Problem im arabischen Sektor Israels: Freudenschüsse, die den Tod bringen

Oft kommt es beim Iftar, dem traditionellen Fastenbrechen, zu Freudenschüssen in die Luft
Oft kommt es beim Iftar, dem traditionellen Fastenbrechen, zu Freudenschüssen in die Luft (Quelle: U.S. Embassy Tel Aviv, CC BY-SA 2.0)

In den arabischen Teilen Israels häufen sich die Fälle, bei denen Menschen aus heiterem Himmel von Kugeln verletzt oder getötet werden – oft, ohne dass jemand einen Schuss gehört hat.

Menschen sterben, weil irgendjemand in der Umgebung – vielleicht ein, zwei oder drei Kilometer entfernt – mit einer Schusswaffe in die Luft gefeuert hat. Manchmal wird in einem Streit in die Luft geschossen, häufiger aber aus Freude, etwa bei einer Hochzeitsfeier.

Am 31. August starb in der zentralisraelischen 75.000-Einwohner-Stadt Ramla die 30-jährige muslimische Lehrerin Sharifa Abu Muammar, eine Mutter von vier Kindern, während sie vor ihrem Haus die Wäsche zum Trocknen aufhängte. Sie wurde offenbar durch einen Schuss getötet, der in ihrer Nachbarschaft im Zuge eines Streits abgegeben worden war. In diesem Fall hat die Polizei einen Tatverdächtigen festgenommen. Oft bleibt in ähnlichen Fällen unklar, woher der betreffende Schuss stammt, und die Polizei kann, wenn überhaupt, nur Vermutungen anstellen.

Opfer eines Streits

Am 7. August starb Hanin Zalum, ein vierjähriges Mädchen aus dem Ostjerusalemer Stadtteil Silwan. Die kleine Hanin war von Rettungssanitätern des Rettungsdienstes Magen David Adom bewusstlos mit einer schweren Schussverletzung am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert worden. Laut Haaretz war sie auf dem Grundstück ihres Hauses von einer verirrten Kugel getroffen worden; Zeugen berichteten, Schüsse gehört zu haben, die bei einem Streit in der Nachbarschaft abgefeuert worden sein sollen. In den Stadtteilen Isawiyah und Shoafat in Ostjerusalem habe es in letzter Zeit „mehrere Schießereien zwischen Familien“ gegeben, so die Zeitung.

Der Onkel des Mädchens erzählte einem Reporter, dass er am Tag des Vorfalls auf seine Nichte aufgepasst habe. Kurz vor dem Ende des muslimischen Abendgebetes habe er in der Nähe des Hauses Schüsse gehört. Als er sich zu seiner Nichte umgedreht habe, habe er das Mädchen in einer Blutlache auf dem Boden liegen sehen. „Sie konnte noch ‚eih’ sagen, und das war es. Ich dachte erst, sie wäre gefallen, aber ich habe überall Blut gesehen“, erzählte er. Er habe das Mädchen in die Arme genommen und sei in Richtung des nächsten Krankenhauses gerannt. Unterwegs traf er auf die Sanitäter des Rettungswagens, die Hanin ins Shaare Zedek Medical Center brachten. Dort konnte nur noch ihr Tod festgestellt werden.

„Bloß ein leises Klopfen“

Erst am 1. Juni war Rafif Karain, ein ebenfalls vierjähriges Mädchen aus Jerusalems arabischem Stadtteil Issawiya, an einer ähnlichen Schussverletzung gestorben, nachdem die Ärzte im Hadassah-Ein-Karem-Krankenhausnoch anderthalb Wochen lang versucht hatten, das Leben des Kindes zu retten. Rafif war am 21. Mai von einer anscheinend verirrten Kugel getroffen worden, die von einem unbekannten Schützen abgefeuert worden war.

Ein Verwandter erzählte, die Familie habe sich gerade auf ihren Balkon gesetzt, um das traditionelle Iftar-Mahl am Abend des Ramadan-Fastens einzunehmen. Rafif habe zwischen ihrer Großmutter und ihrem Großvater gesessen, zehn weitere Personen hätten am Tisch Platz genommen. Niemand hat einen Schuss gehört. Als die Kugel das Mädchen traf, hörte der Großvater, Mohammed Abu Ghali, nur ein leises Klopfen, „wie ein Stein“, wie er es später beschrieb. Rafif fiel zu Boden. Ihr Vater, Mohammed Karain, brachte sie in das Hadassah-Krankenhaus am Mount Scopus in Jerusalem. Er berichtete:

„Sie weinte, aber es war ein schwaches Weinen. Ich dachte, sie wäre von einem Stein getroffen worden. Im Krankenhaus nahmen sie sie zu Röntgenaufnahmen mit. Ich erinnere mich, dass ich dort einen Freund getroffen habe, der mir sagte, es sei vielleicht eine Kugel. Ich habe nicht verstanden, wovon er sprach, aber dann erschien der Arzt. Ich habe gefragt, was passiert ist und er hat nichts gesagt. Ich packte ihn am Arm und fragte, ob es eine Kugel sei, und er sagte ja.“

Die Kugel, die Rafif in den Kopf getroffen hat, war laut ballistischen Analysen der Polizei in beträchtlicher Entfernung in die Luft geschossen worden und von oben in ihren Kopf eingedrungen.

