 19. Januar 2023, haben Sie alle – einstimmig, ohne jeglichen Fraktionszwang und nur Ihrem Gewissen verpflichtet – für die »Anerkennung des Völkermords an den Jesiden« gestimmt (Drucksache 20/5228). Damit haben Sie Hoffnungen und Erwartungen bei Menschen geweckt, die vor Tod und Unterdrückung geflohen sind und in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben. Menschen, die sich auf die Umsetzung starker Aussagen verlassen haben.

Wir möchten Sie an die damalige Bundestagssitzung und an einige der vielen unterstützenden Wortmeldungen erinnern:

CSU-AbgeordneterJonas Geissler sprach von Deutschland als der zweiten Heimat für Jesidinnen und Jesiden. In Richtung der IS-Täter sagte er: »Wenn ihr ihnen eure Welt nehmen wolltet, so geben wir ihnen die unsere.«

Der Abgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Max Lucks postulierte: »In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora. Das verpflichtet uns, als Bundestag aktiv zu werden. Erlebte Traumata, die stetige Angst, nicht in Sicherheit zu leben, das Gefühl, dass die Welt nicht auf die humanitäre Lage der Jesidinnen und Jesiden schaut, mit unserer Initiative möchten wir genau hierunter einen Schlussstrich ziehen.«

Auch die SPD-Abgeordnete Anika Klose wies explizit darauf hin, der Bundestag werde nun dafür sorgen, dass das Geschehene nie wieder geschehen kann und betonte: »Wir gehen den schweren Weg gemeinsam.«

Der Abgeordnete der FDP, Peter Heidt, erklärte, »dass es darum gehe, einem geschundenen Volk zu helfen und der geschundenen jesidischen Gemeinschaft in der größten Diasporagemeinde ein Leben ohne Diskriminierung zu ermöglichen«.

Michael Brandt, Abgeordneter der CDU, betonte damals, »dass der Bundestag ganz bewusst die Verpflichtung eingehe, dem jesidischen Volk zur Seite zu stehen – auf allen Ebenen und auf Dauer«.

Alle Fraktionen betonten die besondere Schutzbedürftigkeit der Jesidinnen und Jesiden. Die abschließende Aussage von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock machte die Bedeutung und Tragweite der Anerkennung sichtbar: »Der Parlamentsbeschluss steht stellvertretend für das ganze Land. Deutschland erkennt den Völkermord an den Jesiden an.«

An der Seite der Jesiden

Damit stellte sich Deutschland unverrückbar an die Seite der Jesidinnen und Jesiden. Entrechteten und gedemütigten Menschen, die alle in ihren Familien Morde, Zwangskonvertierungen, Geiselnahmen und zigfache Vergewaltigungen an engsten Verwandten erleben mussten, gab es die Gewissheit, ein neues Leben beginnen zu können, mit allen Rechten und Pflichten, ein gerechtes Leben in der neuen Heimat.

Diese Gewissheit wird durch die nunmehr durchgeführten und weiter geplanten Abschiebungen ins Gegenteil verkehrt. Den Jesiden droht durch die Rückkehr die Fortsetzung des Völkermords.

Lassen Sie nicht zu, dass der Islamische Staat am Ende doch noch siegt. Zeigen Sie, dass Deutschland fest an der Seite der Opfer steht und füllen Sie das viel zitierte »Nie wieder« mit Leben.

Die jesidische Gemeinschaft, die gerade erst anfängt, zumindest in der Diaspora ihr Trauma aufzuarbeiten, ist durch die jüngsten Abschiebungen zutiefst verunsichert. Fast alle Bundesländer schieben »geduldete« Jesidinnen und Jesiden wieder vermehrt in ihr Herkunftsland, den Irak, ab. Diese Abschiebungen widersprechen dem Ansinnen ihres Beschlusses vom Januar und auch der von der Innenministerkonferenz getroffenen Vereinbarung von 2019, Jesidinnen und Jesiden nur bei Vorliegen schwerer Straftaten in den Irak abzuschieben.

