Gleich nach Beginn des Jom-Kippur-Kriegs vor fünfzig Jahren reiste Leonard Cohen nach Israel. Auf einer Luftwaffenbasis und nahe der Front im Sinai trat er vor Soldaten auf.
Am 6. Oktober 1973 griffen Ägypten und Syrien den jüdischen Staat an. Die Angreifer wurden von zahlreichen arabischen Staaten, der Sowjetunion, der DDR und Kuba unterstützt; Israel von Leonard Cohen. Auf die Nachricht des Kriegsausbruchs hin war der jüdisch-kanadische Dichter und Musiker so schnell er konnte über Athen nach Tel Aviv geflogen.
Der aus Montreal stammende Cohen lebte damals mit seiner Freundin Suzanne Elrod [die nicht die ›Suzanne‹ aus dem gleichnamigen Lied ist; Anm.] und dem gemeinsamen Sohn Adam auf der griechischen Insel Hydra. Ihre Beziehung war schwierig und es war eine unglückliche Zeit für Cohen. In Israel hatte er im Vorjahr seine Europa- und Israeltournee beendet, die ihn, in Dublin beginnend, in zwanzig Städte in Irland, Großbritannien, Frankreich, Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Deutschland, der Schweiz und Österreich geführt hatte. Danach erklärte er, eine Auszeit von der Musik zu nehmen.
In dem britischen Dokumentarfilm Bird on a Wire, der über jene Tournee produziert wurde, ist zu sehen, wie Cohen in Berlin – wo er ausgerechnet im Sportpalast aufgetreten war, in dem rund dreißig Jahre zuvor Hitler und Goebbels geredet hatten – mit einem Zuschauer stritt, der ihm Vorwürfe wegen des in seinen Augen viel zu kurzen Konzerts machte.
Beim Abschlusskonzert, das am 20. April 1972 in Jerusalem stattfand, wollte Cohen erneut frühzeitig die Bühne verlassen und erklärte dem Publikum, dass er einfach nicht in der richtigen Stimmung sei. Die Besucher bekämen ihr Geld zurück. Kurz zuvor hatte er die Zuhörer ermahnt, sie sollten nicht klatschen, wenn sie den Anfang eines Songs erkannt hatten, sondern stattdessen »die Hand heben«. Den Applaus empfinde er als störend.
Als er dann das Konzert – erst einmal – beendet und sich in den Umkleideraum zurückgezogen hatte, reagierten die Zuhörer nicht ungehalten wie jener Besucher in Berlin, sondern ließen Cohen stattdessen ausrichten, es sei nicht nötig, dass er singe; sie kennten die Lieder auswendig und würde sie für ihn singen; er solle bloß dabei sein und zuhören.
Schließlich sang das Jerusalemer Publikum für den immer noch abwesenden Cohen »Hevenu shalom aleichem« – »wir haben Frieden über dich gebracht«. Cohen war, wie man im Film sehen kann, zu Tränen gerührt. Er warf einen LSD-Trip ein und ging zurück in die Halle, wo er euphorisch begrüßt wurde. Dann spielte er weiter. Im Publikum waren sicherlich einige junge Leute, die den Krieg im folgenden Jahr nicht überleben würden.
Ariel Scharon: »Krieg der Väter und der Söhne«
Nun also war Leonard Cohen nach Israel zurückgekehrt. Mitten in einem Krieg, der die Existenz des Staates bedrohte. Der Jom-Kippur-Krieg sei für ihn »der Krieg der Väter und der Söhne«, schreibt Ariel Scharon Ariel Scharon, einer der israelischen Protagonisten dieses Kriegs – ein bekanntes Foto zeigt ihn als Zuhörer neben dem singenden Leonard Cohen –, in seiner Autobiografie Warrior. Etliche der Soldaten hatten schon im Krieg von 1948 gekämpft, nun kämpften sie zusammen mit ihren Söhnen. Viele Väter verloren ihre Söhne, viele Kinder ihre Väter.
Am Morgen des Jom Kippur, des Tags der Sühne, wurden die ersten Gläubigen an der Klagemauer in Jerusalem durch eine einzelne Phantom erschreckt, die im Tiefflug über die Stadt dröhnte. »Als ob die Luftwaffe einen Weckruf senden würde«, schreibt Abraham Rabinovich in seiner Chronik dieses Kriegs:
»Im weiteren Verlauf des Morgens wurde die ehrfürchtige Stille des heiligen Tages zunehmend durch das Knirschen von Reifen durchbrochen, wenn Militärfahrzeuge in Wohngebiete einbogen. Militärkuriere mit Mobilisierungsbefehlen stiegen aus, um die Hausnummern zu überprüfen. In der Regel wurden sie von den Nachbarn zu einer nahegelegenen Synagoge geleitet. Wenn der Soldat eintrat, wurde der Gottesdienst unterbrochen, damit er oder ein Synagogendiener die Namen vom Podium aus verlesen konnte. Es war allen klar, dass die Mobilisierung an Jom Kippur wegen eines arabischen Überraschungsangriffs erfolgen musste.«
Who by Fire
In einer Synagoge im Jerusalemer Stadtteil Ramat Eschkol erhob sich ein junger Mann, der einen Gebetsschal trug, von seinem Platz, als sein Name aufgerufen wurde. Sein Vater, der neben ihm saß, umarmte ihn und wollte ihn nicht loslassen. Der Rabbiner trat heran und sagte sanft zu dem weinenden Vater: »Sein Platz ist heute nicht hier.« Der Vater ließ seinen Sohn los, und der Rabbiner legte seine Hand auf den Kopf des jungen Mannes, um ihn zu segnen.
