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Israel: Überleben im Raketenhagel

Bewohner von Tel Aviv suchen Schutz vor einem Raketenangriff aus Gaza
Bewohner von Tel Aviv suchen Schutz vor einem Raketenangriff aus Gaza (© Imago Images / Xinhua)

Der jüngste Raketenterror der Hamas gegen Israel hat vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass jeder Israeli Zugang zu einem sicheren Ort hat. Seit 15 Jahren sammeln Juden und Christen in aller Welt Spenden für Schutzräume in Israel: Operation Lifeshield, unterstützt von der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ).

Stefan Frank sprach über das Projekt und den Alltag im Raketenhagel mit Rabbi Shmuel Bowman, dem Vorsitzenden von Operation Lifeshield. In Kanada geboren, machte Bowman 1993 die Aliyah nach Israel und lebt heute in Efrat, einem Vorort von Jerusalem. Er ist verheiratet, hat fünf Kinder und ist Torahschreiber und lizenzierter Reiseleiter. Das Gespräch wurde am 27. Mai 2021 auf Englisch über Zoom geführt.

Stefan Frank (SF): Mussten Sie letzte Woche in einen Raketenschutzraum?

Shmuel Bowman (SB): Ja, musste ich. Viele Menschen in Israel haben sich in Schutzräume geflüchtet, die nie damit gerechnet hatten, dass das einmal nötig werden würde, darunter auch ich. Wir leben im Raum Jerusalem. Zuerst hatten wir die Sirene gar nicht gehört. Das Erste, was wir hörten, waren die Explosionen.

Wir hörten drei Raketen explodieren – und das, obwohl wir in der Wohnung waren, die Fenster geschlossen waren und der Fernseher lief. Wir hörten: „Bumm, bumm, bumm.“ Sehr, sehr laut, obwohl doch ziemlich weit entfernt. Ich sehe meine Tochter an: Was geht da vor sich? Und erst danach hörten wir die Sirenen. Und dann sind wir in den Schutzraum gelaufen. Wir haben einen Bombenbunker in unserem Haus.

SF: Sie können also die Geräusche eines Raketeneinschlags von den Abfangraketen des Raketenabwehrsystems Iron Dome unterscheiden?

SB: Das war nicht Iron Dome. Es war das Geräusch einer Rakete, die auf dem Boden aufschlägt und explodiert. Durch meine berufliche Arbeit und Erfahrung kenne ich den Unterschied. Eine Abfangrakete von Iron Dome ist ein anderes Geräusch. Eines, das von oben herunter kommt. Dieser Knall hingegen war auf der gleichen Ebene, was – für mich, mit meiner Erfahrung – anzeigte, dass eine Rakete den Boden getroffen hatte.

SF: Haben Sie später herausgefunden, wo genau die Raketen eingeschlagen hatten und ob es Schäden gab?

SB: Wir hörten hinterher, dass sie die niederen Hügelgebiete der Umgebung von Jerusalem getroffen hatten, die Gegend von Beit Schemesch. Es war weit genug von uns weg, wahrscheinlich 20 Kilometer. Nach dem, was ich weiß, wurde kein Wohngebiet getroffen. Es war aber sehr, sehr nah.

SF: Sie meinen: Ihrer Wahrnehmung nach war es sehr nah, obschon 20 Kilometer entfernt?

SB: Genau. Es war laut. Es war so laut, dass es sich anhörte, als wäre es ganz nah.

SF: Bitte beschreiben Sie die Flucht in den Schutzraum. Hat man ein Köfferchen mit wichtigen Dokumenten bei sich? Oder rennt man, ohne etwas zu nehmen?

SB: Es gibt wirklich keine Zeit, irgendetwas mitzunehmen. Wir leben in einem Gebiet, wo man etwa 45 bis 60 Sekunden Zeit hat, sich in Sicherheit zu bringen, nachdem die Sirene ertönt ist. Aber wie ich erwähnte, habe ich die Sirene für die ersten drei Raketen nicht einmal gehört. 45 bis 60 Sekunden sind viel mehr, als unsere Freunde im Süden Israels haben, die haben nur zwischen fünf und 20 Sekunden.

