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Oktober 1973: Leonard Cohen im Jom-Kippur-Krieg (Teil 2)

Bericht über Leonard Cohens Konzerten vor israelischen Soldaten im Jom-Kippur-Krieg
Bericht über Leonard Cohens Konzerten vor israelischen Soldaten im Jom-Kippur-Krieg (Quelle: AllanShowalter)

Während seiner Auftritte vor israelischen Soldaten während des Jom-Kippur-Kriegs schrieb Leonard Cohen eine bislang unbekannte Strophe für seinen Song »Lover Lover Lover«.

Noch einmal aus Cohens Manuskript vom Oktober 1973:

  1. Wir sangen überall dort, wo Männer versammelt waren, manchmal in Hallen für Hunderte, oder neben Flakgeschützen für zehn oder zwanzig Personen. Manchmal gab es Licht, manchmal leuchteten sie uns mit Taschenlampen an. Wir haben gesungen, wo immer wir gefragt wurden. 
  2. An meinen Fingerspitzen bildeten sich Schwielen. Hier und da wurde mir suggeriert, ich sei nützlich.
  3. Der einzige Ersatz für eine DC3 ist eine andere DC3.
  4. Männer wurden getötet. Ich begann, unsere Shows mit einem neuen Lied zu beenden. Der Refrain war Lover lover lover lover lover lover lover lover come back to me.
  5. Ich sagte mir: Vielleicht kann ich mit diesem Lied ein paar Leute beschützen. Ich würde es noch lange weitersingen.

Dann ging es in den Sinai. Nachdem sie in der Nähe der Front angekommen waren, erhielten Cohen und die anderen Musiker Schlafsäcke. Sie hatten einen kleinen Verstärker, den sie an die Batterie eines Panzers oder LKW anschließen konnten. Manchmal traten sie als Gruppe auf, manchmal jeder für sich. 

In keinem Notizbuch oder Manuskript fand Matti Friedman irgendwelche Ortsnamen, abgesehen von Jerusalem und Tel Aviv. Für die Musiker war alles »die Wüste«. Es gab keine organisierte Tour, sagte der Musiker Oshik Levi, der Cohen in Tel Aviv im Café Pinati kennengelernt hatte und ihn überredet hatte, bei den Auftritten vor Soldaten mitzumachen, im Gespräch mit Friedman: »Jeder Idiot konnte kommen und dich mitnehmen.« Die »Idioten« waren die jungen Offiziere der Fortbildungseinheit, deren Aufgabe es war, Sänger zu den kämpfenden Truppen zu bringen. Levi erzählt:

»Wir haben keine Ahnung, wo wir sind, und keine Ahnung, wer diese Typen sind. Jeden Tag kommt ein Fortbildungsoffizier oder irgendein anderer Idiot und sagt: ›Acht unserer Leute wurden soeben getötet, du musst kommen.‹ Wohin fahren wir? Warum? Aber was kann ich zu ihnen sagen? Sie stecken dich in den LKW und dann geht’s los.«

Levi lacht, als Friedman ihn fragt, ob es eine »Koordination« gegeben habe »Diese Kinder kamen und stritten untereinander, wer uns bekommen würde. Wer mehr Tote hatte, mehr Leid.« Wer würde entscheiden? »Sie stritten einfach.« Und mit dem Sieger würde der Musiker mitgehen? »Du kannst nicht nein zu ihnen sagen. Kannst du nein sagen?« Ein typisches Konzert lief in Oshik Levis Erinnerung so ab: 

»Ein Offizier bringt die Musiker nachts in einem LKW an einen Ort in der Wüste. Die Front ist nah, aber er weiß nicht, wie nah. Sie halten bei ein paar großen Artilleriegeschützen, die im Sand stehen. Alles ist völlig dunkel. Möchte jemand etwas Musik hören? Einige schmutzige Soldaten versammeln sich. Jemand baut eine Bühne aus Munitionskisten auf und stellt die Scheinwerfer des Lastwagens zur Beleuchtung ein. Sie beginnen zu singen. Plötzlich sagt ein Artillerieoffizier höflich: ›Kannst du einen Moment innehalten?‹ und brüllt: ›Geschütz dreiI!‹ Der Boden bebt. Alle sind für einige Sekunden wie taub. Dann singen sie weiter.«

Elieser Cohen

Cohen hatte seine eigenen Sorgen nach Israel mitgebracht. Er suchte, schreibt Friedman, damals nach einem »Ausweg aus der Sackgasse», er habe wieder Musik machen wollen. Leonard Cohen bittet darum, mit dem hebräischen Namen Elieser Cohen angesprochen zu werden. Weil Leonard für Israelis schwer auszusprechen ist, erklärt Friedman. Das ist ein Grund. Aber war es der einzige? »Lover Lover Lover« beginnt mit den Versen:

»I asked my father,
I said, ›Father change my name.‹
The one I’m using now it’s covered up
With fear and filth and cowardice and shame.

