Auszug aus Gerhard Scheits neuem Buch: »Für Israel. Vier Kapitel über Souveränität als Einführung in negative Urteilskraft.«
Eine Frage, mit der sich die grössten Rechtsphilosophen aller Zeiten so tief beschäftigt haben, kann jedoch nicht ganz müssig sein. Tatsächlich liegt im Staat eine Mischung von Menschlichem und Uebermenschlichem vor. Für das zuweilen drückende Verhältnis, in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen, ist ein Rechtsgrund unerlässlich. Ich glaube, er kann in der »negotiorum gestio« gefunden werden.
Theodor Herzl, Der Judenstaat, 1896
Theodor Herzl teilt mit Moses Hess jene Auffassung vom Gesetz als der Grundlage der Selbsterhaltung der Juden. Als er 1901 Rom und Jerusalem las, notierte er in seinem Tagebuch: »Welch ein hoher edler Geist. Alles, was wir versuchten, steht schon bei ihm. Lästig nur das Hegelianische seiner Terminologie. Herrlich das Spinozistisch-Jüdische und Nationale. Seit Spinoza hat das Judentum keinen größeren Geist hervorgebracht als diesen vergessenen verblaßten Moses Heß!« Und doch hatte Herzl mit seiner Schrift Der Judenstaat auf jener Grundlage, die er mit Hess teilte, eine vollständige Antithese zu Rom und Jerusalem konzipiert. Sein ganzes Konzept ist auf eben jene Vermittlung ausgerichtet, die bei Hess als überflüssig erachtet wird und als Abzuschaffendes gilt. Eben darauf gründet seine Aussicht, dass der Judenstaat für Europa »den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen« könnte.
Bereits der erste Satz der Einleitung zum Judenstaat scheint sich unmittelbar gegen die Auffassung zu richten, der Hess mit der so fragwürdigen Bezeichnung vom »vermittelnden Schmarotzer« Ausdruck verlieh: Herzl setzt gerade auf diese »Mittelwesen, welche dazu bestimmt sind, die moderne Gesellschaft großzuziehen«, »jene Träger der Kultur, jene Retter der Gesellschaft und Verwalter der Sparkassen«, insbesondere »die Spekulanten in Politik« und »Industrie«, sie sind für ihn unentbehrlich, auch den jüdischen Staat großzuziehen. »Die volkswirtschaftliche Einsicht von Männern, die mitten im praktischen Leben stehen, ist oft verblüffend gering. Nur so läßt sich erklären, daß auch Juden das Schlagwort der Antisemiten gläubig nachsagen: wir lebten von den ›Wirtsvölkern‹, und wenn wir kein ›Wirtsvolk‹ um uns hätten, müßten wir verhungern.
Das ist einer der Punkte, auf denen sich die Schwächung unseres Selbstbewußtseins durch die ungerechten Anklagen zeigt.« Es handle sich dabei entweder um einen kindlichen Irrtum oder um »die alte physiokratische Beschränktheit«. In Wahrheit sei alle materielle Wohlfahrt »durch Unternehmer verwirklicht worden. Man schämt sich beinahe, eine solche Banalität niederzuschreiben. Selbst wenn wir also ausschließlich Unternehmer wären – wie die törichte Übertreibung behauptet – brauchten wir kein ›Wirtsvolk‹. Wir sind nicht auf einen Rundlauf immer gleicher Güter angewiesen, weil wir neue Güter erzeugen.«
Damit spielt Herzl auf die Lehre der Physiokraten an, wonach, wie schon Marx kritisierte, die Kapitalisten nur als Konsumenten dessen gelten, was die Grundbesitzer hervorbringen, da die Werte und der Reichtum allein in der Natur zu finden seien. In bestimmter Hinsicht war Moses Hess auf diese physiokratische Beschränktheit wieder zurückgefallen: Er hatte auf der Basis von Spinozas positivem Substanzbegriff Menschheit und Natur einerseits gleichgesetzt und ließ andererseits in den ihren eigenen Grund und Boden ausbeutenden Völkern die physiokratische Gestalt des Grundbesitzers als nationales Kollektiv wiederauferstehen, das der Natur ihren Reichtum abgewann. Er wurde also aus zionistischem Motiv zum Physiokraten. Das Wichtigste war ihm, dass die Juden ihr Land bekämen, und so projizierte er diese unbedingte Notwendigkeit eines eigenen Staats auf die Formen, in denen der Reichtum produziert wird.