Trotzdem hast du keine Zeit für irgendetwas anderes, als dich und deine Kinder in einen Schutzraum zu bringen. An Dokumente oder an Lebensmittel ist nicht zu denken. Du planst ja auch nicht, lange dort zu bleiben. Die Idee ist, dass du, wenn alles gut läuft, kurz nach Ende des Raketenbeschusses wieder raus kannst. Das Heimatfrontkommando sagt, man soll nach der letzten Sirene noch 15 Minuten warten, dann kann man raus. Du bist darin also nicht für eine lange Zeit, nur, um deinen Körper zu schützen.

Traumatische Erfahrungen

SF: Was tun Leute, die viele kleine Kinder haben und sie nicht alle tragen können? Wenn ich mir vorstelle, ich müsste drei oder vier Kinder zum Schutzraum bringen – das wäre mir unmöglich, selbst wenn ich eine ganze Minute Zeit hätte.

SB: Das ist richtig. Es ist eine der Fragen, mit denen man als Elternteil niemals zu tun haben will. Wahrscheinlich sind deine Kinder nicht einmal alle im selben Raum, wenn die Sirene ertönt. Und selbst wenn: Ein Kind spielt mit Lego, das andere an seinem Computer – deine Kinder sind mit unterschiedlichen Dingen beschäftigt. Du hast nur ein paar Sekunden, und du kannst sie nicht alle packen. Denn du weißt, wenn du versuchst, alle zu nehmen, wird keiner von euch überleben.

Also bist du mit der schwierigsten Frage konfrontiert, die sich Eltern stellen können: Welches meiner Kinder bringe ich in Sicherheit? Und das wird zu einer Frage, die, wie wir wissen, bei Eltern später zu Traumata führt: Wie konnte ich diese Entscheidung nur treffen? Wie konnte ich nur meine Tochter zurücklassen, wie konnte ich nur den einen Sohn wählen anstelle des anderen? Wir wissen von vielen Eltern, die später ein Trauma haben aufgrund der Situation, in die sie versetzt wurden. Sie hatten eine solche Entscheidung zu fällen.

Wir in Jerusalem haben eigentlich noch viel Zeit, 45 oder 60 Sekunden. Aber wenn du in Sderot bist, hast du nur 15 bis 30 Sekunden. Und man darf nicht vergessen: Die ersten Sekunden benötigt das Gehirn, um herauszufinden: Was hast du gerade gehört? Dafür braucht es einige Sekunden. Bis du weißt: „Oh, das ist eine Sirene!“ sind schon einige Sekunden verstrichen.

Dir bleibt nicht viel Zeit. Wenn du mehrere Kinder hast und sie nicht buchstäblich zusammengeklebt sind, dann bist du in der unmöglichen Situation, wo du eines statt des anderen wählen musst. Das ist sehr schwierig und schmerzhaft.

SF: Ich stelle mir vor, dass man, sobald man im Bunker angekommen ist, sich fragt, was die anderen Kinder nun machen. Weinen sie? Rennen sie auf die Straße und werden von einem Auto überfahren. Das ist…

SB: …sehr aufreibend, sehr problematisch, ja. Und ja, es gab da ein israelisches Mädchen, das von einem Auto überfahren wurde, weil es verwirrt war und nach einem Schutzraum suchte. Es war in Panik und sah den Schutzraum auf der anderen Straßenseite. Deine ganze Sorge in solch einem Moment ist: Ich muss mich schützen. Denn wir haben die Bilder gesehen. Wir haben gesehen, was passiert. Wir haben Kinder gesehen, die von einem Schrapnell buchstäblich entzweigeschnitten wurden.

Daniel Tragerman, ein sechsjähriger Junge. Er wurde buchstäblich an der Hüfte entzweigeschnitten. Wir haben die Geschichten gehört, du bist also in absoluter Panik. Du musst in einen Schutzraum. In dieser Situation hat das Mädchen nicht an die Straße und die Autos gedacht, es ist einfach gerannt, und dann wurde es von einem Auto überfahren. Das also sind die Umstände, die aus dem Zustand absoluter Panik resultieren.

Was die Eltern denken? Sie denken: „Hoffentlich sind die anderen Kinder okay.“ Es gibt Situationen, wo Eltern den Schutzraum verlassen und sich selbst in Gefahr bringen. Wir wissen von Geschichten über Eltern und auch ältere Geschwister, die buchstäblich exponiert waren, ohne Schutzraum weit und breit, und ihre Kinder oder jüngeren Geschwister mit ihren Körpern bedeckt haben, also innerhalb von Sekunden die Entscheidung trafen: Ich bin bereit, getötet zu werden, um mein Kind bzw. mein jüngeres Geschwisterkind zu schützen.

