Jordanien geht gegen eine Tradition vor, die immer wieder Menschenleben fordert: „Freudenschüsse“ in die Luft. Aktueller Anlass sind Feiern im Zuge der Parlamentswahlen vom 10. November.
Den meisten Jordaniern waren die Wahlen gleichgültig, die Wahlbeteiligung lag bei unter 30 Prozent. Doch die siegreichen Kandidaten und ihre Anhänger – die in der Regel demselben Stamm angehören – gingen in der Wahlnacht und am folgenden Tag auf die Straße und schossen in die Luft.
Dass dies am ersten Tag eines fünftägigen landesweiten Lockdowns geschah, den die Regierung vor den Wahlen verhängt hatte – eben weil sie im Hinblick auf die Covid-19-Situation vermeiden wollte, dass es nach den Wahlen zu solch ausgelassenen Feiern auf der Straße kommt –, macht die Angelegenheit zu einer Staatsaffäre.
Wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete, machte König Abdullah auf Twitter seinem Ärger über die Straßenfeste Luft: Sie gefährdeten Menschenleben und alle unternommenen Anstrengungen zur Eindämmung der Pandemie.
Allein am 12. November gab es laut Reuters in Jordanien, einem der am stärksten betroffenen Länder der Region, 5.685 neue Corona-Fälle und 80 weitere Todesopfer. Insgesamt seien in dem Königreich seit März 1.547 Menschen an den Folgen der Krankheit gestorben, die Zahl der registrierten Fälle belaufe sich auf über 130.000.
Nach dem Wutausbruch des Königs trat Innenminister Tawfiq al Halalmah zurück. Er sagte, er übernehme die „moralische Verantwortung“ für die Regelverletzungen. Erst vier Wochen zuvor hatte der frühere Direktor der Gendarmerie das Amt im Zuge einer Kabinettsumbildung übernommen.
Man kann mutmaßen, dass er vielleicht nicht so gern die Verantwortung für das übernehmen möchte, was nun ansteht: Nachdem nämlich König Abdullah auf Twitter verlangt hatte, „Recht und Gesetz wiederherzustellen“, gehen die Sicherheitskräfte seit Tagen gegen illegalen Waffenbesitz vor – was bei den Waffenbesitzern nicht populär ist.
Lebensgefährlich
Warum sind Schüsse in den Himmel so gefährlich? Wenn Kugeln in die Luft gefeuert werden, können sie mit einer Geschwindigkeit von bis zu 60 Metern pro Sekunden auf die Erde zurückkehren, was eine ausreichende Kraft ist, um die Schädeldecke eines Menschen zu durchbohren und schwere oder tödliche Verletzungen zu verursachen.
So hatte es im Nachbarland Israel in den Sommermonaten – den Monaten nach dem Fastenmonat Ramadan, wenn viele Hochzeiten gefeiert werden – eine regelrechte Serie von derartigen tödlichen „Unfällen“ durch „Freudenschüsse“ gegeben, vorwiegend in mehrheitlich arabisch bewohnten Gebieten.
Laut der Website Arab News führt die jordanische Polizei keine Statistik über die Zahl der Opfer „verirrter Kugeln“; der jordanische Fernsehsender Al-Mamlaka TV schätze aber, dass zwischen 2013 und 2018 über 1.500 Menschen bei solchen Vorfällen in Jordanien getötet worden seien. Hinzu komme eine noch größere Zahl von Verletzten.
Nach den jüngsten Eskapaden sehen Jordaniens Behörden offenbar die Zeit zum Handeln gekommen. Die Polizei habe am Tag nach der Wahl 342 Bürger mit Waffen festgenommen, darunter 18 Parlamentskandidaten, sagte Jordaniens Polizeichef Hussein Hawatmeh gegenüber Al-Mamlaka. Hunderte Fahrzeuge wurden durchsucht, Waffen beschlagnahmt.
Stammestradition
Das Schießen ist ein alter Brauch. Bei Feiern in die Luft zu schießen, sei „Teil einer Stammestradition“, sagte der ehemalige jordanische Polizeisprecher Bashir Daaja gegenüber Arab News:
„Dieser Akt, der von früheren Generationen übernommen wurde, entstand zu einer Zeit, als die Gemeinschaften sich selbst schützen mussten und daher Waffen besaßen. Bei freudigen Anlässen schossen sie in die Luft, wodurch die Stammesführern Gelegenheit bekamen, ihre Feuerkraft unter Beweis zu stellen.“
Der Sozialwissenschaftler Hussein Al-Khazalleh kommentiert:
„Die Menschen waren aus dem Wüstenleben gekommen und mussten sich vor Außenstehenden schützen. Waffen wurden weitergegeben und wurden Teil des gesellschaftlichen Stolzes. Die Waffen werden jetzt verwendet, um die Zentralregierung an die politische Präsenz [der Stämme] und ihre Bedeutung zu erinnern. Sie sagen: ‚Wir sind hier und ihr müsst Euch an uns erinnern.’“
Das Selbstbewusstsein der Stämme beruht auch darauf, dass sie einen großen Teil der Armee stellen, die im jordanischen Bürgerkrieg 1970/71 verhinderte, dass die Fedayeen-Kämpfer von Jassir Arafat das Königshaus stürzen und die Macht übernehmen konnten. Einschränkungen ihres Waffenbesitzes lehnen sie vehement ab.
Wie die englischsprachige Londoner Zeitung Arab Weekly berichtet, hatte die Regierung dem alten Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der den Waffenbesitz besser regulieren sollte. Diesen aber hätten die Stammesvertreter zurückgewiesen.
Nun fürchteten sie, dass die Regierung die Ereignisse nutzen könne, um das Gesetz doch noch durchs Parlament zu bringen. Mit ihren Waffen verlören sie dann auch ihre Macht. Darum betonen Sprecher der Stämme, dass die Feierszenen und Schüsse nicht in den Stammesgebieten, sondern zum großen Teil in den großen Städten stattgefunden hätten, wo viele Jordanier palästinensischer Herkunft lebten.
Opfer von „Freudenschüssen“ gibt es allerdings leider auch auf dem Land. Im Frühjahr meldete Al-Jazeera, dass in dem nordjordanischen Städtchen Amrawah an der Grenze zu Syrien ein gerade aus dem Gefängnis entlassener 46-jähriger Mann tödlich getroffen wurde – von einer Kugel, die sein Cousin abgefeuert hatte, um die Freilassung zu feiern.