Wie die Gewalt gegen Juden weltweit zunimmt

Das Kantor-Zentrum der Universität Tel Aviv hat seinen Jahresbericht zum weltweiten Antisemitismus vorgestellt. Die Studie dokumentiert einen deutlichen Anstieg gewalttätiger Übergriffe gegen Juden im globalen Maßstab und hält fest, dass Antisemitismus längst zum Mainstream geworden ist. Gegenmaßnahmen bleiben oft fruchtlos.

„Der Antisemitismus ist zuletzt so weit fortgeschritten, dass er die Fortsetzung des jüdischen Lebens in vielen Teilen der Welt in Frage stellt.“ Das Resümee, das Moshe Kantor zieht, als er den neuesten Jahresbericht zum weltweiten Antisemitismus vorstellt, fällt düster, ja, alarmierend aus. Kantor ist der Präsident des Europäischen Jüdischen
Kongresses (EJC), nach ihm ist das Zentrum an der Universität Tel Aviv benannt, das die Studie seit vielen Jahren erarbeitet. Selbst Teile der Welt, die bislang als sicher gegolten hätten, seien es nicht mehr, sagt er. Als Beispiel nennt er die USA, wo es in San Diego vor wenigen Tagen einen bewaffneten Angriff auf eine Synagoge gab, bei dem eine Frau erschossen wurde.

Zudem, so Kantor, halte der Antisemitismus allmählich Einzug in den öffentlichen Diskurs, wie man etwa an der „abscheulichen Karikatur in der New York Times“ erkennen könne. Die Zeitung hatte kürzlich eine Zeichnung veröffentlicht, die Donald Trump zeigt, mit dunkler Brille und schwarzer Kippa als blinder Jude gekennzeichnet, der sich von einem Hund mit den Gesichtszügen von Benjamin Netanjahu und einem Davidstern an der Leine ins lodernde Feuer führen lässt.

„Drohungen, Belästigungen und Beleidigungen sind gewalttätiger geworden und haben zu noch mehr körperlicher Gewalt gegen Juden geführt“, sagt Kantor. „Es fühlt sich an, als wäre fast jedes Tabu in Bezug auf Juden, Judentum und jüdisches Leben gebrochen worden.“ Mittlerweile gebe es ein „wachsendes Gefühl der Not unter Juden in vielen Ländern der Welt“. Um 13 Prozent ist dem Bericht zufolge die Zahl der großen, besonders schwerwiegenden gewalttätigen Angriffe, Überfälle und Anschläge mit antisemitischem Charakter im Jahr 2018 gegenüber dem Vorjahr gestiegen, von 342 auf 387. Dazu zählen beispielsweise gravierende körperliche Attacken auf Juden, massive Bedrohungen sowie Vandalismus, der sich etwa gegen Synagogen und jüdische Friedhöfe richtet. Die meisten Angriffe ereigneten sich demnach in den USA (über 100 Fälle), dahinter folgen Großbritannien (68), Frankreich und Deutschland (je 35), Kanada (20), Belgien (19), die Niederlande (15) und Argentinien (11).

Staatliche Maßnahmen erreichen „die Straße“ nicht

Wie die Gewalt gegen Juden weltweit zunimmtMindestens 138 Juden sind im vergangenen Jahr aus antisemitischen Gründen körperlich angegriffen worden, so der Bericht. 13 antijüdische Morde seien gemessen an den Vorjahren ein Höchststand. Elf davon entfielen auf den Angriff auf eine Synagoge in der amerikanischen Stadt Pittsburgh im Oktober 2018, hinzu kamen die Ermordung der Shoa-Überlebenden Mireille Knoll in Paris und des jüdischen Studenten Blaze Bernstein in Kalifornien. 76-mal seien jüdische Friedhöfe und Gedenkstätten attackiert worden, 47-mal Synagogen und 22-mal jüdische Gemeindezentren. Die Studie des Kantor-Zentrums beschäftigt sich aber auch eingehend mit antisemitischen Vorfällen unterhalb dieser Grenze, also etwa mit Beleidigungen, Belästigungen, Fällen von Holocaustleugnung und anderen Propagandadelikten sowie antijüdischen Äußerungen im Internet. Dies alles schmerze sogar mehr als die gegenwärtige Gewalt, weil es die Atmosphäre bestimme und den Ton festlege, heißt es in dem Bericht.