Das sind die Geschichten, die mir erzählt werden. Und man darf sich nicht vorstellen, dass man so etwas einfach von sich abschüttelt und dann mit seinem Leben weitermacht. Danach geht man zur Therapie. Man muss dann einen Weg finden, mit dem zu leben, was gerade passiert ist.

Von klein auf

SF: Versuchen Eltern, ihre Kinder irgendwie vorzubereiten? Etwa, indem sie sagen: „Es könnte einen Raketenalarm geben und wir sind dann vielleicht gezwungen, dich allein zu Hause zu lassen…“?

SB: Ja, genau. Sie sind aus Europa und ich bin ursprünglich aus Kanada. Wir haben beide als Schulkinder gelernt, wie man im Brandfall das Klassenzimmer verlässt. Der Lehrer reiht alle auf und sagt: Rennt nicht, aber beeilt euch, bewegt euch geordnet. Wir sind alle damit aufgewachsen, richtig? So ist das auch in Israel, nur heißt es hier: Was passiert bei einem Raketenangriff? Es ist nicht die Frage, ob es einen Raketenangriff gibt, sondern nur wann.

Wenn es einen Raketenangriff gibt, muss man das Klassenzimmer oder das Haus so und so verlassen, lernen die Schüler. Wie findest du Deckung, wenn du in einem Park bist? Jedes Kind weiß, dass man sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden wirft und mit den Händen die verletzlichste Stelle schützt, den Kopf. Denn wenn du auf dem Boden liegst, schützt der Boden deine lebenswichtigen Organe im mittleren Teil des Körpers. Nun muss ich noch meinen Kopf schützen, weil darin mein Gehirn ist.

Die zugrunde liegende Annahme ist, dass ich meine Hände verlieren werde, auch einen Teil meines Rückens. Dies sind Entscheidungen, die verstanden werden, denn du weißt, wenn du dein Gehirn und deine lebenswichtigen Organe behältst, dann wirst du leben. Du hast dann vielleicht keine Hände oder Füße mehr, aber immerhin bist du am Leben. Das sind Dinge, die Kinder verstehen müssen.

Wenn du nicht in einen Schutzraum gehen kannst, dann kauere dich gegen eine Wand und mach dich klein. Und wenn keine Wand da ist, geh zu einem Bordstein. Wenn kein Bordstein da ist, mach das und das. Es gibt also verschiedene Stufen. Idealerweise geht man in einen Schutzraum, an einen sicheren Ort. Doch wenn es keinen sicheren Ort gibt, darf man auf keinen Fall ins Badezimmer gehen, weil dort ein Spiegel und Kacheln sind, die werden explodieren und können dich töten. Der sicherste Ort in einem Gebäude, wenn es keinen Schutzraum gibt, ist das Treppenhaus.

Das sind Dinge, die Kinder in ganz frühem Alter lernen. Es gibt eine wöchentliche Übung, einen Drill, bei dem geprobt wird, was bei einem Raketenangriff zu tun ist.

SF: Gibt es eine Möglichkeit, die Kinder emotional vorzubereiten?

SB: Ja, das wird den Kindern vom Kindergartenalter an – also ab etwa drei Jahren – beigebracht. Etwa Lieder, die man singen kann. Darin heißt es dann, dass alles gut wird, dass es einen großen Knall gibt, dass es laut ist, aber alles gut wird. Die Kinder haben also Lieder, die sie sich selbst vorsingen können, wenn sie Angst haben. Die Liedtexte enthalten auch die Schritte selbst: Ich muss aufstehen, ich muss rasch zum Schutzraum gehen.

Das sind Lieder – auf Hebräisch –, die die Kinder von frühester Kindheit an lernen, damit sie auf sichere Weise zum Schutzraum gelangen. Man darf nicht vergessen, dass viele Verletzungen passieren, wenn Menschen zum Schutzraum rennen, wie etwa im Fall des Mädchens, das vom Auto überfahren wurde. Andere Leute stolpern. Ältere Leute bekommen einen Herzinfarkt. Somit ist alles, was wir tun können, um Stress zu mindern und möglichst reibungslos zum Schutzraum zu gelangen, eine Priorität, etwas, das man Menschen von klein auf beibringt.