Ich bat meinen Vater,
Ich sagte: ›Vater, ändere meinen Namen.‹
Der Name, den ich jetzt trage, ist zugeschüttet
Mit Angst und Dreck und Feigheit und Scham.«

»Es ging tief ins Herz«

Ein Mystère-Pilot namens »Shoshi« erinnerte sich gegenüber Friedman an einen Auftritt Cohens während des Kriegs. Als er sich mit einem Freund in den Saal quetschte, war der einzige freie Platz auf dem Boden direkt vor Cohen, zwischen den Sitzen in der ersten Reihe und der niedrigen Bühne. Cohen war mitten in einem Lied, also setzten sie uns so leise wie möglich hin. 

»Er hat uns gesehen, ich habe gesehen, dass er uns gesehen hat. Wir waren nah an ihm dran und vielleicht gab es ein bisschen Licht. Wir waren zwei Kinder in Fluganzügen. Ich erinnere mich, dass er uns oft ansah – zumindest erinnere ich mich so daran. Ich weiß nicht, ob er sich später auch daran erinnern würde. Der Krieg war auf seinem Höhepunkt. Wir hatten Verluste. Das sprach mich an. Die Melodien waren mir vertraut. Wir haben nicht alle Worte verstanden, aber es ging tief ins Herz.«

Amos, ein Skyhawk-Pilot berichtete Friedman:

»Die Erfahrung, so, wie ich mich erinnere, war die, alles zu vergessen und in eine andere Welt einzutauchen, in der wir nicht alle herumrennen, in der es keine Toten gibt und in der wir keine Angst haben. Ich erinnere mich daran als ein prägendes Ereignis – einer der größten Sänger der Welt kam mitten im Krieg, inmitten des Chaos, und brachte uns etwas Ruhe und den Klang von etwas anderem.«

Leichen im Sand

Die Konzerte und der Tod waren nah beieinander. Einmal brachte ein Transportflugzeug verletzte Soldaten von der Front, die am Vorabend noch dem Konzert zugehört hatten. Einmal sahen die Musiker auf einer Luftwaffenbasis, wie ein Pilot in einer beschädigten Skyhawk einen Landeanflug unternahm, sich dann aber mit dem Fallschirm aus dem Cockpit katapultierte. Die Maschine zerschellte auf dem Flugplatz und tötete mehre Männer des Bodenpersonals.

Nicht immer kamen die Zuhörer der Konzerte freiwillig, manchmal mussten sie gezwungen werden, schreibt Friedman. Die »Moral zu heben« nennt er eine »Idee von Zivilisten«. Viele wollten nicht an das normale Leben erinnert werden, das sie vielleicht niemals wiedersehen würden.

»Die Soldaten hatten etwas Wahres und Schreckliches von der Welt gesehen, und sie würden sich nicht aufheitern lassen. … Es gibt Dokumentaraufnahmen einer Unterhaltungstruppe aus dem Jahr 1973, die zeigen, wie ein paar jugendliche Musiker wie verrückt klatschen und singen, während das Publikum aus schmutzigen Soldaten besteht, die auf dem Boden sitzen und mit hohlen Augen ins Leere starren. Wenn man Bilder des Jom-Kippur-Kriegs recherchiert, wird man viele Leichen sehen, aber dieses Bild ist noch schlimmer. Es ist eines der schrecklichsten Bilder des Krieges.«

Der Musiker Pupik Arnon erzählte Friedman, dass sie einmal mit dem VW-Bus durch die Wüste fuhren, kilometerweit über leere Autobahnen, als sie in der Nähe einer improvisierten Konstruktion mit Stangen und einem Leinendach anhielten. Sie setzten sich in den Schatten, um zu essen, und wurden sofort von Fliegen heimgesucht. Sie waren sich nicht sicher, warum, bis jemand sagte: »Hey, seht euch das an«. Aus einem kleinen Sandhaufen ragte ein Stiefel heraus. Er hing an einem Bein. Sie waren von Leichen umgeben, die halb mit Sand bedeckt waren.