Herzl hat jedoch kein Interesse daran, die physiokratische Lehre weiter zu kritisieren, um etwa an ihr auch das Potential antisemitischer Vorstellungen sichtbar zu machen. Er will, wie er sagt, »keine Verteidigung der Juden vornehmen. Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftige und sogar alles Sentimentale ist über diesen Gegenstand schon gesagt worden.« Wenn er von der einfachen These ausgeht, dass mit dem ewigen Antisemiten zu rechnen sei, formuliert er zugleich auch die Gegenthese, dass es prinzipiell durchaus möglich sei, durch Erziehung das alte tiefsitzende »Vorurteil« zu bekämpfen. Aber diese Erziehung, die notwendig sei, damit der Antisemitismus verschwinde, »würde im günstigsten Fall so ungeheure Zeiträume erfordern, daß wir uns … vorher längst auf andere Weise können geholfen haben.«
Bereits mit der allmählichen Emigration aus den verschiedenen Ländern Richtung Jerusalem sieht Herzl das »Ende des Antisemitismus« herannahen. Die Orientierung am Unternehmertum verstellt ihm jedoch keineswegs den Blick dafür, dass der jüdische Staat nicht wie ein Unternehmen gegründet werden könnte und darum auch die bereits seit Jahrzehnten von privaten Unterstützern organisierte Auswanderung nach Palästina keine wirkliche Lösung darstellen kann. Die Judenfrage sei vielmehr als eine »nationale Frage« zu betrachten. Niemand sei »stark und reich genug, um ein Volk von einem Wohnort nach einem andern zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die Staatsidee hat wohl eine solche Gestalt. Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: ›Übers Jahr in Jerusalem!‹ ist unser altes Wort. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, daß aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann.«
Taghell ist der Gedanke, insofern Herzl von Anfang an die »unternehmerische« Seite, also die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, soweit sie tatsächlich zunächst nur Akkumulation sein kann, solange kein Land da ist, von der staatlichen Seite, also der Schaffung eines Souveräns, zu trennen versteht, um beide letztlich doch als Einheit zu begreifen. Für die Bürgschaften, die nötig seien, müsse auf der einen Seite eine »moralische Person« auftreten, in Gestalt einer »Society of Jews«, welche »Subjekt von Rechten außerhalb der Privat-Vermögenssphäre« sei; auf der anderen aber stehe die »juristische Person der Jewish Company«, der das »Erwerbswesen« zukomme.
Wenig später sollte in London eine Bank für die finanziellen Aufgaben der Bewegung gegründet werden, er bezeichnet sie als »Kolonialbank«, konzipiert sie jedoch als künftige Zentralbank, als Voraussetzung, die Kreditvergabe zu regeln und insofern aber auch autonom zu agieren. Die »politischen Leiter der Bewegung« sollen die Bank »lediglich beaufsichtigen … Die Inkompatibilität des Politischen mit dem Geschäftlichen ist Ehrensache.« Die »freiwilligen Beamten« der politischen Bewegung aber haben sich um die »Herbeischaffung« der »rechtlichen Sicherheiten« zu kümmern, und in dieser Aufgabe, die einem Souverän zukommt, unterscheidet sich die zionistische Bewegung auch von allen sonstigen privaten Bemühungen einer Auswanderung nach Palästina, die nur »mit Gönnermiene« ein »paar Familien Wohltaten« erweisen können, die »sich knapp auf die Köpfe der zufällig Begünstigten beschränken und schon deren Verwandte und Nachbarn in unveränderter Not lassen«. Die Bewegung hin zu dieser Einheit, die in ihrem Inneren die Trennung von Geschäftlichem und Politischem anerkennt, könne mit »vollkommen gesetzlichen Mitteln eingeleitet werden«, sie könne »überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher Mitwirkung der beteiligten Regierungen, die davon Vorteile haben«.
Ähnlich wie Moses Hess baut auch Herzl auf die zivilisierten Nationen, denen er nur insoweit vertraut, als er unterstellt, dass sie, so zivilisiert sie auch seien, den Auszug der Juden als Vorteil sehen würden. Jedenfalls sei die Judenfrage als »politische Weltfrage« im »Rate der Kulturvölker« zu regeln und es gehe darum, dass der Jewish Society ein Land völkerrechtlich zugesichert werde. Wie wenig Herzl diesen Rat der Kulturvölker und die völkerrechtliche Zusicherung nicht im Sinne eines Weltsouveräns versteht, der den Juden die Gnade eines eigenen Lands erweisen werde, vielmehr unter dem Gesichtspunkt von gegebenen Machtkonstellationen zwischen den Staaten, die prinzipiell auf Gewalt beruhen, zeigt sich schon darin, dass seiner Auffassung gemäß die Jewish Company, durch die das Kapital, das für die Gründung nötig ist, akkumulieren soll, »nach den Gesetzen und unter dem Schutze Englands« und mit Hauptsitz in London zu gründen sei. Einerseits gewährt dieser Hegemon im Inneren die Rationalität der geschäftlichen Tätigkeiten, andererseits hat er nach außen hin die Gewalt, die Rechte der darin aktiven Eigentümer zu wahren.