Verschiedenste Reaktionen

SF: Bitte beschreiben Sie Ihre eigene Erfahrung im Schutzraum. Waren da noch andere Leute?

SB: Wir haben einen Schutzraum in unserer Wohnung, also war dort niemand außer meiner Frau, meiner Tochter und mir. Wir standen aber in Kontakt zu unserem Sohn in Sderot, einer Stadt direkt hinter der Grenze von Gaza. Sie haben einen Schutzraum in ihrem Haus, aber nicht jeder bleibt immer in seiner Wohnung.

Mein Sohn war an einem Tag gerade draußen mit Freunden unterwegs und dann mussten sie mit Tausenden anderen Leuten zusammen innerhalb von Sekunden in den Schutzraum rennen. Einmal war mein Sohn mit einer Frau unterwegs, die körperlich behindert ist und einen Rollator hat. Als die Sirene losging, war ihm klar, dass sie es nicht rechtzeitig zum Schutzraum schaffen würden. Und so blieb er bei ihr, wo sie gerade waren, exponiert, und sie legten sich beide auf den Boden. Das sind Situationen, die es immer wieder gibt.

SF: Wissen Sie, wie andere Menschen die Situation in öffentlichen Schutzräumen erleben? Ist es dort still oder unterhalten sich die Leute oder versuchen, sich abzulenken?

SB: Das Interessante ist, dass wir alle unterschiedlich reagieren. Wenn Sie in einem Schutzraum sind, sehen Sie einen Querschnitt verschiedener Reaktionen. Sie sehen dann jemanden, der in Panik ist; Sie sehen jemanden, der Anzeichen eines Schocks zeigt.

Ein klinischer Schock ist, wenn die inneren Organe anfangen, herunterzufahren. Sie sehen dann, wie jemand plötzlich ganz still wird, einen starren Blick bekommt und vielleicht etwas fallen lässt, das er in der Hand hielt. Er ist vielleicht nicht in der Lage, zusammenhängend zu sprechen. Das also ist der Beginn eines klinischen Schocks, den manche Menschen erleiden.

Andere schreien und weinen vor Aufregung. Andere versuchen, eher eine Führungsrolle zu übernehmen, etwa, indem sie sagen: „Hört zu, Leute, alles wird gut“; sie versuchen, die anderen zu beruhigen und zu verhindern, dass jemand aus dem Schutzraum nach draußen rennt, um nach anderen zu suchen. Das ist also diese Art von Reaktion. Dann werden Sie Leute sehen, die versuchen, Techniken der Stressbewältigung zu nutzen, die sie in der Schule oder von ihrem Umfeld gelernt haben, wie das Singen, das ich erwähnt habe.

Manchmal reagieren Menschen auf Angst, indem sie lachen. Sie werden also Leute sehen, die lachen und Witze reißen. Das ist eine Reaktion auf Furcht, manche machen das. Sie sehen also wirklich einen Querschnitt von Reaktionen, es gibt keine einheitliche Reaktion. Dies verstärkt die Atmosphäre der Konfusion.

SF: Es gibt eine Redensart, die lautet: „In den Schützengräben gibt es keine Atheisten.“ Haben Sie das beobachtet, dass auch sehr säkulare Menschen im Bunker anfangen zu beten?

SB: Oh ja, absolut. Menschen wenden sich dem Gebet zu, beten um Trost, sie wenden sich Liedern zu, verschiedenen Gebeten. Besonders, wie Sie sagen, jemand, der nicht notwendigerweise religiös ist und an dem Punkt anlangt, wo er sagt: Ich bin für alles offen und Gebete bieten Trost und Kraft.

Religiöse Menschen beten natürlich ohnehin, das ist ihre Art, mit der Situation umzugehen: Gott anrufen und Worte des Trostes und der Stärkung beten. Aber auch Säkulare wenden sich dem sofort zu, rezitieren Worte der Bibel, Psalmen, Gebete um Trost und Hoffnung. Man kann es so ausdrücken: Es ist wahrscheinlicher, dass jemand Psalmen aus der Bibel rezitiert als einen Song der Beatles (lacht).

SF: Haben Sie beobachtet, dass Menschen versuchen, den Stress zu bewältigen, indem sie Drogen nehmen – sei es Alkohol, andere Freizeitdrogen oder Arzneien, die ihnen ein Arzt verschrieben hat?

