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»Das bisschen Wind im Haar« kann uns das Leben kosten

Frauen in der Universitätsbibliothek im algerischen Oran. (© imago images/JOKER)
Frauen in der Universitätsbibliothek im algerischen Oran. (© imago images/JOKER)

Eine Replik auf Julia Neumann und ihre Gleichgesinnten, aus denen die Verachtung für die unterdrückten Frauen in muslimischen Ländern spricht.

Von Naïla Chikhi

Manchmal werden in westlichen Medien Texte veröffentlicht, die uns Frauen aus den sogenannten muslimischen Ländern aufrütteln, weil sie schlicht und einfach empörend sind.

1992 war für einige ein Jahr wie jedes andere, für andere war es ein einschneidendes Jahr. Einige, wie die deutsche freie Journalistin Julia Neumann, kamen erst zur Welt, andere mussten erleben, wie islamistische Finsternis über ihr Land und damit über ihr ganzes Leben hereinbrach – wie ich in Algerien. Ich war gerade zwölf Jahre alt.

Der Text von Julia Neumann, der am 11. August in der taz veröffentlicht wurde, verdeutlicht das Ausmaß an Ignoranz weiter Teile der jüngeren Generationen in westlichen Ländern. Gewollte oder vorgetäuschte Unkenntnis, mangelnde Differenzierung und Verzerrung historischer Tatsachen zeigen enorme Wissenslücken über Islamismus einerseits und die Geschichte der Frauenbewegungen im Westen und in der MENA-Region andererseits auf.

Der Text von Neumann wurde in den sozialen Netzwerken heftig kritisiert, auch von mir, denn er drückt nichts anderes als Verachtung der Frauen in und aus der MENA-Region aus. Die Autorin macht sich zur Lehrmeisterin über das Patriarchat, unter dem die Frauen in dieser Region leiden. Ja, eine junge weiße Frau – um ihr Vokabular zu verwenden – will uns Frauen aus und in den sogenannten muslimischen Gesellschaften und Gemeinschaften erklären, dass wir unsere Lage nicht verstanden haben. Sie aber schon! Diese Form des Paternalismus erinnert mich an Missionare, die Afrikanern und den Ureinwohnern Amerikas erklären wollten, was Zivilisation ist, indem sie die ihren auslöschten. Daher erlaube ich mir, einige Aspekte richtigzustellen.

Ein bisschen mehr Differenzierung und weniger Verwirrung

Die erste Verwechselung, die der Autorin unterläuft – und leider ist sie nicht die erste, die sich diesen Fehler leistet –, ist, dass sie zwischen Frauen aus dem Nahen Osten und Frauen aus Nordafrika nicht differenziert. Damit verkennt sie die Wurzeln und große Teile der Kulturen der nordafrikanischen Völker und ihres langjährigen und tapferen Kampfes für die Anerkennung ihrer diversen Identitäten. Wie oft muss man noch daran erinnern, dass Nordafrikaner keine Menschen aus dem Nahen Osten sind, dass sie durch unangemessene und ihnen fremde Politiken wie den Baathismus zwangsarabisiert und zweimal gewaltsam durch die mörderischen Eroberungen im 7. und im 20. Jahrhundert islamisiert wurden?

Die zweite Fehlzuschreibung besteht in dem Vergleich zwischen dem Habit der Nonnen und dem islamistischen Verhüllungsgebot. Muss man immer wieder präzisieren, dass Nonnen einem Lebensweg folgen, der durch die Doktrin der patriarchalischen Kirche definiert ist, und dass ihr Ziel nie die Emanzipation der Frau war – weder innerhalb der Kirche noch in der Gesellschaft? Muss man zum x-ten Mal erklären, dass das islamistische Kopftuch nicht die sechste Säule des Islams ist? Muss man wiederkehrend betonen, dass die Mehrheit der Frauen, die die islamistische Verhüllung tragen, es nicht freiwillig tun – abgesehen von den Soldatinnen des politischen Islams?

Der dritte Irrtum bezieht sich auf den Vergleich zwischen dem Haïk und der islamistischen Verschleierung. Zwar sind beide Kleidungsstücke Ausdruck der männlichen Kontrolle über den Körper der Frau, doch ist der Haïk eine patriarchale Tradition und nicht das Aushängeschild eines politisch-religiösen Fundamentalismus. Der Haïk wird hauptsächlich von Frauen aus der Hauptstadt Algier und nicht von allen Algerierinnen getragen.

