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Nachfolgekrise der Muslimbruderschaft verschärft sich

Der amtierende Generalführers der Muslimbruderschaft, Ibrahim Munir, starb am vierten November
Der amtierende Generalführers der Muslimbruderschaft, Ibrahim Munir, starb am vierten November (Quelle: Islam21C.com

Der Tod des amtierenden Generalführers der Muslimbruderschaft vor über einem Monat hat einen internen Machtkampf ausgelöst und die Organisation in drei Teile gespaltet. Jetzt steigt eine jüngere, aber auch radikalere Generation auf.

Hany Ghoraba 

Der Tod des amtierenden Generalführers der Muslimbruderschaft, Ibrahim Munir, am vierten November hat einen neuen internen Machtkampf ausgelöst. Gegenwärtig kämpfen drei Fraktionen um die Kontrolle, die alle außerhalb Ägyptens operieren: eine in Großbritannien, zwei in Istanbul. Der Londoner Fraktion, die einst von Munir angeführt wurde, steht nun Mohei El-din El Zayet vor. Eine Fraktion in Istanbul wird von Mahmoud Hussein angeführt, die andere nennt sich Fraktion »Strömung des Wandels«, und beide beanspruchen für sich, legitimer Vertreter der Bruderschaft und ihrer Ziele zu sein.

Vor seinem Tod erklärte Munir, die Bruderschaft werde nicht mehr nach der Macht in Ägypten streben. Die Istanbuler Fraktionen, von denen eine militante Operationen gegen die ägyptische Regierung und Armee favorisiert, lehnen diese Position ab. Nach Munirs Tod erklärte die Londoner Fraktion der Gruppe sofort El Zayet zu ihrem amtierenden Führer. Daraufhin ernannte eine in Istanbul ansässige Fraktion Mahmoud Hussein.

»Die Muslimbruderschaft ist sich bewusst, dass die Jugend ihr gegenwärtiges Werkzeug ist, die Kraft der Gruppe, die Hoffnung, ihre Ruhmesbringer, das Sicherheitsventil für ihren Fortbestand und der Name ihrer Zukunft«, sagte Hussein in einer Rede am 20. November. »Deshalb arbeitet die Gruppe an der Vorbereitung und Qualifizierung einer Generation von jungen Führungskräften, die in allen Berufen voll qualifiziert und in der Lage sind, die Gruppe zu einem sicheren Übergang in das zweite hundertjährige Bestehen der Gruppe zu führen, so Gott will.«

Mit einer baldigen Beilegung der Fehde zwischen den Fraktionen kann nicht so bald gerechnet werden. Sie erfordert eine Abstimmung in der Generalversammlung, was mit Mitgliedern, die inhaftiert oder im Exil sind, schwer zu arrangieren ist.

Ägypten betrachtet Mohei El-din El Zayet als Terroristen. Er wurde von einem Militärgericht in Abwesenheit zu sechs Jahren Gefängnis wegen Terrorakten verurteilt, an denen auch eine als Helwan-Brigaden bekannte Terrorzelle beteiligt war. Bei Anschlägen der Helwan-Brigaden in den Jahren 2014/15 wurden fünf Polizeibeamte getötet und mehrere Strommasten zerstört. El-Zayet wurde angeklagt, verschiedene Brigadegruppen koordiniert zu haben.

Dem verstorbenen Ibrahim Munir ist zu verdanken, dass die weltweite Gruppe der Muslimbruderschaft intakt blieb, nachdem sie in Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Jordanien verboten wurde. Im Jahr 2016 überzeugte er das britische Parlament, die Muslimbruderschaft nicht zu verbieten bzw. sie als terroristische Vereinigung einzustufen. Vor einem Parlamentsausschuss erklärte er, dass die Scharia-Gesetze Abtrünnige und Homosexuelle dulden, was den Lehren des Gründers der Bruderschaft, Hassan al-Banna, widerspreche.

Doch sowohl Munir als auch Mahmoud Hussein wurden von der Fraktion der Strömung des Wandels verabscheut, die sich hauptsächlich aus der Jugend der Gruppe zusammensetzt, welche die alte Garde als zu alt und eingefahren ansieht. Sie ist auch unter den Namen »Dritte Welle« und »Neue Kamalisten« bekannt, was sich auf Mohamed Kamal, einen verstorbenen Gründer der Gruppe bezieht. So organisierte die Fraktion Strömung des Wandels im vergangenen Oktober einen Kongress in Istanbul, der mit seinem Todestag zusammenfiel.

