Erweiterte Suche

Libanon: Die gigantische unterirdische Welt der Hisbollah-Tunnel

Von den IDF 2019 entdeckter Angriffstunnel der Hisbollah vom Libanon auf israelisches Territorium
Von den IDF 2019 entdeckter Angriffstunnel der Hisbollah vom Libanon auf israelisches Territorium (© Imago Images / Xinhua)

Nach Angaben des Alma Research and Education Center gibt es unter dem Libanon ein gewaltiges und äußerst komplexes Tunnelsystem, das sich über Hunderte von Kilometern erstreckt und möglicherweise auch israelisches Gebiet erreicht.

Shimon Sherman

Nach der mutmaßlich von Israel durchgeführten Tötung des stellvertretenden Hamas-Führers Saleh al-Arouri in einem Vorort von Beirut haben sich die Spannungen an der Nordgrenze des jüdischen Staates Anfang Januar verschärft. Die Eskalation erfolgte fast drei Monate nach Beginn der Auseinandersetzungen, die nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober an der israelisch-libanesischen Grenze ausgebrochen waren.

»Die Situation ist im Grunde schon ein Krieg«, meinte Tal Finkelstein, ein Bewohner der im Norden Israels gelegenen Stadt Kiryat Shmona. Die Hisbollah »tötet unsere Soldaten und bombardiert unsere Häuser. Die Realität ist für jeden, der im Norden lebt, völlig unhaltbar.«

Die anhaltenden Kämpfe haben die israelische Führung dazu veranlasst, die Hisbollah zum Rückzug ihrer Truppen von der Nordgrenze aufzufordern. Sowohl Verteidigungsminister Yoav Gallant als auch der Generalstabschef der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), Generalleutnant Herzl Halevi, haben Israels Bereitschaft erklärt, die Terrorgruppe auch mit militärischer Gewalt weiter nach Norden zu drängen.

Die aktuellen Entwicklungen werfen Fragen zu den Offensiv- und Defensivfähigkeiten der Hisbollah im Allgemeinen und zu dem riesigen Terrortunnelnetz im Besonderen auf, das sie in Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit Israel aufgebaut haben soll.

Operation Nördlicher Schutzschild

Das Problem des Hisbollah-Tunnelnetzes rückte erstmals 2018 ins Rampenlicht, als Israel die Operation Nördlicher Schild startete, während der die IDF über einen Zeitraum von sechs Wochen sechs vom Libanon nach Israel gegrabene Tunnel freilegten. Nach Angaben der Streitkräfte waren sie dazu gedacht, »Hisbollah-Terroristen heimlich in Gebiete in der Nähe israelischer Gemeinden im nördlichen Galiläa zu bringen und diese Gemeinden dann anzugreifen«.

Der größte Tunnel, der seinen Ursprung in der südlibanesischen Stadt Ramiyah hat, war achtzig Meter tief – das entspricht einem zweiundzwanzigstöckigen Gebäude –, rund einen Kilometer lang und reichte an die fünfundsiebzig Meter weit nach Israel hinein. In ihm waren Klimaanlagen, Telefonleitungen, Bahngleise und Aufmarschplätze für grenzüberschreitende Invasionen eingerichtet.

Nach Angaben des Forschungsleiters des in Galiläa ansässigen Alma Research and Education Center, Tal Beeri, widerlegte die Entdeckung dieser Tunnel die militärische Annahme, das felsige Gelände im Südlibanon stelle ein großes Hindernis für die Entwicklung eines umfangreichen Tunnelsystems durch die Hisbollah dar.

Das »Land der Tunnel«

Im Jahr 2021 brachte ein von Alma veröffentlichter Bericht weitere Klarheit in die Angelegenheit: »2008 stießen wir auf einen Hinweis aus einer christlichen libanesischen Quelle, der ein großes Projekt der Hisbollah in weiten Teilen des Südlibanons beschrieb, das östlich von Sidon begann«, so Beeri. Daraufhin begannen er und seine Forschungsabteilung, eine beeindruckende Sammlung von Beweisen zusammenzutragen, darunter Augenzeugenberichte von Anwohnern, Videos und Karten, die alle auf ein hoch entwickeltes Tunnelnetz der Hisbollah hinwiesen.

Ein zentrales Element ihrer Nachforschungen war eine vom Institut entdeckte Karte, auf der sechsunddreißig über den Südlibanon verteilte Polygone dargestellt sind. »Unserer Einschätzung nach markieren diese Vielecke die Aufenthaltsorte der Hisbollah, die sie als Teil ihres Verteidigungsplans‹ gegen eine israelische Invasion im Libanon eingerichtet hat. Jedes dieser Zentren verfügt über ein Netz von unterirdischen Tunneln. Und zwischen allen Zentren wurde eine Infrastruktur aus Tunneln gebaut, durch die sie verbunden sind«, so Beeri.

Diese Einschätzung ergab sich aus Berichten über Bau- oder Befestigungsarbeiten ohne sichtbare oberirdische Tätigkeiten, die mit den auf der Karte markierten Gebieten korrelierten. Die libanesischen Zivilisten in der Region »haben nicht verstanden, warum die Hisbollah sie daran hinderte, sich diesen Gebieten zu nähern. Was sie sehen konnten, erinnerte an Bauarbeiten, Sand, Aushub und Beton in dem Gebiet. Aber es wurde nichts über der Erde gebaut. Sie sahen Iraner und andere Ausländer, von denen sie später feststellten, dass sie Nordkoreaner waren.«