Und wenn die Franzosen versuchten, die Frauen aus Algier zu enthüllen, enthüllten sich die Algerierinnen aus freien Stücken während ihrer Beteiligung am algerischen Befreiungskrieg und danach. Weder Hassiba Ben Bouali noch Zohra Drif oder Djemila Bouhired, Ikonen des Befreiungskriegs, waren verschleiert, bevor sie zu den Waffen griffen. Vergessen wir nicht die berühmte Amazigh-Königin Dihya, bekannt auch als die Kāhina, die sich im 7. Jahrhundert gegen die muslimischen Invasoren aus der arabischen Halbinsel stellte. Erinnern wir uns an Lala Fadhma N’soumer, die einen mit Korallen verzierten Kabylen-Kopfschmuck trug, als sie eine Armee von Männern gegen die französische Kolonialmacht anführte.

Es fängt immer mit dem Kopftuch an

Nach Ansicht der Autorin haben das Kopftuch und die Freiheit nichts miteinander zu tun. Wie erklärt sie dann, dass alle diktatorischen fundamentalistischen Strömungen immer damit beginnen, der Hälfte der Bevölkerung der Länder, über die sie herrschen, dieses sogenannte »harmlose Stück Stoff« aufzwingen, seien es die saudischen Wahhabiten, die ägyptischen Muslimbrüder, die iranischen Mullahs, die algerischen FIS und GIA, die afghanischen Taliban, die nigerianische Boko Haram, der Daesh usw.? Es fängt immer mit dem Kopftuch an!

Und sei es im Westen oder in den von Islamisten beherrschten Regionen, das Kopftuch hat immer ein und dieselbe Bedeutung: Die Kontrolle des Mannes über den Körper der Frau.

In Algerien zum Beispiel stellen die Islamisten die Frauen vor die Wahl, sich entweder zu verschleiern oder zwischen Sarg und Exil zu wählen. Was für eine Wahlfreiheit!

Weiß die Autorin, die sich mit den Themen Gender, Geschlechterrollen sowie Westasien und Nordafrika beschäftigt, nicht, dass unverschleierte Mädchen und Frauen in islamisierten Ländern als »a’aura« (nackt), »moutabaridja« (die, die sich zur Schau stellen) oder »kahba« (Hure) bezeichnet, sexuell belästigt, vergewaltigt oder ihnen gar die Kehlen durchgeschnitten werden?

Wenn Kopftuch und Freiheit nichts miteinander zu tun haben, warum haben junge Algerierinnen 2019 das Hashtag #سجينات_الحجاب_في_الجزائر (Gefangen im Kopftuch in Algerien) ins Leben gerufen?

Variiert die Definition von »Freiheit« je nach geografischer Lage? Wollen diese Neofeministinnen uns, Frauen in und aus den sogenannten muslimischen Gesellschaften, die Freiheit verweigern, die sie selbst genießen, die sie aber nicht erkämpft haben?

Der Titel von Neumanns Text lautet »Das bisschen Wind im Haar«. Selten klang ein Satz so hart in meinen Ohren und erinnerte mich an die Gewehrschüsse und Explosionen, die meine Teenagerzeit während des schwarzen Jahrzehnts Algeriens begleiteten. Sind diese unzähligen Mädchen und Frauen, die wegen »des bisschen Winds im Haar« beleidigt, angegriffen, vergewaltigt und ermordet wurden, sei es in Algerien, im Iran oder in jedem anderen zum Islamismus re-islamisierten Land, für die erlittene Gewalt selbst verantwortlich? Schämen Sie sich, Frau Neumann, denn Unterdrückung, Terror und Krieg waren nicht Ihr Alltag! Schämen Sie sich, das Andenken dieser unerschrockenen Frauen, die dem fundamentalistischen Patriarchat die Stirn geboten haben, derart zu beschmutzen! Sie haben nicht auch nur einen Funken des Mutes dieser Frauen!

Laut der Autorin fand »die Verbindung zwischen Terrorismus und Verhüllung ihren Höhepunkt in den USA mit den Anschlägen vom 11. September 2001«. Was für eine westliche Selbstbezogenheit!

Ist das Damoklesschwert, das über den Köpfen der iranischen Frauen schwebt, die sich seit 1979 dem Diktat der Mullahs widersetzen, kein Terror? Ist die Gewalt, welche die afghanischen Frauen zum zweiten Mal (1996 und 2021) durch die Taliban erlebten, kein Terror? Glauben Sie, dass die fünfzehn Schülerinnen, die 2002 bei einem Brand in ihrer Schule in Mekka ums Leben kamen, weil die islamische Religionsgarde sie daran gehindert hat, ein brennendes Gebäude zu verlassen, weil ein bisschen von ihrem Haar zu sehen war, nicht als drohende Warnung für die anderen kleinen saudischen Mädchen verstanden wurde?