Rabbiner erklärten ihren Gemeinden, dass es allen Mobilisierten erlaubt sei, ihr Fasten zu brechen und Auto zu fahren, was an Jom Kippur streng verboten ist, außer in Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Im ganzen Land sah man Männer mit Kippot und Gebetsschals, die Auto fuhren, was sie am Jom Kippur noch nie getan hatten, oder versuchten, per Anhalter zu den Sammelplätzen zu gelangen. Viele Familienväter brachten ihre Frauen und Kinder zu Verwandten, bevor sie zu ihren Einheiten fuhren.
Das Unetaneh Tokef mit seiner ergreifenden Melodie, das sie am Morgen gesungen hatten, klang in den Köpfen aller – der Einberufenen und der Zurückgebliebenen – nach. Das Gebet, das Cohen als Kind in der Synagoge gehört hatte, beschreibt, wie Gott das Buch des Lebens durchblättert und über das Schicksal jeder Seele im kommenden Jahr entscheidet, wer leben und wer sterben wird – und auf welche Weise. Die aus dem Mittelalter stammenden Verse lauten:
»An Rosch ha-Schana wird es eingeschrieben, und an Jom Kippur wird es besiegelt – wie viele vergehen und wie viele geboren werden, wer leben und wer sterben wird, wer zu seiner Zeit und wer durch einen vorzeitigen Tod, wer durch Wasser und wer durch Feuer.«
Who by Fire, das auf dem Text des Unetaneh Tokef basiert, wurde zu einem von Cohens bekanntesten Songs. Es ist auf New Skin for the Old Ceremony enthalten, dem Album aus dem Jahr 1974, kurz nach dem Jom-Kippur-Krieg.
Tel Aviv
Der in Toronto geborene und in Jerusalem lebende Journalist und Schriftsteller Matti Friedman hat im vergangenen Jahr ein Buch über Cohens Reise nach Israel im Oktober 1973 veröffentlicht, über die bis dahin wenig bekannt war. Die deutsche Ausgabe Wer durch Feuer: Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens ist am 1. Oktober 2023 im Hentrich und Hentrich Verlag erschienen. Für sein Buch hat Friedman Notizbücher und Manuskripte recherchiert und Zeitzeugen interviewt. Es enthält ein bislang unveröffentlichtes kurzes Manuskript Cohens über seine Erlebnisse in Israel und der Wüste und zahlreiche seltene Fotografien.
Was also machte Leonard Cohen nach seiner Ankunft am Flughafen Lod? Er war ja ohne einen Plan nach Israel gekommen. Ein Ehepaar, das er im Flugzeug kennengelernt hatte, erzählt Friedman, ließ ihn in seiner Wohnung in Herzliya wohnen, einem hübschen Vorort von Tel Aviv, direkt am Meer gelegen. An dem Tag, als Cohen ungeplant seine musikalische Mission für die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) begann, hatte er eigentlich eine Frau treffen wollen: Rachel Teri, eine, wie Friedman schreibt, »schöne Volleyballerin und Stewardess, die er ein Jahr zuvor bei einer Party in Tel Aviv kennengelernt hatte«.
Cohen ging ins Café Pinati in Tel Aviv, wo er laut seinen Aufzeichnungen nach ihr »suchte«. Verabredet waren sie aber nicht. Es wäre also bloßer Zufall gewesen, hätte er sie gefunden. Stattdessen traf er Musiker, die auf dem Weg in den Krieg waren.
Einer von ihnen war Oshik Levi, der vom ersten Tag des Kriegs an, dem Samstag, der 6. Oktober, auftrat. Am Tag danach traf er Leonard Cohen im Café Pinati. Levi war gerade dabei, eine Unterhaltungsgruppe mit Pupik Arnon, Matti Caspi und Ilana Rovina zusammenzustellen. Am zweiten Abend trat die Gruppe gemeinsam mit Leonard Cohen in der Luftwaffenbasis Hatzor auf. Wenn Levi sich richtig erinnert, wäre Cohen also schon am 7. Oktober, dem zweiten Tag des Jom-Kippur-Kriegs, vor israelischen Soldaten aufgetreten. Ilana Rovina berichtete Friedman, wie sie Cohen im Café Pinati getroffen hatten:
»Wir haben ihm gesagt, er könne sich zu uns setzen. Wir sagten, dass wir Sänger seien und fragten ihn, was er in Israel mache. Er sagte: ›Ich habe gehört, dass es einen Krieg gibt, also bin ich gekommen, um mich als Freiwilliger für Erntearbeiten in den Kibbuzim zu melden, so dass ein paar andere Leute freigestellt werden, um zu kämpfen.‹ Wir sagten ihm, dass es gerade keine Ernte gebe und schlugen vor, dass er mit uns komme, Konzerte geben.«
Sie habe ihm versichert: »Wir kämpfen nicht, wir machen nur Musik.« Oshik Levi erinnerte sich gegenüber Friedman, dass Cohen geantwortet habe: »Meine Songs sind melancholisch, ›Bird on the Wire‹ und so, das würde sie nur deprimiert machen.« Levi habe geantwortet: »Das ist okay, komm einfach mit.«
Strand und Café
Cohen fertigte damals mit der Schreibmaschine ein Manuskript an, in dem er das, was er tat, nummeriert auflistete. Friedman, der es zum ersten Mal veröffentlichte, erläutert, dass in Cohens alter Aussprache des Hebräischen aus dem a ein o wird – darum »Rochel« statt »Rachel« und »Pinoti« statt »Pinati«. Die ersten zwölf Punkte lauteten:
- Ich habe mich umgezogen.