Was den zu gründenden Souverän selbst betrifft, macht sich Herzl keine Illusionen darüber, was alle Kulturvölker gemeinsam haben und worauf auch der künftige Judenstaat beruhen muss. »Die allgemeine Verbrüderung ist nicht einmal ein schöner Traum. Der Feind ist nötig für die höchsten Anstrengungen der Persönlichkeit.« Und hier kommt zu dem taghellen Gedanken die finstere Perspektive hinzu, die vom Hobbes’schen Leviathan verkörpert wird. Nicht zufällig spricht Herzl davon, dass »im Staat eine Mischung von Menschlichem und Übermenschlichem« vorliege. In seiner späteren »Rede in der Österreichisch-Israelitischen Union« wird er als »ausreichende Definition für die Nation« so wenig wie Hobbes auf gemeinsame Abstammung und »Blutsurenge« (Marx) verweisen, sondern die Existenz einer »historischen Gruppe von Menschen« angeben, »die erkennbar zusammengehört, einen gemeinsamen Feind hat«.
Was Letzteres betrifft hat Herzl schon im Judenstaat die besondere Prädestination der Juden für das »Entstehen einer neuen Souveränität« hervorgehoben: »Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war.« Zugleich ist sich Herzl darüber im Klaren, dass der moderne Antisemitismus »ganz verschieden« sei »von allen Formen des Judenhasses, die wir in der Geschichte kennengelernt haben«, und er müsse verschieden sein, »weil er hinter einer vollständigen Emanzipation auftritt«. Herzl weiß nur zu gut, worauf diese vollständige Emanzipation der Juden zu Staatsbürgern beruht, gerade in dieser Rede betont er, welche Rolle die Durchsetzung des Kapitalverhältnisses in der Entstehung der modernen Gesellschaft spielt: »Zur Zeit der Judenverfolgung am Rhein begann man in Oberitalien Wechsel auszustellen, die das Münzgeschäft sehr erleichterten und die differentia loci ausglichen. Die Aktie, die in den oberitalienischen Städten auch im 14. Jahrhundert aufgekommen ist, war noch sehr rudimentär.« Aber alle diese Elemente seien inzwischen »wichtige Bestandteile unseres Lebens und unserer Kultur« geworden. »Alles andere, Kriege, Friedensschlüsse, fürstliche Heiraten und womit man uns sonst noch in den Geschichtsbüchern belästigt, ist gleichgültig gegenüber diesen großen Wasserscheiden der Geschichte.«
Wie schon der junge Marx hat Herzl erkannt, dass diese letzte große Wasserscheide zwar die politische Emanzipation der Juden zu Staatsbürgern brachte, doch sein ganzes Konzept beruht darauf, dass diese politische Emanzipation bloß neue Formen des Judenhasses zeugt. Eben daraus schließt Herzl, dass die Juden auf der Ebene, auf der sie als Staatsbürger mit den Nichtjuden gleichgestellt sind, den Kampf gegen den Antisemitismus immer nur verlieren können. Sosehr nach seiner Auffassung einerseits die Gleichstellung und damit die Vermittlungsformen des Kapitals, die er als Jurist argumentierend naturgemäß ganz anders benennt, zu verteidigen wären, so sehr versteht es Herzl andererseits zu verdeutlichen, dass der Antisemitismus nur auf der Basis eines eigenen Staats der Juden bekämpft werden kann.
Die Juden, so Herzl, haben »überall ehrlich versucht«, in der sie »umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen« und lediglich den Glauben ihrer Väter zu bewahren. »Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger …« Die Gründe dafür interessieren ihn nicht weiter, nur Eines: »Im jetzigen Zustande der Welt und wohl noch in unabsehbarer Zeit geht Macht vor Recht. Wir sind also vergebens überall brave Patrioten, wie es die Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns in Ruhe ließe … Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen.« Die Entscheidung für die staatliche Lösung der Antisemitenfrage zeigt sich also nicht zuletzt darin, dass Herzl jede weitere Suche nach Ursachen und Bedingungen des Antisemitismus abbricht, ihn vielmehr als gegebenes und offenbar unabänderliches Faktum akzeptiert – das ebenso »tief im Volksgemüt« sitzt wie es die Macht, die das Volk regiert, prägt –, um daraus die praktischen Konsequenzen zu ziehen.