SB: Ja, klar. Es gibt selbstverständlich Leute, die verschiedene Arten der Stressbewältigung nutzen. Sie wenden sich also vielleicht Marihuana zu, das sehr leicht zu bekommen ist – nicht, um zu einem Süchtigen zu werden oder es zu ihrer Lifestyledroge zu machen, sondern zur Beruhigung. Andere nehmen vielleicht Beruhigungsmittel, entweder natürliche Substanzen oder etwas Verschreibungspflichtiges. Jemand sagt dann vielleicht: „Ich habe vom Arzt ein Medikament gegen meine Angst bekommen, wollen Sie auch eine Pille?“ Und natürlich gibt es das Glas Wein.

Kürzlich unterhielt ich mich mit einer Psychologin. Sie war im Haus ihrer Nachbarin, als die Sirene losging. Sie rannten in einen Bombenbunker und ihre Nachbarin war wirklich, wirklich gut, was das Zubereiten von Cocktails angeht. Also fingen sie an, Cocktails zu trinken (lacht). Das war sehr lustig, weil die Psychologin für die Hotline zuständig war, bei der Leute anrufen, wenn sie gestresst sind. Sie beantwortete die Telefonanrufe und war, sagen wir: etwas angeheitert. Vielleicht war das hilfreich. Sie war viel weniger gestresst, weil ihre Freundin so gute Cocktails macht.

Zu wenige Schutzräume

SF: In Israel gibt es verschiedene religiöse und ethnische Gemeinschaften: Juden, Muslime, Christen und viele andere. Sind sie alle in den gleichen Schutzräumen?

SB: Ja, die Schutzräume sind nicht nach Konfession oder sonst wie getrennt. Raketen machen keinen Unterschied zwischen einem Juden, Moslem oder Christen. Raketen sind völlig unterschiedslos. In der Folge verletzen oder töten sie Menschen ohne Ansehen der Nationalität oder des Glaubens. Wenn man also in einem Gebiet mit verschiedenen Religionen ist, dann treffen sich die Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen alle im Schutzraum, was auch immer ihr Glaube ist.

SF: In Deutschland glauben viele, dass jeder Israeli Zugang zu einem Schutzraum habe. Aber das stimmt nicht, oder?

SB: Nein. Etwa 25 Prozent der Israelis haben keinen Schutzraum in ihrem Haus. Das ist eine ziemlich große Zahl. Was die öffentlichen Schutzräume betrifft, hängt es von der Region ab. In Gegenden in Südisrael wie in Sderot gibt es viele öffentliche Schutzräume. Aber andernorts, wo es keine lange Geschichte von Raketenangriffen gibt, gibt es vielleicht nur wenige öffentliche Schutzräume, wenn überhaupt.

SF: Gibt es eine Verpflichtung des Staates, öffentliche Schutzräume zu errichten?

SB: Nur wer in einem Umkreis von 7 km zur Gaza-Grenze wohnt, kann einen vollständig vom Staat finanzierten Schutzraum bekommen. Sieben Kilometer sind so gut wie nichts. Das bedeutet, dass Städte wie Aschkelon, Aschdod und Beer Sheva und viele Gemeinden, die nur sieben Kilometer und einen Zentimeter von Gaza entfernt sind, sich nicht dafür qualifizieren.

Denken Sie an die Standard-Grad-Rakete, die von Gaza gefeuert wird – ich rede nicht von den Raketen, die Tel Aviv oder Jerusalem treffen. Sie haben 800 Raketen auf die Region Eshkol in der Nähe von Gaza gefeuert. In einem Umkreis von 40 km leben eine Million Israelis, und die meisten von ihnen sind weiter als 7 km von Gaza entfernt, ein privater Schutzraum wird ihnen also nicht vollständig vom Staat bezahlt.

SF: Was ist mit öffentlichen Schutzräumen? Gibt es eine Pflicht des Staates, die bereitzustellen?

SB: Es gibt keine gesetzliche Pflicht, nur eine moralische, weil sie Sorge um die Bürger haben, die dort leben. Im Allgemeinen findet man Schutzräume an Bushaltestellen. Es gibt das Gefühl: „Wir setzen hier eine Bushaltestelle hin und stellen öffentlichen Personenverkehr bereit, also wird jemand hier stehen, wenn die Sirenen losgehen, da sollten wir wohl besser was machen.“ Aber es gibt keinen Schutzraum an jeder Bushaltestelle und kein Gesetz, wonach es einen geben muss.