Dem Alma-Bericht zufolge waren sowohl Nordkorea als auch der Iran maßgeblich an der Planung und dem Bau des Tunnelnetzes beteiligt. Die ersten Bauprojekte begannen in den frühen 1980er Jahren und wurden in den späten 1990er Jahren unter nordkoreanischer Aufsicht erheblich ausgeweitet. »Nordkoreanische Berater unterstützten das Tunnelprojekt der Hisbollah maßgeblich. Die von den Iranern inspirierte und unterstützte Terrorgruppe sah in Nordkorea eine professionelle Autorität für diese Arbeiten, da Nordkorea seit den 1950er Jahren umfangreiche Erfahrungen mit dem Bau von Tunneln für militärische Zwecke gesammelt hatte.«

Nach Israels zweitem Libanonkrieg im Jahr 2006 wurden die Beziehungen der Hisbollah zu Nordkorea zugunsten iranischer Unterstützung zurückgefahren. Bis ins Jahr 2014 hatte die Hisbollah alles, was sie brauchte, von den Koreanern erhalten und begonnen, ihre eigenen »zivilen« Unternehmen zu gründen, um das Projekt weiter fortzusetzen. Der Alma-Bericht enthüllt ein riesengroßes und enorm komplexes System von Hisbollah-Tunneln im gesamten Libanon, deren Gesamtlänge nach Beeris Einschätzung Hunderte von Kilometern beträgt. Das unterirdische System besteht aus technologisch komplexen Tunneln mit zahlreichen Verbindungsarmen, von denen einige so voluminös dimensioniert sind, dass Pick-up-Lkw mit mehrläufigen Raketenwerfern hindurchfahren können.

Eine weitere Erkenntnis der Alma-Untersuchung ist, dass sich diese Anlagen nicht nur auf den Südlibanon beschränken, sondern sich auf eine überregionale Ebene erstrecken, die den Südlibanon mit dem Raum Beirut und mit einer Region im Nordlibanon an der syrischen Grenze verbindet, wo die Hisbollah ebenfalls stark vertreten ist. »Es handelt sich nicht nur um ein lokales Netz von Angriffstunneln und Infrastruktur in oder in der Nähe von Dörfern, sondern um ein überregionales«, so Beeri. Unabhängig davon bestätigte im Mai 2021 der israelische Sender Kan News die Existenz eines den Südlibanon mit Beirut verbindenden Tunnels.

Vier Typen

Nach dem Alma-Bericht wird das Tunnelsystem in vier Typen unterteilt. Die Hauptschlagadern bilden die Angriffstunnel, von denen manche so groß sind, dass mittelgroße Lastwagen hindurchfahren können. Beeri führt aus, weshalb dies für die Offensivstrategie der Hisbollah von entscheidender Bedeutung ist: So werden bestimmte, von der Hisbollah eingesetzte Boden-Boden-Raketen auf Lastwagen transportiert, und die groß angelegten Tunnel ermöglichen die Durchführung schneller, mobiler Starts als auch den raschen Rückzug, ohne dass der Abschussort entdeckt wird.

Taktische Tunnel, wie sie bei der israelischen Operation Nördlicher Schutzschild entdeckt wurden, befinden sich in der Regel in der Nähe libanesischer Dörfer und werden vor allem von Infanteriesoldaten genutzt, um sich heimlich darin zu bewegen schnell für einen Angriff aufzutauchen, sich auszuruhen, zu reformieren und wieder zu bewaffnen.

Ein dritter Typ sind die sogenannten Annäherungstunnel, die den taktischen ähneln, aber dazu dienen, Hisbollah-Kämpfer für Angriffe in die Nähe der israelischen Grenze zu bringen. Die vierte und letzte Art, die sogenannten Sprengtunnel, sind an strategischen Stellen platziert und mit Sprengstoff gefüllt, der bei Annäherung von IDF-Truppen ferngezündet werden kann.

Die aktuelle Bedrohung

Die Ausdehnung des derzeit bekannten Tunnelsystems der Hisbollah gibt Anlass zur Sorge über unbekannte Tunnel, die bis nach Israel hineinführen. In den vergangenen Jahren haben viele Bewohner der Städte im Norden in der Nähe der libanesischen Grenze berichtet, Geräusche von Bauarbeiten unter ihren Wohnhäusern gehört zu haben. »Als wir meinten, dass sie graben, sagte uns das Militär, dass wir uns das nur einbilden. Wir wissen nicht, ob damals alle Tunnel gefunden wurden«, sagte der Vorsitzende des Komitees von Moshav Stula in Obergaliläa, Yaniv Turgeman, kürzlich in einem Interview.

Der Leiter des IDF-Nordkommandos Ori Gordin erklärte diese Woche, dass die Soldaten »Suchaktionen durchführen, um jegliche Terrorinfrastruktur sowohl über als auch unterhalb der Erde zu finden. Wenn eine Bedrohung festgestellt wird, werden wir sie vor niemandem geheim halten.«

Mit der weiteren Eskalation der Kämpfe an der Nordgrenze gewinnt die Bedrohung durch die Tunnel immer stärker an Bedeutung. Bis jetzt wurden bereits mehrere israelische Soldaten getötet und über 80.000 Zivilisten aus den nördlichen Gemeinden evakuiert. Die Hisbollah gab den Tod von 143 ihrer Kämpfer seit dem Ausbruch der Feindseligkeiten am 7. Oktober bekannt. »Wir kehren nicht zum Status quo ante zurück«, sagte IDF-Stabschef Halevi vergangene Woche in einer Erklärung und betonte, dass sich die Armee auf Kämpfe im Libanon vorbereite, um die Hisbollah von der Grenze zu vertreiben.

(Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren sowie ein Editorial des Herausgebers.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir sprechen Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie einen unabhängigen Blickzu den Geschehnissen im Nahen Osten.
Bonus: Wöchentliches Editorial unseres Herausgebers!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!