Herzl sprach von einer »ganz eigentümlichen Neubildung auf noch unbestimmtem Territorium«, wenn es darum ging, wie die Society of Jews diesen Souverän vorwegnehmen könnte. Als gelerntem Juristen bot sich ihm zur Erläuterung solcher Eigentümlichkeit eine spezielle Anleihe beim römischen Recht an, die negotiorum gestio. »Wenn das Gut eines Behinderten in Gefahr ist, darf jeder hinzutreten und es retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er hat keinen Auftrag, das heißt keinen menschlichen Auftrag. Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Notwendigkeit erteilt.« Dabei sei die gestio »auf das Wohl des Dominus« gerichtet, »des Volkes, zu dem ja auch der Gestor selbst gehört. Der Gestor verwaltet also ein Gut, dessen Miteigentümer er ist.« Er kann aber »die Zustimmung der unzähligen Miteigentümer im günstigsten Fall nur vermuten«. Im Nachhinein vermag in einem Verfahren ermittelt zu werden, ob und inwieweit deren Interessen tatsächlich entsprochen worden ist.
Dieses »Rechtsinstitut« eignete sich gerade deshalb, die Frage eines zu schaffenden Souveräns darzulegen, weil es selbst noch keine Souveränität im modernen Sinn zur Bedingung hatte; wie das ganze römische Recht war es vielmehr der Balance verschiedener, nebeneinander existierender Machtbereiche entsprungen. Die negotiorum gestio setzt gewissermaßen voraus, dass kein Souverän als ubiquitäre und übergeordnete Instanz vorhanden ist, der selbst die Geschäfte des verhinderten Eigentümers in die Hand nehmen oder dafür einen Auftrag erteilen könnte; es wird prinzipiell niemand daran gehindert, sich ihrer zu bemächtigen, und erst post festum, wenn der Eigentümer sich zurückmeldet, ist ein Gleichgewicht der Interessen zu eruieren.
Für Herzl war der Ausgangspunkt die Lage der Juden in der weltweiten Diaspora, der hier gleichsam die Bedeutung des Territoriums gegeben wird, auf dem das römische Recht gegolten hatte. Es handelt sich damit um eine Übertragung, bei der sich der Inhalt zugleich vollständig ändert: Denn das Gut, um das es dem zionistischen Gestor geht, ist das Leben der Juden, ihre Selbsterhaltung. Sie ist in Gefahr, weil die Juden keinen Staat haben, also behindert werden, sich um sie zu kümmern. »Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängnis. Es braucht vor allem einen Gestor.« Der Gestor kann die Zustimmung der unzähligen ›Miteigentümer‹ auch hier nur vermuten, hat aber angesichts der Pogrome und des immer gefährlicher werdenden Antisemitismus die besten Gründe dafür.
Wenn Herzl wie viele Zionisten nach ihm dachte, dass die Gründung des Staats letztlich auch das Ende der Diaspora bedeuten würde, so lehrt seine Bestimmung des Gestors doch zugleich, dass auch noch der einmal gegründete Staat, solange es die Diaspora gibt, im Verhältnis zu ihr etwas von der Bedeutung eines Gestors behalten muss.
So hat Joachim Bruhn betont, »dass der Staat Israel seine Staatsräson niemals allein nur daraus beziehen kann, dass er Staat aller seiner Bürger ist, sondern in seiner fortwährenden Eigenschaft als Gestor im Sinne Herzls auch Repräsentant, Organ und Agent ist aller Abwesenden, und dass das in seinen Staatscharakter ein Doppeltes hineinbringt: Er ist demokratisch, aber er ist nicht so demokratisch, dass er nicht zu unterscheiden wüsste zwischen der Titularnation des Staates und denjenigen, die auch noch da wohnen, und er ist eben universal gerichtet, indem er in seiner Staatlichkeit in Form dieses Gesetzes das Recht aller Anderen auf Staatsbürgerschaft inkorporiert …« Mit diesem Gesetz ist das Law of Return gemeint, das es den in der Diaspora Lebenden ermöglicht, jederzeit in Israel einzuwandern. Seine Gültigkeit bis heute ist Ausdruck dessen, dass jene »Gestor-Funktion, von der Herzl sprach, noch nicht erloschen ist; sie kann auch gar nicht erloschen sein, weil ja die Bedrohungssituation keineswegs aufgehört hat …«
»Quasi ex contractu« begründet Herzl sein Handeln und benennt damit etwas wie die zionistische Adaption des imaginären Vertrags unter den Bürgern, mit dem Hobbes die Entstehung des Leviathan erklärt hat. Das Eingreifen eines Einzelnen als Gestor geschieht damit sozusagen auf gut Glück. Er kann weder seine besondere Eignung noch den genauen Zeitpunkt dafür mit Bestimmtheit begründen. Die Tatsache, dass Herzl selbst »alle Fäden in die Hand nimmt und handelt«, weise ihn, so Gerhard Biller mit Bezug auf Carl Schmitts Politische Theologie, als »Dezisionisten ersten Ranges aus. Sein Verdienst war es, den Ausnahmezustand erkannt zu haben, in dem die Juden sich befanden, und daß dieser Ausnahmezustand zu seiner Beendigung einer souveränen Entscheidung bedurfte, die wegen der Unübersichtlichkeit der Lage einer Begründung gegenüber Dritten nicht bedurfte. Die Normen des Handelns lagen nun bei Herzl selbst, der zudem wegen der aktuellen jüdischen Lage einsah, daß rasch gehandelt werden müsse. Sein Ziel war in erster Linie politisch, der Rechtsanspruch jedoch war moralisch und historisch begründet.«