Zurück ins Land der Täter?

So werden traumatisierte Menschen zurück in das Land der Täter geschickt. Ihre Brüder und Schwestern hausen noch immer in völlig unzureichend ausgestatteten und überfüllten Flüchtlingslagern, es gibt derzeit keinen Platz im Irak, wo diese Menschen leben könnten. Der auch von der Bundesregierung zugesicherte Wiederaufbau des Shingal, des Ursprungsgebiets der Jesiden, hat noch nicht einmal begonnen, und erst vor wenigen Tagen wurde hier eine vielköpfige jesidische Familie ermordet. Ein aus Deutschland abgeschobener Jeside verstarb keine zwei Tage nach seiner Rückkehr auf offener Straße in Erbil.

Die offenkundig geplante und koordinierte Durchführung dieser Abschiebungen aus fast allen Bundesländern überrascht umso mehr, als es sich mehrheitlich um inzwischen gut integrierte Menschen handelt. Sie sind berufstätig, gehen zur Schule oder werden als Einzelpersonen aus dem Familienverbund gerissen.

Zwei Fälle seien beispielgebend:

  • Eine junge Jesidin darf mit siebzehn Jahren ihrer Familie nach Deutschland folgen. Vier Jahre später hat sie ein einjähriges Kind und ist als Volljährige ein eigenständiger Asylfall. Ihr Aufenthaltsrecht wird widerrufen, da sie wegen des Kindes keiner beruflichen Tätigkeit nachgehen kann. Sie muss mit dem Kleinkind zurück in das Land der Täter. Der Rest ihrer Familie darf bleiben, wohl wissend, dass die Tochter und Schwester sowie das Enkelkind im Irak kaum Überlebenschancen haben.

Dies haben Sie mit Ihrer Abstimmung im Januar sicherlich nicht bezweckt: die Jesidinnen und Jesiden als Opfer eines Völkermords anzuerkennen, um sie postwendend in das Land des Völkermords abzuschieben.

  • Ein junger Mann war während der letzten vier Jahre drei Jahre lang berufstätig. Während der auf die Corona-Krise folgenden Rezession verlor er seinen Arbeitsplatz, besorgte sich eigenständig einen neuen Job und vereinbarte einen Termin bei der Ausländerbehörde, um seine Arbeitserlaubnis zu verlängern. Als er diese abholen wollte, erwartete ihn die Polizei, um ihn in Abschiebegewahrsam zu nehmen.

Niedersachsen macht es anders

Es gibt jedoch auch ein Bundesland, das zeigt, wie es auch anders geht: Niedersachsen bleibt seiner Linie treu, Jesidinnen und Jesiden nur dann abzuschieben, wenn eine schwere Straftat begangen wurde. Hier ist die Rede von der neuen Heimat noch mit Leben gefüllt. Wie sagte die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad bei ihrem Besuch im Bundestag: »Deutschland ist meine zweite Heimat, daher sind Sie auch meine Abgeordnete.«

Was für Nadia Murad gilt, gilt für alle Jesidinnen und Jesiden. Sie sehen Deutschland als ihre neue Heimat an. Sie lieben dieses Land und die Möglichkeit, ohne Verfolgung ihre Sprache zu sprechen, ohne diskriminierende Einschränkungen gegen Jesidinnen einer Arbeit nachzugehen, den eigenen Glauben leben zu dürfen. Sie wissen die Vorzüge der Demokratie und die freie Meinungsäußerung zu würdigen und fühlen sich als Bestandteil dieses Landes.

Dieser Glaube ist nun mehr als erschüttert. Rund 300.000 Jesidinnen und Jesiden, das sind 25 Prozent aller Jesiden weltweit, leben in Deutschland. Ungefähr 30.000 von ihnen sind wegen ihres beschränkten Aufenthaltstitels von einer Abschiebung bedroht. In fast jeder Familie gibt es zumindest eine Person, der eine Rückkehr in das Land der Täter droht – ein Land, für das eine Reisewarnung vom Auswärtigen Amt ausgesprochen wurde; ein Land, in das momentan die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags angesichts der angespannten Lage nicht reisen können.

