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Die #MeToo-Bewegung erreicht Ägypten

Sexuelle Übergirffe gegen Frauen sind in Ägypten allgegenwärtig
Sexuelle Übergirffe gegen Frauen sind in Ägypten allgegenwärtig (© Imago Images / Le Pictorium)

In einem für Ägypten höchst ungewöhnlichen Vorgang haben mittlerweile über hundert Frauen in den sozialen Medien im Internet – u.a. auf Instagram und Twitter – einen Mann bezichtigt, sie sexuell genötigt, vergewaltigt, erpresst zu haben.

Mittlerweile wurde der Beschuldigte, Ahmed Z., ein ehemaliger Student an der renommierten American University in Cairo (AUC), Anfang Juli von der Polizei vorläufig festgenommen. Auch das ist in Ägypten bemerkenswert.

Wie die aus London betriebene englischsprachige Website Egyptian Streets schreibt – die am 2. Juli als erstes über den Fall berichtete –, kam die Welle der öffentlichen Aufmerksamkeit ausgerechnet dadurch zustande, dass jemand versucht hatte, Berichte von Opfern unter den Teppich zu kehren.

Demnach wurden die ersten Vorwürfe gegen Z. bereits im Jahr 2018 von einer Studentin der AUC erhoben. Sie habe in einer Facebook-Gruppe namens „RATE AUC PROFESSORS“ (die nicht von der Universität betrieben oder verantwortet wird) Z. beschuldigt, sie und ihre Freundinnen belästigt zu haben. Unter ihren Bericht seien „Tausende von Kommentaren“ geschrieben worden.

Dann sei der Eintrag Ende Juni 2020 – zwei Jahre später – von den Administratoren der Gruppe gelöscht worden. Das empörte offenbar viele Frauen. Am „Morgen des 1. Juli 2020“, so Egyptian Streets,

„wurden in den sozialen Medien Beiträge veröffentlicht, in denen ein ägyptischer Mann in den Zwanzigern der Vergewaltigung, sexueller Übergriffen und sexueller Belästigung beschuldigt wurde. Bis zur Nacht war dieser Mann von mehr als 50 ägyptischen und ausländischen Frauen wegen zahlreicher Sexualverbrechen angeklagt worden, das Versagen von Institutionen wurde aufgedeckt und zwei Hashtags im Zusammenhang mit den Vorwürfen waren die Top-Trends in Ägypten.“

Die Berichte der Opfer sind oft verstörend detailliert. Die Frauen beschreiben, wann und wo sie Ahmed Z. getroffen hätten, was er zu ihnen gesagt habe, zu welchen sexuellen Handlungen er sie gezwungen habe bzw. habe zwingen wollen und wie er dabei vorgegangen sei.

Etliche Zeuginnen berichten davon, dass er sie erpresst und damit gedroht habe, „Schande“ über ihre Familie zu bringen: Er werde (tatsächliche oder erfundene) sexuelle Kontakte öffentlich machen oder (tatsächliche oder am Computer gefälschte) Nacktfotos der betreffenden Frau verbreiten. Eine der Frauen, die Z. vergewaltigt haben soll, war zum Tatzeitpunkt erst 14. Viele der Frauen berichten davon, welche körperlichen und seelischen Verletzungen Z. ihnen zugefügt habe.

Öffentlicher Druck

Von einer ägyptischen #MeToo-Kampagne ist die Rede. Mittlerweile ist die Zahl der Frauen, die Z. vorwerfen, sie bedroht, belästigt oder vergewaltigt zu haben, auf über hundert gestiegen. Zeitungen aus aller Welt haben über den Fall berichtet. Für Ägypten ist das etwas Unerhörtes. Es war dort bislang üblich, die Opfer zum Schweigen zu bringen und sie sogar ins Gefängnis zu werfen. Erst im Mai 2020 war eine junge Ägypterin verhaftet worden, nachdem sie in einem Internetvideo davon berichtet hatte, wie sie vergewaltigt worden war.

Anfang 2019 hatte die ägyptische Juristin und Sozialwissenschaftlerin Sahar Aziz von der Rutgers University New Jersey im Interview mit Mena-Watch erklärt, warum aus ihrer Sicht die Behörden in Ägypten gegen die Opfer sexueller Übergriffe vorgehen – statt gegen die Täter. Sexuelle Nötigung sei in Ägypten so sehr gang und gäbe, dass es aussichtslos sei, dem einen Riegel vorschieben zu wollen. Öffentlich geäußerte Beschwerden über Vergewaltigungen aber könnten – wie jeder andere öffentlich geäußerte Protest auch – eine gesellschaftliche Mobilisierung auslösen, die das Regime nicht mehr kontrollieren könne, sagte Aziz damals:

„Ägypten hat eine Bevölkerung von 100 Millionen. Die Lektion, die das Regime aus dem sogenannten arabischen Frühling gelernt hat, ist, niemals zuzulassen, dass die Leute zu dem Punkt kommen, wo sie keine Angst mehr haben, auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Sobald sie das tun, sind es zu viele, als dass die Sicherheitsdienste sie stoppen könnten.“

Hölle für Frauen

Laut einer im Oktober 2017 veröffentlichten Umfrage der Thomson Reuters Foundation ist Kairo für Frauen die gefährlichste Stadt der Welt:

„Die ägyptische Hauptstadt … schnitt am schlechtesten ab, wenn es um Frauen verletzende kulturelle Praktiken wie weibliche Genitalverstümmelung und Zwangsehen geht, und sie ist die drittschlimmste Stadt, wenn gefragt wird, wo Frauen von sexueller Belästigung und Gewalt bedroht sind.“

Nach einer Studie der Vereinten Nationen von 2013 wurden 99,3 Prozent der Ägypterinnen schon einmal gegen ihren Willen von Männern angefasst oder haben verbale sexuelle Belästigung erlebt (erst 2014 wurde das in Ägypten überhaupt zu einem Straftatbestand erklärt). Laut der Studie ereignen sich die meisten Fälle von sexueller Nötigung in Ägypten im öffentlichen Raum; auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder in Einkaufszentren. Nur ein Prozent der Opfer gab an, die Tat bei der Polizei angezeigt zu haben.

Weltweit Schlagzeilen machte 2011 der Fall der amerikanischen Fernsehkorrespondentin Lara Logan, die, während sie für den Fernsehsender CBS vom Tahrir-Platz in Kairo berichtete, von einem riesigen Mob von Männern umringt wurde, die ihr die Kleider vom Leib rissen und sie über 25 Minuten vergewaltigten, während ihr Dolmetscher vergeblich um Hilfe schrie.

„Ich habe keinen Zweifel daran, dass ich eine von vielen Frauen war, die in dieser Nacht auf dem Tahrir-Platz vergewaltigt und sexuell angegriffen wurden, und dass die meisten dieser Opfer Ägypterinnen waren und diese Angriffe weltweit keine Schlagzeilen machten“, schrieb Lara Logan in einem am Donnerstag dieser Woche auf Newsweek veröffentlichten Beitrag.

Logan, die heute Moderatorin beim Nachrichtensender Fox News ist, sagt, es erfülle sie mit „Hoffnung“, „dass die Frauen Ägyptens für ihre eigene ‚Me Too’-Bewegung in die sozialen Medien gegangen sind, über ihre Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen gesprochen haben und online zusammengekommen sind, um sich gegenseitig zu unterstützen“.

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