Mohamed Kamal war der Drahtzieher einer Reihe von terroristischen Aktivitäten in Ägypten, bevor er 2016 nach einem kurzen Gefecht in seinem Versteck in Kairo von ägyptischen Sicherheitskräften getötet wurde. Die Gruppe Strömung des Wandels will die Grundsätze des Gründers der Gruppe, Hassan al-Banna, und ihres Ideologen und Terrorismusvordenkers Sayyid Qutb wiederherstellen. Zu diesen Grundsätzen gehören der Kampf gegen abtrünnige Regierungen und der gewaltsame Sturz von Machthabern als eine Form des Dschihad. Qutb glaubte daran, der Gesellschaft die Scharia anstelle des Zivilrechts aufzuerlegen.

Die Fraktion gab bei ihrem ersten offiziellen Treffen in Istanbul eine Charta heraus, aus der hervorgeht, dass die Gruppe bereit ist, ihre terroristischen Aktivitäten in Ägypten wieder aufzunehmen und jegliche Versöhnungs- oder Annäherungsversuche mit der ägyptischen Regierung ablehnt, berichtete Sky News Arabia.

»Alle Optionen sind offen für die Anwendung von Zwang und Gewalt und die Notwendigkeit, Gefangene freizulassen«, heißt es in der Charta. Gefordert wird »das Ende der Ära der Zentralisierung innerhalb der [Bruderschaft] und das Vertrauen in die Dezentralisierung«, was dahingehend gewertet wird, als sie nicht den Fraktionen in London oder Istanbul folgen wird.

Diese Positionen stehen im Widerspruch zu Munirs Aussage, die Muslimbruderschaft strebe nicht mehr nach der Macht in Ägypten. Munir hatte behauptet, seine Fraktion konzentriere sich darauf, Mitglieder der Bruderschaft in ägyptischen Gefängnissen zu befreien, »eine gesellschaftliche Versöhnung zu erreichen und eine breite nationale Partnerschaft aufzubauen, welche die Forderungen der Ägypter nach politischen und wirtschaftlichen Reformen aufgreift«.

»Ibrahim Munir scheint mit seiner Erklärung Zugeständnisse an die ägyptische Staatsmacht zu machen, weil er glaubt, dass dies [der Muslimbruderschaft] erlauben könnte, nach einiger Zeit wieder politisch oder zumindest sozial tätig zu werden, zumal Munir und seine Front die Auffassung vertreten, dass die Gruppe keine Waffen mehr besitzt, mit denen sie dem politischen System in Ägypten entgegentreten kann«, schrieb der ägyptische Terrorismusforscher Munir Adeeb.

Unklare Zukunft

Würde man die Statuten der Muslimbruderschaft buchstabengetreu anwenden, müsste der nächste amtierende Generalführer der 80-jährige Mohamed El-Beheiry sein, der in der Türkei lebt. Er ist das älteste Mitglied der Muslimbruderschaft und gehörte wie auch Badie der berüchtigten Zelle Organisation 65 an, die von Sayyid Qutb geleitet wurde. Die Organisation 65 verübte eine Reihe von Attentaten auf den damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser und führte weitere koordinierte Anschläge durch, um die Regierung zu stürzen. Die Behörden lösten die Gruppe 1965 auf und verurteilten eine Reihe ihrer Mitglieder, darunter auch Qutb, zum Tod.

El-Beheiry war einer der vielen Feinde Munirs und beteiligte sich im Oktober 2021 an einem Putschversuch gegen ihn. Daraufhin suspendierte Munir El-Beheiry und eine Reihe seiner Komplizen. Sein möglicher Aufstieg zum nächsten amtierenden Generalführer würde die Kluft zwischen den Fraktionen der Muslimbruderschaft vertiefen. Jüngere Mitglieder haben das Gefühl, ignoriert und als Kanonenfutter im Kampf ihrer Führer gegen den ägyptischen Staat behandelt zu werden.

Die Zukunft einer einheitlichen Muslimbruderschaft in Ägypten ist nach wie vor ungewiss, da die Gruppe in mindestens drei bekannte Fraktionen zersplittert ist, von denen jede ihre eigenen Ziele und Pläne verfolgt, die manchmal im Widerspruch zu den anderen stehen. Der neuen Gruppe Strömung des Wandels fehlt die Legitimität, die die Fraktionen in London und Istanbul genießen, aber sie trägt die Ideale der übereifrigen Radikalen der Gruppe, die einen großen Teil der jüngeren Generation der Bruderschaft repräsentieren.

Hany Ghoraba ist ägyptischer Autor und Antiterrorismus-Analyst bei Al Ahram Weekly, Autor von Egypt’s Arab Spring: The Long and Winding Road to Democracy und schreibt regelmäßig für die BBC. Er ist Senior Fellow des Investigative Project on Terrorism. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News SyndicateÜbersetzung von Alexander Gruber.)

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