SF: Das bedeutet also, dass für viele Israelis die Entfernung zum nächsten Schutzraum so groß ist, dass es gar keinen Sinn hat zu versuchen, dorthin zu kommen?

SB: Richtig. Man muss eine kalkulierte Entscheidung treffen: Kann ich den Schutzraum rechtzeitig erreichen? Manchmal ist die Entscheidung eine logische: Du weißt, wie schnell du rennen kannst und kannst die Entfernung abschätzen. Es gibt keine Hindernisse. Was auch immer die Berechnung sein mag, du entscheidest, ob du dort rechtzeitig ankommen kannst.

Nun sind aber viele Leute in Panik und treffen keine logischen Entscheidungen. Es gibt also Leute, die das Gefühl haben, rechtzeitig zum Schutzraum kommen zu können; es gibt aber vielleicht ältere Menschen, die rennen und sich überanstrengen und einen Herzinfarkt erleiden. Oder jemand stolpert und bricht sich das Bein. Nun kann er wirklich nicht mehr dort hinkommen. Oder jemand überschätzt sich, denkt, er könnte es zum Schutzraum schaffen, aber exponiert sich, während er dort, wo er vorher war, vielleicht hätte versuchen können, so gut es geht Schutz zu finden – etwa, indem er sich gegen eine Mauer drückt.

Dies sind Situationen, wo Menschen keine logischen, berechneten Entscheidungen treffen, üblicherweise deshalb, weil sie in Panik sind.

Operation Lifeshield

SF: Es gibt also nicht genug Schutzräume, und hier kommt Operation Lifeshield ins Spiel. Bitte erzählen Sie darüber.

SB: Operation Lifeshield wurde von ganz normalen Leuten gegründet, Israelis und Amerikanern, die gesehen haben, was 2006 während des zweiten Libanonkriegs passierte. Wir beobachteten, dass die Raketenangriffe 2006 so zahlreich waren, dass viele Leute nicht in die Untergrundschutzräume gegangen sind. Der Krieg dauerte 34 Tage. So lange wollten die Leute nicht im Bunker sein. Wer den Bunker verließ, riskierte sein Leben.

Tatsächlich kamen alle Zivilisten, die getötet wurden, deshalb ums Leben, weil sie den Bunker verlassen hatten. Das führte zu der Überlegung: Wenn das die Zukunft der Kriegsführung bzw. des Terrorismus ist, müssen wir einen Weg finden, wie ich in meinem Büro, mein Kind in der Schule oder dem Kindergarten, jemand im Park, der Synagoge oder Moschee oder wo auch immer dann, wenn die Sirene losgeht, alles stehen und liegen lassen und sich zu einem nahen Schutzraum begeben kann.

Dort lassen sie die Gefahr vorüberziehen und kehren dann zu ihrem Alltag zurück. Das scheint die neue Art zu sein, sich vor einem Raketenangriff zu schützen. Denn einen Monat lang unter der Erde zu bleiben, ist nicht durchzuhalten.

Zudem haben Untergrundbunker das Problem, dass sie für viele Bürger nicht zugänglich sind. Ein Teil der israelischen Bevölkerung kann keine Treppen steigen. Und dann gibt es Leute, die, wie erwähnt, Kinder auf dem Arm tragen. Treppen runter zu rennen wäre für sie gefährlich. Bis zu 50 Prozent der israelischen Bevölkerung können Untergrundbunker also nicht gut erreichen. Also kam uns die Idee der oberirdischen Bombenbunker.

Wir wandten uns an das Heimatfrontkommando der Armee und es gab uns grünes Licht. 2006 fingen wir an, oberirdische Schutzräume zu errichten, in Nordisrael und auch in der Umgebung von Gaza: in Sderot vor allem, aber auch in Kibbutzim und landwirtschaftlichen Dörfern. So fing es an. Wir sammelten Spenden von Menschen aus aller Welt, die Israel lieben und auf eine sehr greifbare Art helfen wollen.

Ich glaube, das ist vielen wichtig: Sie spenden für einen sehr starken, soliden Bau, in den Menschen gehen können, um ihr Leben zu schützen. Das ist alles. Es ist eine sehr simple und sehr langweilige (lacht) Angelegenheit.