Riesenglück

Ein höchst erstaunlicher Fall, der glimpflich ausging, ist der eines neunjährigen arabisch-israelischen Jungen aus dem Ostjerusalemer Stadtteil Ras al-Amud. Seine Eltern brachten ihn ins Hadassah Medical Center, weil er sich „schläfrig“ fühlte. Am Kopf hatte er laut den Berichten eine „winzige“ Verletzung, dazu „etwas Blut am Haar“. Die Ärzte machten eine Computertomographie und sahen zu ihrem Erstaunen eine Kugel im Kopf des Jungen.

Wie Neurochirurg Guy Elor der Nachrichtenwebsite The Times of Israel sagte, sei er „verblüfft“ gewesen, dass die Kugel, obwohl sie durch „sehr wichtige Gehirnstrukturen“ gegangen sei, kaum Schäden angerichtet habe. Elor war vom Krankenhaus angerufen worden, als er auf dem Weg nach Hause war. Die CT-Aufnahme wurde ihm aufs Smartphone geschickt. Er kehrte um und entfernte in einer OP, die er als schwierig beschreibt, erfolgreich das Projektil. Der Patient ist wohlauf; der Junge „plaudere“, erhole sich und werde keine oder nur minimale Hirnschäden davontragen, so der Arzt.

Der israelische Polizeisprecher Micky Rosenfeld sagte Times of Israel, dass die Polizei in diesem Fall in verschiedene Richtungen ermittle und unter anderem prüfe, ob die Kugel von Freudenschüssen aus Anlass des muslimischen Opferfestes abgegeben worden sein könnten, das zu jener Zeit gefeiert wurde.

Weltweites Problem

In vielen Teilen der Welt ist es üblich, bei Feiern wie etwa Hochzeiten – die in islamischen Ländern oft nach dem Fastenmonat Ramadan gefeiert werden – mit Schusswaffen in die Luft zu schießen. Was die Schützen oft nicht bedenken, ist, dass die Kugeln wieder herunterkommen.

Die amerikanische Gesundheitsbehörde Center for Disease Control and Prevention (CDC) veröffentlichte dazu 2004 einen Bericht. Darin heißt es:

„Wenn Kugeln in die Luft abgefeuert werden, können sie mit einer Geschwindigkeit von mehr als 60 Metern pro Sekunde auf den Boden zurückkehren. Dies ist eine ausreichende Kraft, um in den menschlichen Schädel einzudringen und schwere oder tödliche Verletzungen zu verursachen.“

Medienberichte aus der ganzen Welt, so die CDC, deuteten darauf hin, dass Verletzungen durch „Feierschüsse“ ein „weit verbreitetes Problem der öffentlichen Gesundheit“ darstellen könnten. So habe es bei den Silvesterfeiern 2003/2004 in Puerto Rico, denen das Augenmerk der Autoren der Studie galt, vom 31. Dezember bis zum 1. Januar 19 Verletzte durch solche Schüsse gegeben.

„Diese Verletzungen ereigneten sich hauptsächlich am 31. Dezember um Mitternacht in einer begrenzten Anzahl von öffentlichen Wohngebieten. Verletzungen durch Feierschüsse betrafen einen hohen Prozentsatz von Kindern und Frauen, Bevölkerungsgruppen, die normalerweise kein hohes Risiko für solche Verletzungen haben.“

Die englischsprachige türkische Zeitung Daily Sabah schrieb in einem im September 2018 erschienenen Bericht, in den ersten acht Monaten des Jahres 2018 seien in der Türkei durch Freudenschüsse bei Hochzeiten und ähnlichen Anlässen vier Menschen getötet und Dutzende verwundet worden. 2017 hätten in der Türkei neun Menschen auf diese Art ihr Leben verloren.

„Es ist Mord“

Viele arabische Israelis wollen solche Vorfälle nicht mehr hinnehmen. Der Knesset-Abgeordnete Yousef Jabareen von der vorwiegend arabischen Vereinigten Liste sagte im Hinblick auf den gewaltsamen Tod der Lehrerin Sharifa Abu Muammar, Israels arabische Gesellschaft sei „eine blutige Arena“ geworden. „Die Regierung zögert und schaut weg, und wir zählen immer mehr Leichen“. Er forderte die Finanzierung eines Programms zur Bekämpfung von Gewalt und Kriminalität in der arabischen Gesellschaft.

„Es gibt keinen Tod durch verirrte Kugeln“, meint Jalal Bana, ein Gastkommentator der Tageszeitung Israel Hayom – es handle sich um Mord. „Als arabischer Staatsbürger Israels, der fast täglich über einen weiteren Mord liest, habe ich Angst vor der nächsten ‚verirrten Kugel’.“ Der Staat müsse etwas gegen illegale Schusswaffen unternehmen, so Bana – selbst, wenn das bedeute, dass die Sicherheitsbehörde Shin Bet in die arabischen Städte und Gemeinden eindringt, um solche Waffen zu beschlagnahmen.

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