Katia Bengana, eine 16-jährige Gymnasiastin aus Maftah, und Nabila Djehnine, eine linke feministische algerische Studentin, weigerten sich, sich dem Kleidungsgebot der Islamisten zu unterwerfen. Für sie war das Kopftuch gleichbedeutend mit Freiheitsentzug. Beide wussten, dass die Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Frauen immer mit dem Kopftuch beginnt. Beide wurden von den Islamisten brutal aus dem Leben gerissen. Das war 1994 und 1995. Zu diesem Zeitpunkt war die Autorin der taz gerade erst in eine Welt geboren worden, in der Demokratie, Freiheit und Modernität selbstverständlich waren. Zu diesem Zeitpunkt war ich eine Jugendliche, die nicht mehr zur Schule gehen konnte, weil ich Angst hatte, dass ein Gotteskrieger in meiner Klasse auftaucht, um mich und meine unverschleierten Mitschülerinnen zu töten.

Frau Neumann und ihre Gleichgesinnten sollten ein Geschichtsbuch aufschlagen und einige Nachforschungen über die Gewalt und den Terror anstellen, denen Frauen in der MENA-Region seit dem Aufkommen des Islamismus ausgesetzt sind.

Wiederkehrende historische Wissenslücken

Wenn die französische Enthüllungskampagne von 1958 zu verurteilen ist, weshalb verliert die Autorin kein Wort über die Enthüllungskampagne der Sowjetunion in den 1920er Jahren?

Hat die Autorin vergessen, dass sich der ehemalige ägyptische Präsident Gamal Nasser sich vor laufender Kamera über die Muslimbrüder lustig machte, die von ihm verlangten, die Ägypterinnen zu verschleiern? Und was ist mit Präsident Habib Bourguiba, der die Tunesierinnen öffentlich dazu aufforderte, ihre Verhüllung abzulegen? Waren diese Männer von den westlichen Kolonialmächten beeinflusst?

Oft wird vergessen, dass eine der Enkelinnen des Propheten Muhammad den Verschleierungszwang ablehnte. Oft ebenfalls vergessen werden Frauen wie Huda Sharawi, eine Pionierin des ägyptischen Feminismus, die 1923 ihr Kopftuch öffentlich ablegte.

Die Autorin zitiert die Gewalt der französischen Kolonialmacht gegen die Algerierinnen, verliert aber kein Wort über die Legitimierung der Gewalt gegen die Algerierinnen durch das seit 1984 geltende algerische Familiengesetz, demzufolge ich mein Leben lang minderjährig bin, weil ich mit weiblichen Geschlecht geboren wurde.

Kein Wort über die Blutbäder, die die Islamisten 1997 in Rais und Bentalha verübten, oder über das Lynchen von Frauen in Hassi Messaoud in den Jahren 2001 und 2010. Bei diesen Massakern wurden Frauen entführt, sexuell versklavt und erlitten Massenvergewaltigungen wie auch die jesidischen Frauen durch den IS im Jahr 2014. Deshalb stelle ich mir die Frage: Gibt es eine Hierarchisierung der Unterdrücker von Frauen? Handelt es sich um fehlendes Wissen oder um absichtliches Verschweigen?

Frau Neumann instrumentalisiert die Geschichte Algeriens, um ihre sogenannte post-koloniale Ideologie zu rechtfertigen, und setzt sie gegen unsere iranischen Schwestern ein. Sie sollte aber wissen, dass ihre Demagogie die Solidarität der Algerierinnen mit all jenen, die dem Islamismus die Stirn bieten, niemals schwächen wird.

Verinnerlichung der islamistischen Rhetorik

Die Autorin bedient sich der islamistischen Rhetorik, wenn sie die iranische Aktivistin Masih Alinejad beschuldigt, Propaganda für »westliche Ideologien« zu betreiben. In Algerien wurde während des »schwarzen Jahrzehnts« dieselbe Rhetorik von den algerischen Islamistenführern Ali Benhadj und Abassi Madani verbreitet, die auf diese Weise versuchten, unser Volk in »richtige und falsche Muslime« zu spalten und vor allem den tapferen Kampf der Feministinnen zu diskreditieren. Es stellt sich die Frage, ob es nicht vielmehr so ist, dass die Autorin sich die islamistische Rhetorik im Allgemeinen und die der Mullahs im Besonderen zu eigen macht.

