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Die Nase des Leonard Bernstein

Der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein
Der Dirigent und Komponist Leonard Bernstein (© Imago Images / Jürgen Ritter)

Die Verfilmung von Leonard Bernsteins Leben ist bereits vor der Veröffentlichung in Kritik geraten: Die Nase des Hauptdarstellers sei zu groß, und jüdisch sei er auch nicht.

Wir leben in spannenden Zeiten, sagt man, und in China sei das angeblich ein Fluch. Stimmt, die Zeiten sind spannend, gefährlich, herausfordernd. Auf so vielen Ebenen. Und dennoch scheint mir, es sind zugleich die lächerlichsten Zeiten, an die ich mich erinnern kann. Was vor allem an der Aufgeregtheit liegt, mit der identitätspolitische Debatten in den Social Media geführt werden. Also lassen Sie uns einmal über eine Nase reden, und zwar über eine ganz bestimmte Nase, nämlich jene des Komponisten Leonard Bernstein. Genauer gesagt um die Nase von Bradley Cooper, der Bernstein im Biopic Maestro verkörpert, das demnächst beim Filmfestival von Venedig Premiere feiert und ab 20. Dezember auf Netflix zu sehen sein wird.

Coopers Nase wurde als zu klein empfunden, um den Komponisten darzustellen, der als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer in New York auf die Welt kam. Also trägt er im Film eine Nasenprothese. Woraufhin prompt eine Diskussion entbrannte, ob er mit der großen Nase nicht ein antisemitisches Klischee bedienen würde. Und überhaupt: Bernstein war Jude, darf ein Nicht-Jude den überhaupt darstellen?

Eine schöne, große Nase

Ich erspare Ihnen an dieser Stelle lange Ausführungen über die unzähligen antisemitischen Karikaturen, in denen Juden mit übertrieben langen Nasen dargestellt werden. Sie kennen das alles, und ich auch. Hier geht es um etwas anderes: Coopers Nasenprothese dient nicht dazu, Bernstein als Juden kenntlich zu machen, sondern Ähnlichkeit zwischen dem Schauspieler und dem dargestellten Charakter herzustellen. Bernstein hatte nämlich tatsächlich eine »schöne, große Nase«, wie seine Kinder bestätigen. Ob Coopers Maske mehr oder weniger gut gelungen ist, mögen Publikum und Filmkritiker beurteilen, antisemitisch ist sie jedenfalls nicht.

Verkleidung gehört zum Schauspiel wie das Salz in die Eierspeis. Alljährlich werden die besten Maskenbildner mit einem Oscar für »Bestes Make-up und beste Frisuren« geehrt. Den gewannen heuer Annemarie Bradley, Judy Chin und Adrien Morot für The Whale. Brendan Fraser spielt darin einen 300 Kilo schweren Literaturprofessor. Für seine Darstellung wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet. Um im Sinne des Wortes in die Rolle schlüpfen zu können, verbrachte Fraser bis zu sechs Stunden täglich in der Maske. Würde ernsthaft jemand behaupten, es handle sich bei dem Film um »Body Shaming«?

Identitätspolitische Exzesse

Noch absurder als die Nasendiskussion ist der Einwand, Juden sollten nur von Juden dargestellt werden. Schauspieler heißen Schauspieler, weil sie nicht sich selbst, sondern andere spielen. Wer jetzt an Hans Moser denkt, hat Recht, aber jede Regel kennt nun einmal Ausnahmen (Zwinkersmiley). Die Idee, nur Juden dürften Juden darstellen, ist der identitätspolitische Exzess eines ursprünglich richtigen Perspektivenwechsels.

In den vor allem im 19. Jahrhundert populären Blackface Minstrelsies stellten weiße Schauspieler mit dunkel gefärbter Haut und aufgemalten, betont wulstigen Lippen Stereotype von stumpfsinnigen Schwarzen dar – zur Belustigung des weißen Publikums. »Blackface« besteht demnach aus zwei Elementen: Erstens der Darstellung Schwarzer durch Weiße und zweitens aus dem Zweck des Unterfangens, nämlich der Herabwürdigung einer Minderheit. Was zweifellos rassistisch und daher heute zurecht verpönt ist.

Das zweite Element wird heute zumeist ausgeblendet. Doch wenn Verdis Otello mit einem Weißen besetzt wird, geschieht das nicht, um Schwarze zu diskriminieren. Es ist einfach eine der »schwersten Rollen der gesamten Operngeschichte«, wie Edwin Baumgartner in den Opern News schreibt. Selbst Plácido Domingo hätte sie live nur an seinen besten Abenden bewältigt. Müsste man Stücke wie Porgy and Bess, Otello, Madama Butterfly oder Aida politisch korrekt besetzen, könnten sie in Europa schlichtweg nicht mehr aufgeführt werden.

Zuletzt traf der identitätspolitische Furor die wunderbare Helen Mirren. Mirren spielt in Golda die legendäre israelische Ministerpräsidentin Golda Meir. Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber ich bin sicher, sie ist auch in dieser Rolle großartig. Und genau darum geht es doch in der Kunst der Schauspielerei, um Exzellenz, um Einfühlungsvermögen ins Fremde und um überzeugende Darstellung, nicht um die Herkunft des Schauspielers.

Die West Side Story

Die Aufregung um Maestro entbehrt nicht einer komischen Note. Schließlich war die Entstehung von Bernsteins berühmtesten Werk, der West Side Story, nach heutigen Maßstäben alles andere als politisch korrekt. »Kulturelle Aneignung de luxe würde heute wohl etwas reflexartig der Vorwurf lauten«, stellt die Jüdische Allgemeine in einer Kritik von Steven Spielbergs Neuverfilmung treffend fest: Es waren ausgerechnet drei weiße, homo- oder bisexuelle jüdische Männer (Bernstein, Texter Stephen Sondheim und Drehbuchautor Arthur Laurents), die Shakespeares Drama über Romeo und Julia in die Slums von New York verlegten, wo sie zwei Jugendgangs, die puerto-ricanischen Sharks und die einheimischen Jets, ihre Revierkämpfe ausfechten ließen.

Und so schließe ich mich dem bereits zitierten Edwin Baumgartner an: »Kunst und Moral vertragen sich nicht. Die Moral hat wenig bleibende Kunstwerke geschaffen, die Kunst aber ihre eigene ethische Gesetzmäßigkeit.«

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