Erschwert werde der weltweite Vergleich von antisemitischen Tendenzen dadurch, dass die einzelnen Länder teilweise sehr unterschiedliche Kriterien bei der Erfassung anlegten. Dort, wo alle Formen von Feindseligkeiten gegen Juden registriert werden, ergibt sich jedoch ein erschütterndes Bild. So wuchs der Antisemitismus beispielsweise in Großbritannien gegenüber dem Vorjahr um 16 Prozent, in Südafrika um 25 Prozent, in Australien um 59 Prozent, in Italien um 60 Prozent und in Frankreich sogar um 74 Prozent. Maßnahmen staatlicher Einrichtungen und die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen gegen Antisemitismus hätten offensichtlich kaum positive Auswirkungen auf „die Straße“ und die sozialen Netzwerke, so die Studie. In Europa machten vor allem das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien sowie die Zunahme des islamischen Antisemitismus das Leben für viele Juden immer unerträglicher, aber auch der Hass linker Organisationen auf Israel und eine wachsende Ignoranz und Indifferenz gegenüber der Situation von Juden und dem Antisemitismus vonseiten der bürgerlichen Mitte.

Frankreich: Anstieg des Antisemitismus um 74 Prozent

Wie die Gewalt gegen Juden weltweit zunimmtIn vielen westlichen Ländern hätten gravierende gesellschaftliche Umbrüche und Entwicklungen maßgeblich zum Anstieg des Antisemitismus beigetragen, konstatiert der Bericht des Kantor-Zentrums. In Großbritannien etwa hätten die Diskussionen über den Brexit die Gesellschaft und die Politik polarisiert, und das Führungspersonal der Labour Party, insbesondere der Vorsitzende Jeremy Corbyn, vertrete inzwischen einen derart virulenten, als „Antizionismus“ verkleideten Antisemitismus, dass viele britische Juden sich zum ersten Mal fragten, ob sie im Land noch eine Zukunft haben. In den USA vertiefe sich der Spalt zwischen den beiden größten und wichtigsten Parteien, wobei die Haltung gegenüber Juden und Israel eine wesentliche Rolle spiele. Jüdische Studenten, die Israel unterstützen, würden von ihren Kommilitonen für ihre proisraelische Haltung angegriffen; gewaltbereite rechtsextreme Gruppierungen sorgten unter Juden zusätzlich für ein Gefühl der Bedrohung und der Unsicherheit.

In Frankreich habe die sich verschärfende soziale und wirtschaftliche Krise die Bewegung der „Gelben Westen“ hervorgebracht, deren Anführer sich antisemitisch äußerten. Hinzu komme die Präsenz einer starken rechtsextremen Partei und von Einwanderern aus muslimischen Ländern, die Juden gegenüber ebenfalls feindlich eingestellt seien. Das alles sei mittlerweile eine Gefahr für die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft, die mit insgesamt rund 500.000 Mitgliedern die größte in Europa ist. Nach offiziellen Angaben stieg die Zahl der antisemitischen Vorfälle im Jahr 2018 im Vergleich zum Vorjahr von 311 auf 541 und damit um 74 Prozent. 183 Fälle davon betrafen versuchte oder vollendete tätliche Angriffe, Verwüstungen, Brandanschläge und Morde – ein Anstieg sogar um 89 Prozent. Insgesamt 824 jüdische Einrichtungen im Land müssen von der Polizei oder dem Militär geschützt werden. Juden stellen in Frankreich nur ein Prozent der Bevölkerung, doch von allen als rassistisch eingestuften physischen Gewalttaten richteten sich im Jahr 2018 rund 55 Prozent gegen sie.