»Knochen müssen aufrecht stehen«

Während dieser Zeit arbeitete Cohen immer wieder an »Lover Lover Lover« und nahm Änderungen vor. Friedman fand folgenden, bislang unbekannten Vers:

»I went down to the desert
To help my brothers fight
I knew that they weren’t wrong
I knew that they weren’t right
But bones must stand up straight and walk
And blood must move around
And men go making ugly lines
Across the holy ground.

»Ich ging hinunter in die Wüste
Um meinen Brüdern im Kampf zu helfen
Ich wusste, dass sie nicht im Unrecht waren
Ich wusste, dass sie nicht im Recht waren
Aber Knochen müssen aufrecht stehen und gehen
Und Blut muss sich bewegen
Und Männer ziehen hässliche Linien
Über den heiligen Boden.«

Die Knochen, die aufrecht stehen und sich bewegen, sind unschwer als Anspielung auf das Buch Hesekiel zu identifizieren: Gott schickt dem Propheten eine Vision von einem Tal mit sehr vielen Knochen, die »sehr vertrocknet« sind. Auf Gottes Befehl hin wächst an ihnen wieder Fleisch und Haut. In Buch Hesekiel heißt es: »Sie wurden wieder lebendig und standen auf ihren Füßen, ein sehr, sehr großes Heer. Und er sprach zu mir: Menschensohn, diese Gebeine, sie sind das ganze Haus Israel.« (Hesekiel 37, 10-11).

Die »hässlichen Linien«, die über den »heiligen Boden« gezogen werden, könnten eine Anspielung auf das Neue Testament sein: Jesu Gleichnis vom Bauern, der beim Pflügen schiefe Furchen zieht, weil er zurückblickt – in die Vergangenheit – statt nach vorn. (Lukas 9, 62: »Jesus aber sprach zu ihm: Niemand, der seine Hand an den Pflug gelegt hat und zurückblickt, ist tauglich für das Reich Gottes.«).

Cohen war nicht zufrieden mit der Strophe. Wie Matti Friedman schreibt, ist im Manuskript zu sehen, dass er im zweiten Vers »meine Brüder« strich und durch »die Kinder« ersetzte. Dann verwarf er die ganze Strophe und sie blieb unveröffentlicht und unbekannt, ehe Friedman sie entdeckte. Er schreibt, die Zeilen seien vielleicht ein authentischer Ausdruck eines Gefühls, das Cohen in diesem Moment hatte, aber nicht der Art und Weise, wie er sich fühlte, als der Krieg vorbei war und er zurück in der Welt war. Oder es sei möglich, dass die Verse »für Leonard Cohen den Privatmann passten, aber nicht für den Künstler«.

Israel 2009

Im Rahmen seiner Welttournee 2008-2010 trat Leonard Cohen am 24. September 2009 in Israel auf, im Ramat-Gan-Stadion bei Tel Aviv, der größten Sportstätte des Landes. Wie vorauszusehen war, protestierten Anhänger der antisemitischen Israelboykott-Bewegung BDS, sobald Tel Aviv in der Liste der Veranstaltungsorte auftauchte. Sie versuchten, auf Cohen Druck auszuüben, das Konzert abzusagen. Der Eintrag »Tel Aviv« wurde dann von der Website gelöscht, und lange blieb unklar, ob Leonard Cohen in Israel auftreten würde oder nicht. 

Cohen schlug über seinen Manager vor, er könne ja außer in Tel Aviv auch in Ramallah auftreten und die Einnahmen Amnesty International spenden. Die Palästinensische Autonomiebehörde und Amnesty International lehnten ab. Also gab es nur das Konzert in der Nähe von Tel Aviv gelegenen Stadt Ramat Gan und keines in den Palästinensischen Autonomiegebieten. Wie stets gab Cohen zahlreiche Zugaben, das Konzert dauerte drei Stunden. Am Ende segnete Cohen mit am Mikrofon gespreizten Händen das Publikum und das Volk Israel. Unter den Zuschauern war auch Kampfpilot Shoshi.

Literatur:

Matti Friedman: Who by Fire. Leonard Cohen in the Sinai. New York 2022.

Matti Friedman: Wer durch Feuer: Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens, Berlin 2023.

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