Wir machen wirklich das, was die Spender wollen: In Israel Leben schützen – für alle Israelis, ob sie Juden, Muslime oder Christen sind, denn jeder Mensch ist nach Gottes Bild geformt, jeder Mensch ist ein heiliges Wesen, und wie ich sagte, die Raketen unterscheiden nicht, ob jemand männlich oder weiblich ist oder danach, welche Hautfarbe er hat, wie er betet, welche Nationalität er hat oder dergleichen. Das war unsere Mission.

SF: Sind die von Operation Lifeshield errichteten Schutzräume alle öffentlich?

SB: Ja. Sie sind nicht für den privaten Gebrauch. Sie sind alle für die Öffentlichkeit. Eine unserer Prioritäten sind Kinder. Wir als Erwachsene können Entscheidungen darüber treffen, wo wir hingehen: Gehe ich ins Fitnessstudio? Ins Kino? In ein Konzert? Kinder treffen keine Entscheidungen für sich. Ihre Eltern bringen sie in den Kindergarten. Vor allem also wollen wir sicherstellen, dass Kinder sehr, sehr sicher sind.

SF: Wie viele Schutzräume hat Operation Lifeshield installiert?

SB: Mehr als 500 Schutzräume in Israel, in verschiedenen Größen und für unterschiedliche Zwecke.

SF: Kümmern Sie sich nur um die Finanzierung oder auch um Vermessung, Baupläne und den eigentlichen Aufbau?

SB: Wir bestellen die Schutzräume bei den Herstellern. Wir arbeiten mit vier verschiedenen Anbietern zusammen. Wir sprechen ein Wort mit; es ist uns etwa sehr wichtig, dass alle Schutzräume barrierefrei zugänglich sind. Beleuchtung ist auch sehr wichtig. Es muss hell sein, damit die Erfahrung angenehm ist. Niemand sollte in einen Schutzraum gehen müssen, der schäbig und deprimierend ist.

Unsere Schutzräume sind in hellen Farben gehalten, oft mit Wandbildern und Malereien. Und wir achten darauf, dass die Schutzräume multiplen Zwecken dienen. Damit der Schutzraum nicht nur mit einer beängstigenden Erfahrung assoziiert ist, sondern gleichzeitig auch ein kleines Klassenzimmer sein kann oder ein Ort, wo man Dame oder Schach spielt oder sich mit einem Musiktherapeuten trifft.

Es ist uns zudem wichtig, lieber viele kleine Schutzräume zu haben als wenige große. Der Grund ist, dass ein großer Schutzraum für gewöhnlich nur einen Eingang hat, höchstens zwei. Man hat also einen Flaschenhals, der Probleme schafft, wenn plötzlich viele Menschen sich durch den Eingang quetschen. Darum also lieber mehrere kleinere. Das ist der Input, den wir den Herstellern geben.

SF: Sie arbeiten mit der Internationalen Christlichen Botschaft Jerusalem (ICEJ) zusammen. Ist diese auf Sie zugegangen?

SB: Wir haben eine Beziehung zur ICEJ seit 2007. Das sind also 15 lange Jahre. Wir sind gewissermaßen gleichzeitig auf einander zugegangen. Das war sehr interessant. Es gibt da einen Herrn, sein Name ist Earl Cox, ein christlicher Radiomoderator in South Carolina, USA. Er hatte Kontakte zur ICEJ und hat uns einander vorgestellt. Er meinte, dass es eine gute Idee sei, und wir fanden das auch.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Als orthodoxer jüdischer Rabbi habe ich Erfahrung damit, mit anderen Juden zusammenzuarbeiten. Das ist meine Expertise, vor allem hier in Israel. Es war eine so tolle, lehrreiche, die Augen öffnende Erfahrung, Christen zu treffen, die helfen und Teil eines Projekts zum Schutz von Menschenleben sein wollen. Plötzlich arbeitete ich also Hand in Hand nicht nur mit Juden, sondern auch mit Christen. Das war absolut wunderbar und der Beginn großartiger Gespräche und sehr schöner Freundschaften.

SF: Wie kann man für den Bau von Schutzräumen in Israel spenden?

SB: Am besten über unsere Website oder die ICEJ, die auf ihrer Website ebenfalls eine Kampagne für Bombenbunker hat.

Der Artikel erschien ursprünglich bei achgut.com.

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