Zunahme des Antisemitismus auch in Österreich und Deutschland

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Schändnung des Denkmals für 800 jüdische Deportierte am Wiener Schottenring

In Österreich verzeichnete die Organisation ZARA (Zivilcourage & Anti-Rassismus-Arbeit) im vergangenen Jahr 232 antisemitische Vorfälle, 106 davon im Internet. Die Zahl sei in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen, dabei habe die Regierungsbeteiligung der FPÖ wesentlich dazu beigetragen, dass es diesbezüglich immer weniger Hemmungen gebe. Führende FPÖ-Politiker, so die Studie des Kantor-Zentrums, hätten den Verschwörungsmythos verbreitet, dass der jüdische Unternehmer George Soros die „Massenmigration nach Europa“ geplant und die „Flüchtlingsströme“ gelenkt habe. Zudem seien in zwei Gesangbüchern von Studentenverbindungen, denen bekannte FPÖ-Politiker angehören, antisemitische Lieder gefunden worden. Die FPÖ kritisiere den Antisemitismus lediglich, wenn er von Muslimen komme, und verschleiere den Hass gegen Juden in ihren eigenen Reihen.

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr 1.646 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund erfasst, darunter 62 Gewalthandlungen mit 43 Verletzten – ein Anstieg um rund 70 Prozent gegenüber dem Jahr 2017. Diese Zahlen, so der Bericht, seien jedoch nur „die Spitze des Eisbergs“, denn viele antisemitischen Vorfälle würden von den Opfern gar nicht erst zur Anzeige gebracht – aus Scham, aus Misstrauen gegenüber den Behörden oder weil sie inzwischen als so normal angesehen würden, dass die Betroffenen gar nicht mehr darauf reagierten. Offiziell hätten die weitaus meisten antisemitischen Straftaten einen rechtsextremen Hintergrund, was allerdings nicht zuletzt daran liege, dass die Behörden auch bei Vorfällen, die sich nicht eindeutig zuordnen ließen, diesen Hintergrund annähmen. Mitglieder jüdischer Gemeinden berichteten demgegenüber, in ihrem Alltag häufiger mit Antisemitismus muslimischer Provenienz konfrontiert zu sein als mit neonazistischem Hass gegen Juden. Deutlich auf dem Vormarsch sei in Deutschland zudem der israelbezogene Antisemitismus als vermeintlich politisch korrekte Ausdrucksform antijüdischer Feindseligkeit.

Venezuela und Türkei: Antisemitismus wird staatlich verbreitet

Wie die Gewalt gegen Juden weltweit zunimmtIn Venezuela und der Türkei werde der Antisemitismus unterdessen sogar staatlich verbreitet. Insbesondere die venezolanische „Anti-Israel-Politik, die engen Verbindungen der Regierung zum Iran und seinen Verbündeten sowie die Übernahme des palästinensischen Narrativs“ beeinträchtigten die jüdische Gemeinschaft des Landes sehr, heißt es im Bericht, weil dadurch Israel, Zionismus und Judentum in antisemitischer Absicht miteinander verschmolzen würden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wiederum „setzt häufig Israel mit Nazideutschland gleich, während seine Kontrahenten ihn in herabwürdigender Absicht als ‚Juden‘ bezeichnen“. Antisemitismus manifestiere sich überdies „zunehmend in Stellungnahmen von türkischen Regierungsvertretern, die Juden als brutale Mörder porträtieren“.

Es sei nunmehr klar, dass Antisemitismus nicht mehr nur von ganz rechts, ganz links und den Islamisten komme, sondern „zum Mainstream geworden ist und von der Zivilgesellschaft oft akzeptiert wird“, sagt Moshe Kantor. Man habe bei der Arbeit am Bericht aber auch eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Gemeinden und den Strafverfolgungsbehörden in Europa festgestellt. Mehrere europäische Regierungen hätten zudem konkrete Schritte zur Bekämpfung und Eindämmung des Antisemitismus wahrgenommen. Es gebe bei ihnen ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass jüdisches Leben bedroht ist und dass sie „für das Wohlergehen und die Sicherheit ihrer jüdischen Bürger verantwortlich sind“. Diese Worte von Moshe Kantor enthalten, wenn man die Studie liest, allerdings weniger eine Feststellung. Sie sind vor allem ein Appell.

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