Der Zionismus war aber der Politischen Theologie, wie sie Schmitt formuliert hat, in bestimmter Hinsicht genau entgegengesetzt, musste er doch den Staat überhaupt erst schaffen, um den speziellen Ausnahmezustand zu beenden, in dem die Juden innerhalb der verschiedensten Staaten lebten und der für sie also die Regel war. Genau darin liegt die Einsamkeit Theodor Herzls, von der Joachim Bruhn spricht, um unter diesem Titel (und in entferntester Anspielung auf Louis Althussers Solitude de Machiavel) eine gewisse Nähe zu Machiavellis Bestrebungen zu betonen. Es handelt sich sozusagen um die politische Bewahrheitung der berühmten Geschichte des Baron Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen haben will, oder besser gesagt ihres Gestus. Der Rückgriff auf die römische Rechtsfigur des Gestors soll beides verbinden – Machiavelli und Hobbes: Vorwegnahme des imaginären Vertrags, mit dem post festum die Anerkennung eines Gewaltmonopols erklärt wird, also jener Macht, die allein die Einhaltung der wirklichen Verträge garantiert.
In einer seiner letzten Reden – nicht zufällig in einer Krisensituation gehalten, nachdem Herzl aus den eigenen Reihen scharf angegriffen worden war, weil er das englische Angebot überhaupt erwog, Uganda statt Palästina als Territorium zu akzeptieren – tritt besonders hervor, inwieweit es sich hier nur um ein quasi ex contractu handeln kann. Es geht nicht um die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung, die in Gestalt des Zionismus einen Vertrag abgeschlossen hätte, an den der gewählte Repräsentant sich zu halten habe, sondern der Gestor kann und muss auch gegen die ohnehin nur zu erahnende Mehrheit handeln können, um deren Interessen zu übernehmen und ihre Einheit überhaupt herzustellen.
Zunächst beschreibt Herzl allein die subjektiven Voraussetzungen, derer es bedarf. (Er habe sich in Wien »eines Tages« von seinem »ganzen Lebenskreise«, von allen seinen »Bekannten und Freunden losgesagt« und sei »als ein einsamer Mensch für das eingetreten, was ich für nötig gehalten habe. Ich habe nicht das Majoritätsbedürfnis, ich brauche keine Majorität.«) Doch dann betont er so deutlich wie kaum an anderer Stelle die Notwendigkeit, dass es diesen Gestor, einen Stellvertreter-Souverän, geben müsse; dass die Einheit in einer bestimmten Situation der Hand eines Einzelnen anzuvertrauen sei, nach welchen demokratischen Regeln auch immer er dazu bestimmt wäre, weil die Form der Organisation allein sie nicht hervorbringe. »Selbst wenn wir schon so viele Hundertausende Anhänger hätten, wie wir jetzt Zehntausende haben, selbst dann wäre die Organisation für die Erlangung des Zieles ein unerheblicher Faktor. Sie kann vielleicht die Mittel herbeischaffen, aber um mit den Faktoren, um die es sich handelt, zum Ziele zu gelangen, dazu ist die Organisation als solche absolut nicht imstande. Diese Funktion kann ausschließlich von der Führung ausgeübt werden.«
Es komme allein auf die Beharrlichkeit im Festhalten des Ziels an, hätte aber die Organisation keine Führung, die diese Beharrlichkeit verkörpert und »in jedem Augenblick imstande ist, in die allgemeine Lage, heute in Frankreich, morgen in Italien, übermorgen in England einzugreifen, dann wäre die zionistische Bewegung nur ein Spiel mit Worten, nur eine Bewegung von Leuten, die schon zufrieden sind, wenn sie in ihr Ehrenposten haben«. Die große Kraft zur Erlangung des Ziels wäre nicht »in einem Verband von Konventikeln« aufzufinden. Sie zu begründen, könnte sich Herzl direkt auf die Hobbes’sche Auffassung berufen, wonach die Einheit des Staats nach außen hin erst das Überleben im state of nature zwischen den Staaten ermöglicht. Näher liegt ihm freilich, Graf Bülow aus einer Rede im deutschen Reichstag zu zitieren, der die »vollständig unrichtige und unberechtigte Behauptung« zurückwies, »daß eine Partei die auswärtige Politik bestimmen könne. Ich führe diejenige auswärtige Politik, die nach meiner Kenntnis der internationalen Sachlage am besten den Interessen der deutschen Nation entspricht.« Noch in seinem letzten zionistischen Text legt Herzl jedenfalls alles Gewicht darauf, dass »das dringendste Erfordernis unserer Bewegung, die Einheitlichkeit unserer Organisation, gesichert« werde.