Kann die Sicherheit für unsere gut beschützten Parlamentarier nicht gewährleistet werden, wie soll es Sicherheit für jene Menschen geben, die von der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung immer noch als ungläubig und »Teufelsanbeter« angesehen wird?

Es bedarf des politischen Willens

Dies haben Sie mit Ihrer Abstimmung im Januar sicherlich nicht bezweckt: die Jesidinnen und Jesiden als Opfer eines Völkermords anzuerkennen, um sie postwendend in das Land eben dieses Völkermords zurückzuschieben. Am 19. Januar haben Sie bekundet, dass Deutschland an der Seite der Jesidinnen und Jesiden steht. Das bedeutet auch den sofortigen Abschiebestopp in den Irak.

Dazu bedarf es zuerst einmal des politischen Willens. Das Bundesministerium des Innern kann im ersten Schritt einen Abschiebestopp verhängen. Kommen die Bundesländer ihrer Pflicht nicht nach, ist der Bund gefordert.

Die Bundesrepublik hat ein starkes Parlament. Zeigen Sie diese Stärke und ermöglichen Sie ein Bleiberecht der Jesidinnen und Jesiden. Geben Sie der Regierung den Weg vor, um für ein echtes »Nie wieder« zu sorgen. Zeigen wir alle gemeinsam, dass Deutschland nicht mehr das Land ist, für den der juristische Begriff des Völkermords gefunden wurde, sondern ein Land, das an der Seite der Schwachen und Schutzbedürftigen steht.

Bitte hier den offenen Brief unterschreiben.

Als Erstunterzeichner unterstützen folgende Personen und Gruppen diesen offenen Brief:

  • Andrea Johlige, MdL Die Linke, Brandenburg
  • Anne Retzlaff, AK Asyl Friedrichsdorf
  • Dr. Ali Khalaf 1. Vors. Ezidxan International Aid e.V.
  • Enno Stünkel, Celler Netzwerk gegen Antisemitismus
  • Erzbischof Mor Julius Hanna Aydin, Syrisch Orthodoxe Aramäer Deutschland
  • Flüchtlingsrat Niedersachsen
  • GEA, Gesellschaft Ezidischer Akademiker e.V.
  • Gesellschaft für bedrohte Völker
  • Günther Burkhardt, PRO ASYL e.V.
  • Holger Geisler, Herausgeber Lalis Dialog (V.i.S.d.P)
  • Ilyas Yanc, 1.Vorsitzender Yezidisches Forum Oldenburg e.V.
  • Irfan Cakar, Rechtsanwalt
  • Jinda Organisation, Dohuk
  • Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe
  • Dr. Jochen Reidegeld, Friedensforscher
  • Josef Weidenholzer, ehemaliger MDEP, Präsident Volkshilfe Österreich
  • Jüdische Gemeinde Celle e.V.
  • Prof. Dr. Karin Stögener, Lehrstuhl für Soziologie, Universität Passau
  • Karl Kopp, PRO ASYL e.V.
  • Kurdische Gemeinde Deutschland e.V.
  • Landesverband der Eziden in Niedersachsen
  • Prof. Dr. Lars Rensmann, Lehrstuhl für Politikwissenschaft, Uni Passau
  • Necdal Disli, Rechtsanwalt
  • Dr. Remko Leemhuis, Direktor AJC Büro Berlin
  • Weihbischof Dr. Stefan Zekorn, Bischöflicher Beauftragter für die Weltkirche im Bistum Münster
  • Prof. Dr. Stephan Grigat, Centrum für Antisemitismus- & Rassismusstudien, Kath. Hochschule NRW
  • Telim Tolan, ehemaliger Vorsitzender Zentralrat der Yeziden in Deutschland (ZYD)
  • Wadi e.V., Verband für Krisenhilfe und solidarische Entwicklungszusammenarbeit

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