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Miserable Lebensumstände: Selbstmord-Epidemie im Iran

Die miserablen Lebensumstände im Iran treiben immer mehr Menschen in den Selbstmord
Die miserablen Lebensumstände im Iran treiben immer mehr Menschen in den Selbstmord (© Imago Images / Pond5 Images)

Nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder im Iran wählen aus Verzweiflung über ihre tristen Lebensumstände in zunehmendem Ausmaß den Freitod, und es werden täglich mehr.

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit treiben immer mehr Iranerinnen und Iraner in den Freitod, schon ist von einer »Selbstmord-Epidemie« die Rede. Geht es so weiter, wird der Iran bald nicht nur zu den Ländern mit dem meisten Drogenabhängigen weltweit zählen, sondern auch eine der höchsten Suizidraten aufweisen. Das sagt viel darüber aus, in welcher Verfassung die Menschen im Land sind. 

»In den vergangenen Monaten ist in den iranischen Provinzen eine Selbstmord-Epidemie ausgebrochen. 2023 wurden rund 120.000 Selbstmordversuche gemeldet, was eine Aufforderung zu raschem Handeln durch Fachleute für psychische Gesundheit und Akteure der Zivilgesellschaft nach sich zog«, meldete unlängst die kurdische Nachrichtenplattform Rudaw. Offiziellen Statistiken der Behörden zufolge ist die Selbstmordrate im Iran in den letzten vergangenen Jahren von fünf auf sieben pro hunderttausend Menschen gestiegen.

Der öffentlich bekannt gewordene Abschiedsbrief der zwölfjährigen Yasna aus der im Südwesten gelegenen Stadt Yasuj hat in den sozialen Medien landesweit Schockwellen ausgelöst. Yasna und ihre jüngere Schwester Yakta lebten bei der Familie ihres Onkels, nachdem sich ihre Eltern vor einigen Jahren getrennt hatten und sich nicht über das Sorgerecht für die Kinder einigen konnten.

»Liebe Schwiegertante, ich werde dich vermissen«, schrieb Yasna Anfang Januar vor ihrem mit einer Überdosis Drogen begangenen Selbstmord in einem Brief, den sie bei einer ihrer Freundinnen für ihre Familie hinterlegte. »Ich habe das Leben satt. Yakta, ich hinterlasse dir unser Telefon als Erinnerung. Schwiegertante, pass auf Yakta auf, ich lasse sie in deiner Obhut. Auf Wiedersehen.«

Der Leiter der iranischen Vereinigung der Sozialarbeiter, Mousavi Chalak, forderte eine Untersuchung des Freitods des Mädchens und machte den Mangel an psychologischer Betreuung in den Schulen für den tragischen Tod mit verantwortlich. »Die wichtigste Frage ist hier: Wie viele Schulen haben Sozialarbeiter? Die Antwort ist, dass keine Schule eine Unterstützungseinheit hat. In vielen Fällen kann der Sozialarbeiter Anzeichen erkennen und Menschen mit hohem Risiko identifizieren, indem er mit der Person oder der Familie und dem Umfeld kommuniziert«, sagte Mousavi Chalak gegenüber der reformorientierten Zeitung Etemad.

Chalak beklagte, die steigende Selbstmordrate sei eine bedrohliche Botschaft, »die aber leider nicht gehört wird«. Seiner Einschätzung nach werde der Iran bald deutlich über dem weltweiten Durchschnitt der Selbstmorde pro Bevölkerungsanteil liegen, gehe die Entwicklung so weiter und könne die Zunahme der Selbstmordrate nicht gestoppt werden.

Alle Straßen riechen hier nach Tod

Auch in den im Westen gelegenen kurdischen Regionen wurde seit Anfang dieses Jahres eine hohe Anzahl an Suiziden unter Jugendlichen gemeldet, berichtete Rudaw weiter. Am 24. Januar beging die 17-jährige Farzaneh Ghaderi aus Piranshahr Selbstmord, indem sie sich in ihrem Zimmer erhängte. Einen Tag später beendete die 15-jährige Hawzhin Mustafahpour ihr Leben durch einen Sprung vom Balkon der Wohnung ihrer Familie im fünften Stockwerk in Mahabad. 

Die an der Grenze zum Irak liegende kurdische Provinz Ilam verzeichnete in den vergangenen sieben Jahren durchgehend die höchsten Selbstmordraten im Iran. Als Hauptfaktoren für die »Selbstmord-Epidemie« werden die in einer schweren Krise steckende Wirtschaft des Landes und der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten genannt.

»Was wir in Ilam erleben, ist eine schreckliche Situation, wie man sie sonst nur in Filmen sieht. Es vergeht kein Tag, an dem in der Provinz nicht eine Totenwache für jemanden abgehalten wird, der Suizid begangen hat. Es gibt hier keine Familie, die nicht einen geliebten Menschen durch Selbstmord verloren hat«, sagte ein Aktivist aus Ilam, der aus Angst vor Repression durch das Regime anonym bleiben wollte und dessen jüngerer Bruder sich ebenfalls das Leben genommen hatte.

Der Aktivist beschuldigte die Behörden, die Nöte der Menschen, darunter vor allem die wirtschaftlichen Probleme, zu vernachlässigen, was zu den hohen Selbstmordraten beitrage. Seiner Ansicht nach seien die von den Behörden veröffentlichten Zahlen unglaubwürdig und die tatsächlichen weitaus höher. »Alle Straßen riechen hier nach Tod«, schloss er.

Ein petrochemisches Werk in der Provinz Ilam meldete in den beiden letzten Jahren sechs Selbstmorde unter seinen Arbeitern. Zwei erhängten sich auf dem Werksgelände, nachdem sie im Dezember entlassen worden waren, konnten aber durch das sofortige Eingreifen ihrer Kollegen gerettet werden. In der in Ilam gelegenen Stadt Abdanan begingen im November und Dezember 2023 mindestens vier Gymnasiasten und ein Hochschulabsolvent Suizid, darunter die Cousinen Baran und Sanaz Ghanbari, wobei Letztere sich an dem Tag das Leben nahm, an dem die Familie nach islamischer Sitte den vierzigsten Tag nach Barans Tod betrauerte. Laut Hamid Peyravi, dem stellvertretenden Leiter der iranischen Selbstmordpräventionsgemeinschaft, wurden im Jahr 2023 im ganzen Land rund 120.000 Selbstmordversuche gemeldet.

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