Dem entspricht auch die Position, die Herzl zur Religion einnimmt: Er weiß, welche besondere Rolle ihr zukommt als dem jahrtausendealten Stellvertreter eines eigenen Reichs, und er bedachte auch ihre Bedeutung für die Gründung des neuen Staats, er würdigte einerseits die »Kolonisierungsbewegung«, die »vor mehr als fünfzig Jahren in streng frommen Kreisen durch die angesehensten Rabbiner ins Leben gerufen worden« waren, und schickte andererseits seine Schrift noch vor der Publikation etwa an die Oberrabbiner von London und Wien, um zu erfahren, wie sie sein Konzept beurteilten. Aber das sagt noch nichts über die Rolle der Religion im Staat selbst. Hier präjudizierte er einfach: Es werde keine Theokratie geben. »Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei. Wir werden daher theokratische Velleitäten unserer Geistlichen gar nicht aufkommen lassen. Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden.«
Alles wird unter dem Gesichtspunkt notwendiger Einheit des Staats betrachtet: »Heer und Klerus sollen so hoch geehrt werden, wie es ihre schönen Funktionen erfordern und verdienen. In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts dreinzureden, denn sie werden äußere und innere Schwierigkeiten heraufbeschwören. Jeder ist in seinem Bekenntnis oder in seinem Unglauben so frei und unbeschränkt wie in seiner Nationalität. Und fügt es sich, daß auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichheit gewähren.« Die strikte Orientierung am westlichen Souveränitätstypus verstellt Herzl gleichwohl ein wenig, in welchen Formen im neuen Staat der alte Glaube fortleben kann, soweit er eben weiterhin jene Funktionen des Zusammenhaltens behält, sowenig wie die Diaspora sich durch den neuen Staat vollständig erübrigen könnte. So stellt Herzl die ironisch getönte Frage im Hinblick auf die gemeinsame Sprache: »Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillet zu verlangen?« Im Allgemeinen aber wusste er, dass der Zionismus gerade etwas Merkwürdiges an sich habe, das ehedem für unmöglich gehalten wurde, nämlich »die enge Verbindung der modernsten Elemente des Judentums mit den konservativsten«.
Aber sämtliche Fragen des neuen Staats werden unter einem einzigen Gesichtspunkt aufgeworfen: dass sein höchstes Gut die Selbsterhaltung der Juden ist. Deren Leben zu bewahren heißt, das Objekt, das dies ermöglicht, zu bestimmen und zu bekommen: das Gewaltmonopol über ein Territorium, von dem die anderen, die Feinde, ausgeschlossen bleiben. Der Zionismus sei in diesem Sinn »ein Friedenstifter«, aber es gehe ihm »freilich dabei wie Friedensstiftern gewöhnlich: er muß sich am meisten herumschlagen«. Umso mehr, wenn diese Feinde ein Feind sind: der ewige Antisemit.
Anders als Machiavelli konnte sich Herzl nicht an einen Fürsten wenden, sondern musste sich auf die Suche nach der geeigneten hegemonialen Macht begeben. So wie der Gestor im Römischen Reich sich zwar auf den Dominus berufen mochte, aber auf die augenblickliche, durch kein wirkliches Gewaltmonopol gedeckte und fixierte Konstellation der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte Rücksicht nehmen musste, so hat der zionistische Gestor, der sich auf die Selbsterhaltung des jüdischen Volks beruft, genau sich zu überlegen, mit welchen Staaten und gegen welche er die Übernahme der Geschäfte durchführen kann. Er hat also auf die jeweilige Konstellation der Mächte zu achten und zu bestimmen, welcher Hegemon oder welches hegemoniale Bündnis seiner Interessenslage jeweils gemäß ist.
Für Herzl gab es zwar, was die finanzielle Akkumulation betraf, die deutliche Präferenz für Großbritannien, aber was das Territorium anlangte, setzte er zunächst Hoffnungen auch auf den Sultan des Osmanischen Reichs und den deutschen Kaiser. Kurz nach Publikation des Judenstaats getraute er sich »sogar zu behaupten, daß die Juden keinen großmütigeren Freund haben als Seine Majestät den jetzt regierenden Sultan!« Er zählte dabei auf eine gewisse Rationalität auf Seiten der Interessenspolitik des Osmanischen Reichs: Der Sultan wisse, er könne »eine Hilfe für seine Finanzen, die einzig wirksame …, nur durch eine Verständigung mit Juden, und zwar mit Juden, welche die jüdische Politik und nicht Kabinettspolitik in irgendeinem Auftrage betreiben, erzielen«. So sah Herzl vor, dass die Kolonialbank in London für die türkische Regierung finanzielle Dienste leisten könnte, »insoweit und insolange hierfür ein Gegenwert in der Form von ausreichenden Rechtszugeständnissen für die Ansiedler erfolgt«.
