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Widerspruch gegen die Solidarisierung mit Claudia Roth

Offener Brief aus jüdischen Gemeinden übt Kritik an Solidarisierung mit Claudia Roth
Offener Brief aus jüdischen Gemeinden übt Kritik an Solidarisierung mit Claudia Roth (© Imago Images / Metodi Popow)

Fünfzig linksliberale jüdische Prominente haben sich in einem offenen Brief mit Claudia Roth solidarisiert und den Zentralrat der Juden kritisiert. Dagegen richtet sich nun Widerspruch, auch aus jüdischen Gemeinden.

Dass es für die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth bei der diesjährigen Jewrovision, dem Gesangs- und Tanzwettbewerb jüdischer Jugendzentren, Buhrufe und Pfiffe vonseiten des jungen jüdischen Publikums während ihrer Rede in der Frankfurter Festhalle gab, hat für ein großes Echo gesorgt. 

Roths grüner Parteikollege Jürgen Trittin etwa sprach von einem »inszenierten Eklat«, ähnlich sah es Patrick Bahners, der in der FAZ schrieb, die Proteste seien »nicht spontan« gewesen, sondern organisiert. Und zwar vom Zentralrat der Juden selbst, dem Veranstalter also, der Roth eingeladen hatte und dennoch Verständnis für die Unmutsäußerungen von Teilen der Zuschauer äußerte. Die Kritik des Publikums zielte vor allem auf Roths Passivität gegenüber dem Antisemitismus auf der Kunstschau documenta und auf die Tatsache, dass sie der BDS-Resolution des Bundestags vom Mai 2019 nicht zugestimmt hat.

Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats, ließ im Interview der Jüdischen Allgemeinen durchblicken, die Staatsministerin habe selbst auf die Einladung hingewirkt. Dass sie teilnehmen wollte, habe ihn zwar gefreut, so Schuster, doch »an eine Rede, in diesem Kontext, knüpfen sich dann natürlich auch hohe Erwartungen«. Man müsse »konstatieren, dass es nicht reicht, bei so einem Event ohne ein ernsthaftes Angebot an die jungen Menschen teilzunehmen«. So habe sie etwa keine Ansätze vorgestellt, »wie jüdische oder antisemitismuskritische Beiträge zu unserer deutschen Kulturlandschaft in Zukunft frei von Angst und Boykottaufrufen gestaltet werden können«.

Sehr deutlich widersprach unter anderem Hanna Veiler, die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), der These, dass Roth bei der Jewrovision eine Falle gestellt worden sei: Es habe »weder eine Inszenierung seitens des Zentralrats der Juden noch eine Instrumentalisierung von Kindern und Jugendlichen« gegeben, schrieb sie in der taz. Vielmehr seien die Buhrufe und Pfiffe »eine natürliche Reaktion auf Ungerechtigkeit und die Missstände in Deutschland« gewesen. Die junge jüdische Generation fordere ihre Rechte ein. »Juden in Deutschland müssen Antisemitismus und das Hofieren von jenen, die ihn verbreiten, nicht schweigend hinnehmen«, so Veiler.

Offener Brief als Abrechnung

Veilers Vorgängerin im Amt der JSUD-Präsidentin, Anna Staroselski, fragte zu Recht, an Jürgen Trittin gerichtet: »Glauben Sie also, dass Kinder und Jugendliche mündig genug sind, mit Fridays For Future auf die Straße zu gehen, aber dafür, sich gegen Antisemitismusverharmlosung, was für viele jüdische Kinder und Jugendliche übrigens Alltag ist, zu wehren, nicht?« Fünfzig jüdische Prominente aus dem Bereich Kultur und Wissenschaft hingegen sind davon überzeugt, dass der Zentralrat die jungen Protestierer gedungen hat. »Orchestriert ausgebuht« worden sei Claudia Roth, behaupten sie in einem offenen Brief, ja, sogar »niedergebrüllt« worden sei ihre Rede.

Für Ersteres bleiben auch sie die Beweise schuldig, Letzteres ist nicht nur eine erhebliche Übertreibung, sondern schlicht unzutreffend, wie sich leicht feststellen lässt, wenn man die Videoaufzeichnung von Roths Ansprache betrachtet. Aber um einen solchen offenen Brief zu legitimieren, musste man die Geschehnisse auf der Jewrovision größer machen, als sie es waren. Unterzeichnet haben das Schreiben bekannte und in der Öffentlichkeit präsente jüdische Persönlichkeiten wie etwa Meron Mendel, Micha Brumlik, Eva Menasse, Igor Levit und Hanno Loewy. Man tut ihnen sicherlich nicht Unrecht, ordnet man sie dem linken und linksliberalen Spektrum zu.