Julia Neumann erklärt: »Die Idee, dass weiße Männer Frauen of Color vor Männern of Color schützen können, stammt aus der Kolonialzeit.« Die algerischen Frauen, die in den 90er Jahren in den Straßen von Algier »La hijab, la djilbab, Djazair djazaira« (»weder Hijab noch Djilbab, Algerien bleibt algerisch«) skandierten, strebten nach ihrem Algeriertum und ihrer Selbstbestimmung, egal, ob von dem »weißen« oder dem »man of color«. Spricht uns die Autorin die Fähigkeit ab, uns gegen unsere Unterdrückung zu erheben, ohne manipuliert zu werden? Zweifelt sie an unserer Intelligenz, weil wir keine weißen westlichen Frauen sind?

Überlassen Sie es uns, uns von den Islamisten und ihren frauenfeindlichen Geboten zu befreien, und befreien Sie sich zuerst von Ihrer kolonialistischen und paternalistischen Denkweise.

Es ist inakzeptabel, wenn Julia Neumann eine mutige Exiliranerin angreift, die das Mullah-Regime trotz der Todesdrohungen gegen ihre Person und ihre Familie herausfordert. Es ist leicht, eine Frau wie Alinejad zu verunglimpfen, wenn man den Pass eines Rechtsstaats besitzt, der seine Bürger und Bürgerinnen im Ausland nicht durch den Geheimdienst verfolgt und den demokratischen Gesetzen und internationalen Konventionen unterliegt, welche die Menschenwürde und die Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung bindend machen.

Frauensolidarität

Ja, Alinejad erhebt ihre Stimme »auf ihren Kanälen in den sozialen Medien«, aber ihre Forderungen sind keine »plakativen Anliegen«. Gewalt gegen Frauen als »plakative Anliegen« zu bezeichnen, ist eine Billigung der Verletzung von Menschenrechten. Diese Rechte sind universell, unteilbar und unveräußerlich, unabhängig von der Herkunft. Welchen Repressionen Alinejad ausgesetzt war, beschreibt sie in ihrer Autobiografie Der Wind in meinem Haar – Mein Kampf für die Freiheit iranischer Frauen.

Exilierte Frauen wie Alinejad, ob sie aus dem Iran, Bangladesch oder Algerien stammen, könnten die Freiheit genießen, die ihre Aufnahmeländer gewähren. Doch anstatt es zu tun, erinnern diese Frauen unermüdlich jeden Tag an den grausamen Alltag ihrer Schwestern, die vom Westen in ihren Heimatländern im Stich gelassen werden. Das nennt man »internationale Frauensolidarität«. Und genau dieser Zusammenhalt zwischen den Frauen über die Grenzen ihrer Herkunftsländer hinaus ist ein Dorn im Auge der Islamisten. Diese Solidarität ist etwas, wozu die sogenannten Neofeministinnen nicht in der Lage sind, weil sie sich weigern, eine Realität zu sehen, die sie mit ihren eigenen westlichen Privilegien konfrontiert.

Hochachtung vor dem unermüdlichen Engagement von Alinejad und den unzähligen unbekannten Frauen, die gegen die Krallen des Islamismus, des Neokolonialismus und des Kulturrelativismus kämpfen. Aber wie kommt es, dass die Adeptinnen von Judith Butler kein Wort über diese Frauenstimmen verlieren und, falls doch, nur im negativen Sinne?

In der Geschichte des Feminismus gab es immer Frauen, die sich dafür entschieden haben, die Stimme ihrer unterdrückten Schwestern weiterzutragen. Leider gibt es auch diejenigen, die sich dafür entschieden haben, die Stimme ihrer »Henker« zu sein, und die so unverschämt sind, uns Frauen in und aus der MENA-Region die Schuld am Aufstieg der extremen Rechten im Westen in die Schuhe zu schieben und uns ein imperialistisches Schweigen aufzwingen wollen. Auf welcher Seite steht die Journalistin der taz?


Über die Autorin:

Naïla Chikhi ist Kulturwissenschaftlerin. Als unabhängige Referentin zu den Themen Integration und Frauenpolitik engagiert sie sich in verschiedenen Gremien und leitet Fortbildungen und Seminare für Pädagogen und Pädagoginnen. Sie ist Gründungsmitglied der »Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung« und Mitherausgeberin des Sammelbuchs Ich will frei sein, nicht mutig: FrauenStimmen gegen Gewalt (Alibri, 2021).

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