Um diesen Deal gleichsam weltpolitisch abzusichern, traf sich Herzl 1899 auch mit dem deutschen Kaiser in Konstantinopel und richtete wenig später in Jerusalem eine Ansprache an ihn, worin er »Seine Majestät« »um Ihre hohe Hilfe« zur Verwirklichung der zionistischen Pläne bat: »Ein Kaiser des Friedens zieht mächtig ein in die ewige Stadt! Wir Juden grüßen Eure Majestät in diesem hohen Augenblick und wünschen dabei aus tiefster Brust, daß ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeit anbrechen möge für alle Menschen.« Es spricht einiges dafür, dass Herzl damals im deutschen Kaiser den »Rat der Kulturvölker« verkörpert sah, der die völkerrechtliche Anerkennung für den jüdischen Staat durchzusetzen vermag. Tatsächlich aber konnte Herzl nur darauf rechnen, dass Deutschland als immer mächtiger werdender Hegemon in dieser Region Druck auf den Sultan auszuüben imstande war. Die ablehnende Reaktion des deutschen Kaisers belehrte ihn allerdings sogleich eines Besseren. Und bald folgte auch die Enttäuschung über den Sultan, der sich zwar dazu bereit erklärte, den Juden sein Reich zu öffnen und ihnen die türkische Staatsbürgerschaft versprach, aber gerade die Ansiedelung in Palästina vorerst wenigstens ausschloss und keineswegs konzedierte, ein geschlossenes Territorium in seinem Reich für die zionistische Bewegung bereitzustellen.
Die ursprünglich mit dem Osmanischen Reich zusammenhängenden Illusionen schlugen sich unverkennbar noch in Herzls Roman Altneuland nieder, der 1902 erschien. Darin gab Herzl der Versuchung nach, seine Hoffnungen sich als Utopie auszumalen, etwas, das er sich doch sonst in seinem Buch Der Judenstaat wie in seinen zionistischen Reden und Artikeln gerade verbat. Aber schon 1899 sagte er in einer Rede in London, »wenn ich nicht so heillose Angst davor hätte, ein Phantast und Utopist gescholten zu werden, würde ich Ihnen die kommende Einrichtung unseres Landes schildern, mit Eisenbahnen, Telegraphen, Automobilcars und anderen solchen fabelhaften Dingen, die noch nie ein Mensch gesehen hat. … Vielleicht werden wir bei dieser Gelegenheit die Möglichkeit sozialer Verbesserungen entdecken und verwirklichen, die auch den Mühseligen und Beladenen anderer Völker zunutze kommen. Dann erst werden wir wahre Israeliten sein.«
In solchen Worten brach sich bei Herzl, der so weit entfernt ist von den jüdischen Traditionen, der messianische Impuls Bahn. Noch vor der Gründung des Judenstaats wird jene Ambivalenz spürbar, wie sie Gershom Scholem später unmittelbar zur Sprache bringen konnte: Es sei kein Wunder, »daß die Bereitschaft zum unwiderruflichen Einsatz aufs Konkrete, das sich nicht mehr vertrösten will, eine aus Grauen und Untergang geborene Bereitschaft, die die jüdische Geschichte erst in unserer Generation gefunden hat, als sie den utopischen Rückzug auf Zion antrat, von Obertönen des Messianismus begleitet ist, ohne doch – der Geschichte selber und nicht einer Metageschichte verschworen – sich ihm verschreiben zu können. Ob sie diesen Einsatz aushält, ohne in der Krise des messianischen Anspruchs, den sie damit mindestens virtuell heraufbeschwört, unterzugehen – das ist die Frage, die aus der großen und gefährlichen Vergangenheit heraus der Jude dieser Zeit an seine Gegenwart und seine Zukunft hat.«
Die Krise des messianischen Anspruchs zeigt sich an Altneuland: Die Utopie, die Herzl im Jahr 1923 angesiedelt hat, dementiert die Einsichten des Judenstaats und legt nahe, dass die Juden für sich ein Land gewinnen und behalten können, ohne einen eigenen Souverän im klassischen Sinn zu benötigen. Ihre Gemeinschaft steht im Roman unter dem Schutz des Osmanischen Reichs. Spätere Anti- und Postzionisten glauben hier ein umfangreiches Arsenal für ihre Zwecke zu finden, indem sie das »Märchen«, das Herzl, wie er selbst sagt, nur »bei den Lagerfeuern erzähle, um meine armen Leute auf der Wanderung bei gutem Mut zu erhalten«, als »Herzls neue Theorie von Herrschaft und Macht« ausgeben, »die ihn weit über die meisten Nationalisten des 19. Jahrhunderts« hinaushebe: »Altneuland ist kein Nationalstaat, sondern eine ›Neue Gesellschaft‹ außer- und oberhalb des üblichen europäischen Nationalismus.« Dabei gibt sich die Utopie bei Herzl doch deutlich genug als phantastischer Roman zu erkennen, in dem die Zeit, ganz nach dem Willen des Osmanischen Reichs, stillgestellt scheint: der Sultan gibt den Juden das Land und erspart ihnen damit die Staatswerdung. Die »Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina«, wie der Roman sie sich ausmalt, regelt zwar, was sonst ein Staat regelt, nämlich Infrastruktur und innere Sicherheit, bleibt aber insofern ein bloß privates Unternehmen, als sie keine eigene Armee besitzt, um ihre Souveränität nach außen hin zu behaupten.