»Nicht in unserem Namen«, ist der offene Brief überschrieben, und schon dieser Titel weist auf etwas hin, das der Autor Chajm Guski in einem äußerst lesenswerten Beitrag auf seinem Blog Sprachkasse treffend analysiert hat: Es handelt sich nicht nur um eine Solidaritätsbekundung für Claudia Roth, sondern vor allem um eine »Abrechnung mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland, dem hier bescheinigt wird, er könne sich nicht zu den Belangen aller Jüdinnen und Juden äußern«. Im offenen Brief heißt es: »Mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Juden gehört keiner jüdischen Gemeinde an, sie verstehen sich als säkular oder lehnen die partikularistische Politik des Zentralrats ab.«

Kampagne für Roth – oder gegen den Zentralrat?

Mit Recht fragt Guski, auf welche Datenbasis sich diese Aussagen stützen: »Wer hat diese Zahlen erhoben? Aus welchen Umfragen stammen sie? Wo sind sie zugänglich?« Die Initiatoren und Unterzeichner des Schreibens lassen diese Fragen offen. Klar ist dagegen, dass es sich hier um einen Konflikt handelt, »der Claudia Roth nicht betrifft, sondern das Selbstverständnis jüdischer Akteure«, wie Guski schreibt. »Sie wollen nicht, dass der Zentralrat für sie spricht.« Als Interessenvertretung der jüdischen Gemeinden tue er das allerdings auch gar nicht. Und die prominenten Unterzeichner müssten nicht befürchten, dass ihre Meinungen unter den Tisch fallen: »Sie haben Zugang zur Öffentlichkeit oder sind selber Multiplikatoren.«

Mendel, Levit, Menasse und andere wittern eine Kampagne gegen Claudia Roth, für die der Zentralrat in ihren Augen jüdische Jugendliche eingespannt hat. Dabei sind sie es selbst, welche die Buhrufe und Pfiffe gegen die Kulturstaatsministerin zum Anlass für eine Kampagne genommen haben – gegen den Zentralrat. »Viele Juden gestalten in Deutschland den Kulturbetrieb mit – es muss liberaler Konsens bleiben, dass Religionsgemeinschaften keinen Einfluss darauf nehmen«, schreiben sie. Dabei übersehen sie, »dass der Zentralrat der Juden in Deutschland gar keine religiöse Einrichtung ist, sondern der Dachverband der jüdischen Gemeinden«, wie Chajm Guski festhält.

Widerspruch aus dem Kreis der jüdischen Gemeinden

Aus dem Kreis dieser jüdischen Gemeinden, aber auch von weiteren jüdischen Bürgern kommt nun wiederum Widerspruch gegen den offenen Brief der fünfzig jüdischen Prominenten. In einem eigenen Schreiben, das ebenfalls mit »Nicht in unserem Namen« betitelt ist, wenden sich mehr als 150 Unterzeichner gegen die fünfzig »in der jüdischen Community in Deutschland umstrittenen jüdischen Akteure«. Sie bezeichnen sie als »Selbstdarsteller«, von denen keiner »für uns oder für die Mehrheit der Juden in unserem Land spricht«. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden in Düsseldorf, Nürnberg, Halle, Bamberg und Bonn.

In diesem offenen Brief heißt es, man beobachte seit Jahren mit großer Sorge, »wie Claudia Roth immer wieder mit notorischen Antisemiten gemeinsame Sache macht«. So erinnern die Unterzeichner etwa »an ihr ›High-Five‹ mit dem damaligen Botschafter des Mullah-Regimes in Deutschland, Ali Reza Sheikh Attar, auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2013«. Attar habe ab 2003 als Chefredakteur der Tageszeitung Hamsheri fungiert und sei damit der Hauptverantwortliche für die Austragung des internationalen Holocaust-Karikaturenwettbewerbs gewesen. Im Jahr 2015 habe Roth sich mit Ali Laridschani getroffen, »dem damaligen Parlamentssprecher des Iran, der sowohl 2007 als auch 2009 [auf] der Münchner Sicherheitskonferenz den Holocaust relativiert hatte«.

Zudem habe sich die Kulturstaatsministerin »gleichgültig, passiv und unbeeindruckt« gegenüber dem Antisemitismus auf der letztjährigen documenta gezeigt. Sie sei »mitverantwortlich dafür, dass übelste volksverhetzende Darstellungen von Juden gezeigt wurden«. Die betreffenden Werke seien »nicht ›nur‹ gegen Israel gerichtet« gewesen, »sondern gegen sämtliche Juden auf der Welt, damit auch gegen uns«. Angesichts dessen seien die Buhrufe und Pfiffe gegen Claudia Roth »eine Art Katharsis für die jüdische Jugend« gewesen, »aber auch für uns alle, die den vorliegenden Brief mitunterzeichnet haben«. 