- Ich bin den Frischman[-Strand] entlang gelaufen, zum Café Pinoti, wo ich nach Rochel suchte.
- Ich bin zurück zum Hotel und wusch mein Shirt: Ich fand einen Ort auf dem Balkon, wo es nicht gegen die dreckige Wand klatschen würde.
- Ich zwang mich, für einige Zeit aufs Meer zu schauen; versuchte, mich von der heilsamen Wirkung dieser Anstrengung zu überzeugen.
- Ich ging zu Bett und schlief schlecht wegen der Mücken.
- Ich war so froh, dass es Morgen war.
- Ich ging zum Café Pinoti, um nach Rochel Ausschau zu halten. Ich beschloss, nicht nach ihr zu suchen.
- Ich nahm einen Bus zum Strand nach Herzlia. Ich war so glücklich im Wasser. Ich gab mir selbst das Versprechen, treu zu sein. Ich beschloss, eine Hütte zu finden und allein an diesem Strand zu wohnen, es niemandem zu sagen.
- Ich ging zurück zum Hotel. Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, lief ich den Frischman entlang zum leeren Café Pinoti hin und zurück durch die verdunkelte Straße, auf der Suche nach Rochel.
- Ich habe mein Zimmer eingesprüht und mich schlafen gelegt.
- Ich wachte auf und ging in den Sonnenschein. Es war zu früh, um nach Rochel zu suchen. Ich ging zum Café Pinoti, um Kaffee zu trinken und die Herald Tribune zu lesen. Etliche Leute schienen mich zu erkennen.
- Ich traf eine israelische Sängerin, Ilana Rovina. Sie war gerade vom Sinai zurückgekommen. Sie würde an diesem Abend auf einer Luftwaffenbasis spielen und am nächsten Tag würden sie und drei weitere Unterhaltungskünstler in den Sinai reisen. Ob ich sie begleiten wollte?
Luftwaffenbasis Hatzor
Bei der Flucht aus Ägypten vergaßen die Israeliten nicht, ihre Musikinstrumente mitzunehmen. Das wissen wir, denn nachdem sie das geteilte Rote Meer durchquert hatten und die ägyptischen Streitwagen im Meer versunken waren, feierte das jüdische Volk so: Angeführt von der Prophetin Mirjam nahmen die Frauen die Tamburine zur Hand, sangen und tanzten (2. Mose 15, 20). Leonard Cohen hingegen hatte viertausend Jahre später seine Gitarre zu Hause gelassen. Freilich waren die Israeliten auch nicht mit dem Flugzeug gereist, in dem ein Musikinstrument leicht Schaden nehmen kann.
Zu einer Zeit, schreibt Friedman, als die israelischen Kampfflugzeuge in so großer Zahl von den sowjetischen Raketen abgeschossen wurden, dass die Verluste vor der Öffentlichkeit geheim gehalten werden mussten, fand bei der israelischen Armee jemand Zeit, eine Gitarre für Leonard Cohen zu suchen.
Das erste Konzert auf der Luftwaffenbasis Hatzor war noch weit entfernt von der Front, also relativ ungefährlich für die Musiker, aber viele der Piloten wurden in ihren Phantom-Jets und französischen Mystères abgeschossen und starben in einem Ausmaß, wie es die israelische Luftwaffe noch nie erlebt hatte. Cohen spielte die Hits, die jeder kannte: Suzanne, So Long Marianne, Bird on the Wire. Die Show kam so gut an, dass einer der Offiziere die Musiker bat, noch einmal aufzutreten. In der Pause zwischen den beiden Auftritten schrieb Cohen das Lied Lover Lover Lover. Darin heißt es:
»And may the spirit of this song
May it rise up pure and free
May it be a shield for you
A shield against the enemy.Und möge der Geist dieses Liedes
Möge er sich rein und frei erheben
Möge es ein Schild für dich sein
Ein Schutzschild gegen den Feind.«
Morgen erscheint hier der zweite und letzte Teil der Mini-Serie
Literatur:
Matti Friedman: Who by Fire. Leonard Cohen in the Sinai. New York 2022.
Matti Friedman: Wer durch Feuer: Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens, Berlin 2023.