Eben darin besteht das falsch Utopische, und damit hängt aufs Engste das Märchenhafteste an diesem Märchen zusammen, das aus Tausendundeiner Nacht stammen möchte, dass es nämlich keine Antisemiten mehr gibt, eine Vorstellung, die allerdings bereits im Judenstaat vorbereitet ist: Die Rückkehr der Juden nach Palästina und der Einflussbereich der »Neuen Gesellschaft«, der über Beirut und Damaskus hinausreichte, erzeugte nach Herzls Staatsschrift keinerlei Spannung bei der arabischen Bevölkerung, denn diese profitierte in allem von den neuen Gegebenheiten.
Allein die Akkumulation von Reichtum, die in kapitalistischer oder genossenschaftlicher Form erfolgt, ließe nicht nur die Konflikte zwischen den Staaten und Bevölkerungsgruppen verschwinden, sondern auch den Wahn, den Herzl selber nicht auf diesen Begriff brachte: als den Wahn, die abstrakte Dimension des Kapitals im Judentum zu personifizieren. Bei den miteinander Arbeitenden, wie sie dann Altneuland zeigt, handelt es sich, in den Termini von Spinozas Philosophie ausgedrückt, nur um verschiedene Modi ein und derselben Substanz, die unter dem Gesichtspunkt der Selbsterhaltung gedacht wird. So entsteht ein Konglomerat, das der Einheit spottet; eine Gesellschaft ohne Staat und Religion als Einheitsstiftendes. Das Scheitern, eine freie Assoziation von Individuen zur Darstellung zu bringen, bestätigt noch einmal das Bilderverbot: Es rächt sich für den Verstoß darin, dass Herzl in diesem Roman über zwischenmenschliche Beziehungen erzählt, als hätte ihn Freiherr Adolph Knigge inspiriert.
In seiner weiteren politischen Tätigkeit als Gestor der Juden folgte Herzl jedoch den wirklichen Erkenntnissen des Judenstaats und gab rasch die Illusionen auf, die sich an den Sultan und den deutschen Kaiser geheftet hatten. Er wandte sich dem Westen und der englischen Regierung zu. Seine späten Reden betreffen vor allem die Vorschläge, die von dieser Seite als Ersatz für Palästina gemacht wurden, zum einen war das der Sinai, zum anderen Uganda. Dass Herzl auf sie einging, obwohl er doch betonte, dass »selbstverständlich das jüdische Volk kein anderes Endziel haben kann als Palästina«, hat einerseits mit der Notsituation der jüdischen Bevölkerung zu tun, die sich in Russland gerade zuspitzte, wie das Pogrom von Kischinew vor Augen führte, und jedes Provisorium war hier besser als gar nichts.
Andererseits wusste Herzl, dass er gegenüber dem englischen Hegemon ein gewisses Entgegenkommen signalisieren musste. In seinem letzten zionistischen Text begründet er anlässlich des Uganda-Angebots noch einmal, wie wichtig die Frage ist, an welche hegemoniale Macht man sich wende: »Es gibt keine kompliziertere politische Frage als die unsrige. Wir haben durchaus keine Almosen empfangen, und unsere Politik ist keine Bettelpolitik. Wir sind mit der englischen Regierung als Nation in Verhandlungen getreten und setzen diese Unterhandlungen als Nation fort. In der Ostafrikafrage fällt der Umstand stark ins Gewicht, daß der Kongreß von der territorial größten Macht der Welt offiziell als der Vertreter des jüdischen Volkes anerkannt wurde. Unsere Geschichte weiß kein ähnliches Beispiel mehr aufzuweisen.«