Kritik an Roth und Mendel

Der Frust, der in den Unmutsäußerungen gegen Roth zum Ausdruck gekommen sei, »war authentisch und spiegelt die Frustration der deutschen Juden wider«. Der Protest sei »spontan und nicht orchestriert« gewesen. »Wir sind daher ganz besonders irritiert über die völlig haltlose und unbewiesene Behauptung von Dr. Meron Mendel, dem Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, der das Gegenteil behauptet und damit Nährstoff für Verschwörungstheorien bietet«, fährt der offene Brief fort. Roth habe sich »für ihr völlig inakzeptables Verhalten gegenüber uns Juden noch nie entschuldigt oder gar Fehler eingeräumt«. Daher sei es richtig und wichtig gewesen, »dass sie unmittelbar erfuhr, was die meisten Juden in Deutschland von ihr halten«. 

Man wolle nicht zulassen, so die Unterzeichner weiter, »dass fünfzig jüdische Akteure die spontane Reaktion der jüdischen Jugend bei der Jewrovision mit ihrem servilen Schreiben relativieren und damit den Eindruck zu erwecken versuchen, dass die Beziehung Claudia Roths zur jüdischen Bevölkerung Deutschlands durch das Verhalten der Politikerin nicht schwer beschädigt wäre«. Deshalb distanziere man sich vom offenen Brief dieser Akteure und ersuche »unsere Mitbürger, welcher Religion oder Weltanschauung sie auch angehören, um ihre Solidarität«.

Die Unterzeichner sprechen zudem eine »immer größer werdende gegenseitige Abhängigkeit von Institutionen und NGOs vom Staat« an, die »eine ehrliche und vor allem unabhängige Kritik gegenüber der Politik erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht«. Einige der fünfzig Unterzeichner des offenen Briefs von Meron Mendel und anderen hätten »ein persönliches finanzielles Interesse an den Zuwendungen des Staates«. Das ist zweifellos eine zutreffende Feststellung, allerdings lässt sich auch festhalten, dass nicht wenige derjenigen, die sich für Roth und gegen den Zentralrat verwenden, auch politisch mit der Kulturstaatsministerin weitgehend konform gehen. Hervorgetan haben sich die meisten von ihnen mit einer Kritik am Antisemitismus des iranischen Regimes, der BDS-Bewegung oder der documenta-Verantwortlichen jedenfalls genauso wenig.

Solidarisierung mit Protest der jungen Juden gegen Roth

Die 150 Kritiker der Solidarisierung mit Claudia Roth sind fast durchwegs erheblich weniger bekannt als die fünfzig Unterstützer des ersten offenen Briefs. Doch genau deshalb ist ihre öffentliche Entgegnung so beachtlich. Es sind nicht nur Vorsitzende, sondern auch weitere Funktionäre und Mitglieder jüdischer Gemeinden dabei, die es offensichtlich nicht mehr hinnehmen wollen, wenn linksliberale jüdische Prominente, die regelmäßig in den Feuilletons zu Gast sind, im Bereich der Kultur, Politik und Wissenschaft so etwas wie Koscherzertifikate ausstellen, den Antisemitismus damit herunterspielen und die Debatten wesentlich prägen. 

Sie erheben nun selbst das Wort und widersprechen deutlich. Außerdem solidarisieren sie sich mit jenen jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihrer Verärgerung über Claudia Roth sehr deutlich Luft gemacht haben – um sich anschließend mit autoritärem Gestus sagen lassen zu müssen, sie seien ja nur vom Zentralrat instrumentalisiert worden. Womöglich wissen Mendel, Levit, Menasse und andere nicht besonders gut, was diese vielen jungen Juden umtreibt, oder ihnen passt deren Haltung schlicht nicht in den Kram. 

Zwar können auch die 150 Unterzeichner des zweiten Briefs nicht für eine Mehrheit der Juden in Deutschland sprechen. Aber es ist bemerkenswert, dass sie sich öffentlich positioniert haben – neben dem Zentralrat und der JSUD und deutlich gegen den präsenten Teil der linken jüdischen Intellektuellen, die den Diskurs in ihren Feldern beeinflussen. Es ist ein deutliches Zeichen, ihnen das Feld nicht länger überlassen zu wollen und sich entschieden gegen Antisemitismus auch in seiner israelbezogenen Variante zu beziehen. Und dieser Widerspruch ist dringend notwendig.

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