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Ein beunruhigender Trend: Ansteigende Selbstmordraten im Iran

Armut und Verzweiflung lassen Selbstmordraten im Iran steigen
Armut und Verzweiflung lassen Selbstmordraten im Iran steigen (© Imago Images / Le Pictorium)

Der Anstieg der Suizide unter iranischen Jugendlichen und Studenten und die Frage nach der Reaktion der Behörden ist zu einem drängenden sozialen Problem geworden.

Farzad Amini

Der besorgniserregende Trend der steigenden Selbstmordrate beunruhigt nicht nur die einheimische Gesellschaft, sondern wirft auch international Fragen über den Zustand von Bildung, Erziehung und Kultur in der iranischen Gesellschaft auf.

So hat die Selbsttötungsrate im Iran in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, insbesondere von 2016 bis 2020, dem Internationalen Jahr des Friedens. In diesem Zeitraum wurde eine erschreckende Steigerung von etwa 51 Prozent beobachtet. Allein im Jahr 2020 starben mehr als sechstausend Menschen, was einer Rate von 7,4 Selbstmorden pro 100.000 Einwohner entspricht, womit der alarmierende Trend den bisherigen Höhepunkt aus den Jahren 1997 und 1998 überflügelte, als die Raten auf 6,2 pro 100.000 Menschen anstiegen. Die niedrigsten Raten wurden hingegen in den Jahren 2004 und 2007 verzeichnet, als die Selbsttötungszahlen auf 4,2 pro 100.000 Menschen zurückgingen.

Hinzu kommen auf jeden »erfolgreichen« Suizid etwa zwanzig bis dreißig Selbstmordversuche, sodass allein im vergangenen Jahr rund 120.000 Selbstmordversuche offiziell im System des Gesundheitsministeriums registriert wurden. Dabei gilt zu beachten, dass die Dunkelziffer weit höher liegen und es noch weitere Fälle geben könnte, die von privaten Einrichtungen behandelt werden und damit offiziell nicht dokumentiert sind.

Gefahr der Nachahmung

Die steigenden Suizidzahlen unter Schülern und Jugendlichen entwickelt sich rasch zu einer der größten sozialen Herausforderungen für die Gesellschaft. Viele Soziologen sind der Meinung, der am meisten beunruhigende Aspekt von Selbstmorden liege in dem Potenzial der Nachahmung, die sich durch eine Art des sozialen Lernens verbreitet, ähnlich wie bei einer Ansteckung.

Ein entscheidender Faktor, der die Selbstmorde in dieser Bevölkerungsgruppe begünstigt, ist dann auch seine Normalisierung im gesellschaftlichen Diskurs. Wenn Menschen in Not sind, können sie Suizid als eine realistische Option ansehen, insbesondere, wenn sie ständig beobachten müssen, wie andere ihn begehen. Durch diese »Normalisierung« wird nicht nur der Kreislauf des suizidalen Verhaltens aufrechterhalten, sondern auch ein Umfeld geschaffen, in dem Präventivmaßnahmen häufig außer Acht gelassen werden. Familien und Gemeinschaften, die mit Selbstmord zu kämpfen haben, verfügen möglicherweise nicht über angemessene Unterstützungsstrukturen oder Interventionsstrategien, was das Risiko eines Rückfalls weiter erhöht.

Zahlreiche Faktoren tragen zum Anstieg der Selbstmordrate unter Schülern bei, wobei wirtschaftliche Instabilität, sozialer und psychologischer Druck und ein Mangel an Bewältigungsmechanismen für die Herausforderungen des Lebens zu den wichtigsten Faktoren gehören. Darüber hinaus verschärft das Fehlen einer soliden Unterstützung durch Behörden und Bildungseinrichtungen das Problem. Und auch kulturelle Normen und gesellschaftliche Dynamiken haben einen erheblichen Einfluss auf die Einstellung zu Suizid und psychischer Gesundheit und prägen die Wahrnehmung des Einzelnen und seine Reaktionen auf Notlagen.

Fehlende Prävention

Einer der Kritikpunkte am Regime ist das Fehlen wirksamer wissenschaftlicher Programme zur Selbstmordprävention. Weitere Kritikpunkte sind das Fehlen exakter und offizieller Daten über Selbsttötungsraten, die Zunahme von Suiziden und damit zusammenhängende Faktoren sowie die Missachtung der wissenschaftlichen Forschung auf diesem Gebiet.

Universitätsprofessoren und Fachleute für Verhaltens- und Sozialwissenschaften müssen dringend wissenschaftliche Forschung in diesem Bereich betreiben, um Risiko- und Schutzfaktoren für die sich häufenden Selbsttötungen von Jugendlichen während ihrer Schulzeit zu ermitteln und wirksame Präventionsprogramme durchzuführen. Die Veröffentlichung genauer und realer Daten ist ebenfalls unerlässlich, damit Beamte und Entscheidungsträger geeignete Strategien zur Bewältigung dieses Problems umsetzen können.

Darüber hinaus wird Kritik an ideologischen Ansätzen und politischen Einflussnahmen im Bildungswesen geäußert. Ideologische Ansätze wie die Einbindung von Klerikern in die Schulen, Änderungen in den Lehrbüchern und strukturelle Veränderungen im Bildungsumfeld können sich negativ auf das psychische Wohlbefinden der Schüler auswirken und zu einer Zunahme der Selbsttötungen unter ihnen beitragen. So kann beispielsweise die Konzentration auf religiöse und ideologische Erziehung in den Schulen anstatt der Konzentration auf die Entwicklung der Fähigkeiten und des Charakters der Schüler negative Emotionen wie Stress und Ängste verstärken, was wiederum zu Selbsttötungen führen kann.

Schließlich wird kritisiert, dass Regime-Funktionäre und Bildungseinrichtungen insgesamt keine wirksamen und ernsthaften Maßnahmen ergriffen haben, um das Problem anzugehen. Das Ignorieren der wirklichen Bedürfnisse und Schwierigkeiten der Schüler, die Missachtung von gesellschaftlicher Kritik und von Alternativvorschlägen sowie das Versäumnis, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, behindern den Fortschritt und die Lösung sozialer und gesundheitlicher Probleme.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die steigende Selbsttötungsrate unter iranischen Schülern ein massives Problem ist, das dringend und ernsthaft die Aufmerksamkeit und Maßnahmen von Behörden und Gesellschaft erfordert. Um diese Krise im Bildungswesen zu überwinden, muss spezielles Fachwissen in den Bereichen Psychologie und Beratung Anwendung finden. Nur durch rechtzeitige Identifizierung von gefährdeten Schülern können Maßnahmen der Sozialarbeit diese Krise wirksam abfedern. Dies kann nur erreicht werden, indem das Bewusstsein und das Wissen der Beamten im Unterrichtswesen über aktuelle Themen im Bereich der Bildung und der Erziehungswissenschaften verbessert werden.

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