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Na klar, der Westen ist schuld am muslimischen Schwulenhass!

Von Thomas von der Osten-Sacken

Die These, eigentlich sei der Westen wieder einmal schuld, ist keineswegs neu. Nach dem Massaker in Orlando, bei dem Omar Mateen sich erst zum Islamischen Staat bekannte und dann neunundvierzig Menschen in einem Gay Club erschoss und über fünfzig weitere verletzte, wird sie jetzt wieder hervorgekramt. „Warum das Schwulsein schon immer zum Islam gehörte“, erklärt etwa Eva Marie Kogel in der Welt und auch die Tagesschau stellt fest, dass „gleichgeschlechtliche Liebe in islamischen Ländern über viele Jahrhunderte toleriert“ worden sei.

Wie also kann es kommen, dass nach „mehr als 1.000 Jahren Toleranz“ (Queerpride.de) heute in vielen Ländern der islamischen Welt auf Homosexualität die Todesstrafe steht, Staats- und Regierungschefs wie besessen vor Homosexualisierung warnen, wie erst jüngst der iranische Revolutionsführer Ayatollah Ali al-Khamenei, und islamische Kleriker regelmäßig zum Mord an Schwulen aufrufen?

 

Import aus dem Westen?

Wenn wirklich Homosexualität in islamisch dominierten Ländern so lange weitestgehend toleriert wurde, dann müsse der völlige Wandel in der Wahrnehmung wohl an äußeren Einflüssen liegen: Mit Kolonialismus und Imperialismus habe sich im Orient erst die prüde europäische Sexualmoral des 19. Jahrhunderts verbreitet. „Der Westen war zu dieser Zeit industriell und politisch mächtig genug geworden, um die eigenen Sexualitätsdiskurse in die islamische Welt und den Nahen Osten zu exportieren“, erklärt Eva Marie Kogel und kommt zu dem Schluss: „An der Geschichte der nahöstlichen Homophobie hat der Westen also kräftig mitgeschrieben – und zwar so lange, bis vielen Muslimen die eigene Geschichte unangenehm wurde.“

Eine Fülle von Fakten scheinen Kogels These sogar zu stützen. Schließlich war ausgerechnet das Osmanische Reich das erste Land, das weltweit im 19. Jahrhundert homosexuelle Handlungen entkriminalisierte, in dieser Zeit blühte auch in Istanbul der Handel mit homoerotischen Miniaturen. Passend dazu zitiert Shereen El Feki in ihrer Untersuchung „Sex und die Zitadelle“ über Sexualität in der arabischen Welt einen ägyptischen Diplomaten, der im Auftrag des ägyptischen Vizekönigs Muhammad Alis nach Europa reist und die dortige prüde Sexualmoral lobt, die zu beeindruckendem wirtschaftlichem Aufschwung und Disziplin führe, während in Ägypten Päderastie und Laster den Fortschritt verhinderten.

Kurzum war mann-männliche Sexualität in der arabischen Welt, in Persien, Indien und dem Osmanischen Reich toleriert, und bis ins 20. Jahrhunderte sind keine Fälle bekannt, in denen Männer für homosexuelle Handlungen verurteilt oder bestraft wurden, ja ganz Gegenteil war der Orient lange Zeit das Ziel europäischer Sextouristen, wie man nicht zuletzt an den literarischen Berichten von Gustave Flaubert bis André Gide ersehen kann.

Hat Eva Marie Kogel also doch recht? War es am Ende der Westen, der neben so vielem anderem Unheil auch die Homophobie in die islamische Welt brachte? Sind die Menschen im Nahen Osten und Nordafrika einmal mehr das Opfer von Imperialismus und Kolonialismus, die ihnen jene heterosexuellen Normen erst aufzwangen, die sie heute so völlig verinnerlicht haben, dass Homosexualität als schweres Verbrechen gilt?

 

Akzeptanz der Knabenliebe …

Wie kommt es dann, dass bis heute in vielen islamischen Ländern, in denen Homosexualität unter Strafe steht, Sex mit Knaben weit verbreitet und auch geduldet ist? So kam etwa die Ethnologin Ingeborg Baldauf im Zuge einer Studie in Afghanistan zu dem Ergebnis, das ca. 70 Prozent der männlichen Bevölkerung in päderastische Handlungen involviert ist. Ganz offen reisen reiche Araber aus den Golfstaaten mit ihren „Lustknaben“, eine Untersuchung in paschtunischen Stammesgebieten ergab vor einiger Zeit, dass die Mehrheit aller Männer in ihrer Kindheit und Jugend mit älteren Männern sexuellen Verkehr hatte. In dieser Studie des „Human Terrain Teams“ heißt es: „Pashtun social norms dictate that bacha bazi is not un-Islamic or homosexual at all – If the man does not love the boy, the sexual act is not reprehensible, and is far more ethical than defiling a woman.”

homoerotikKnabenliebe wird, und dies gilt keineswegs nur für Paschtunen, eben nicht als Homosexualität definiert, weil es sich nicht um eine gleichberechtigte Beziehung handelt, sondern um eine klar hierarchische, in der der Knabe eine ähnliche Rolle einnimmt, wie ansonsten die Frau. Diese Form mann-männlicher Sexualität nämlich entspricht keineswegs homosexuellen Beziehungen, wie sie sich in Europa und den USA in den letzten 150 Jahren entwickelt haben, sondern spiegelt traditionelle Verhältnisse wieder, die sich heute in einer gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen und kulturellen Dauerkrise befinden. Vor über zehn Jahren versuchten Christian Knoop und ich in einem Essay diesen Unterschied zu bestimmen:

„Noch in den islamischen Gesellschaften des Mittelalters waren die sexuellen Verhältnisse konform zu der sozialen und politischen Machtstellung eingeteilt. Sexualität fand statt zwischen dem dominanten, freien Mann und den unfreien Anderen (Frauen, Prostituierte, Knaben, Sklav(inn)en, unterworfene Gegner). Gerade auch Knaben, als ‚Noch-nicht-Männer‘ waren beliebte Sexualpartner, ohne dass sie dabei ihre (spätere) Zugehörigkeit zur Machtgruppe Männer verloren. (…)

Erwachsene Männer, die im privaten Bereich ihre Frauen und Sklaven dominierten, kontrollierten ebenso den öffentlichen Raum. Sex mit Jungen oder männlichen Prostituierten machte sie zwar im privaten Lebensbereich im religiösen Sinn zu ‚Sündern‘, doch beei
nträchtigte dies keineswegs ihre öffentliche Position als Mann. Die Penetration eines erwachsenen Mannes kann die Hypermaskulinität des aktiven Parts sogar noch verstärken, symbolisiert sie doch seine Überlegenheit und Macht über den Passiven.

Die einzige Form von Sexualität, die (in der islamischen Welt) gesellschaftlich den männlichen Ehrvorstellungen entspricht ist Dominanzsexualität, die zwar durchaus Gefühle zulassen kann, diese aber extrem über eine feste, veräußerlichte Rolle zu kanalisieren hat.

Schwul-Sein als Ausdruck nicht-männlicher Sexualität, bei der Liebe und Sex zusammenfallen und Passivität nicht als Schande wahrgenommen wird, muß deshalb dem islamistischen Mann, der selbst seine latente Homosexualität unterdrückt und auf äußere Objekte verschiebt, als ständige Bedrohung seines Ichs erscheinen, die mit allen Mitteln zu bekämpfen ist.“

… Hass auf die Homosexualität

Der Hass und die Wut, die den Mörder von Orlando wohl ebenso antrieben wie sie den obersten Führer im Iran antreiben, richten sich also weniger gegen den Akt mann-männlicher Penetration als vielmehr gegen eine Idee von „Schwul-Sein“, die als passiv und weiblich wahrgenommen wird – und deshalb die patriarchale Ordnung, die auf einer obsolet und anachronistisch gewordenen Definition von Männlichkeit fußt, grundlegend in Frage stellt. Ebenso wie gegen eine Sexualität, die nicht der Herrschaft, Kontrolle und Reproduktion dient: also gegen nicht-männliche Sexualität, die das Ich mit Auflösung bedroht. Deshalb richtet sich die Raserei auch gegen jene eigenen Anteile an als weiblich verstandener Sexualität, gegen Wünsche und Projektionen, die gewaltsam unterdrückt und verdrängt werden müssen. Es ist sicher kein Zufall, dass Mateen, bevor er das Blutbad anrichtete, sogar häufiger im in jenem Club zu Gast gewesen sein soll, in dem er später um sich schoss, wohl auch vom Wunsch beseelt, dort zum Märtyrer zu werden.

So hat Eva Maria Kogel am Ende ganz anders Recht, als sie sich vorstellt. Denn Homosexualität im Sinne einer nicht-männlich dominanten, auf Reproduktion und patriarchale Kontrolle fußenden Beziehung, die mehr ist als reine Penetration, ist eine Entwicklung, die eng mit der Moderne zusammenhängt und in dieser Form früher unbekannt war. Moderne aber ist im Nahen Osten kein Import aus dem Westen, die eine paradiesische autochthone Kultur zerstört und mit Homophobie und Antisemitismus infiziert hätte, wie so gerne behauptet wird – meist nur in der Absicht, islamistischen Terror und Unterdrückung in arabischen Ländern zu entschuldigen oder zu relativieren.

Homophobie und Erlösungsantisemitismus sind in der Tat moderne Reaktionen auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die das Versprechen von individuellem Glück und sexueller Selbstbestimmung in jeden Winkel des Globus verbreitete, ohne sie deshalb je einlösen zu können. Der Attentäter von Orlando, der offenbar seine eigenen Wünsche und Triebe unterdrücken musste, kämpfte mit der gleichen Verbissenheit wie Ayatollah Khamenei gegen diese Versprechen an und versuchte, eine obsolete Ordnung mit Gewalt aufrecht zu erhalten, die – fern davon, das angestrebte Ziel je zu erreichen – nur in Zerstörung und Selbstvernichtung enden kann.

So ist es gerade die Tragik der islamischen Welt, dass aus jener so gern ins Feld geführten Duldung von Homoerotik sich, außer im Verborgenen und Verbotenen, eben keine zumindest tolerierte Homosexualität entwickeln konnte und durfte. Stattdessen führen deren Regierungen heute Hand in Hand mit der jihadistischen Internationale – abgesehen von einigen afrikanischen Ländern und Russland – den Krieg gegen die Homosexuellen an. Und deshalb auch wird die Haltung gegenüber Homosexualität immer einer der wichtigsten Maßstäbe sein, wie und ob sich Gesellschaften und Staaten in der islamischen Welt verändern.

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