Für Zeit Online geht eine Autorin beflissen der Frage nach, ob Israel überhaupt noch eine Demokratie ist. Um den Daumen so weit wie möglich senken zu können, verkehrt sie selbst Tatsachen, die recht offensichtlich gegen die gewünschte Antwort sprechen, ins Gegenteil. Zudem behauptet sie einen Widerspruch, wo es keinen gibt.
Wolfgang Pohrt, der viel zu früh verstorbene brillante Polemiker und scharfsinnige Kritiker der Verhältnisse, hat schon vor 40 Jahren auf den Punkt gebracht, was die deutsche „Israelkritik“ antreibt und woraus sie sich speist:
„Mit den Verbrechen, die Deutschland an den Juden und an der Menschheit beging, hat es sich eigenem Selbstverständnis gemäß das Vorrecht, die Auszeichnung und die Ehre erworben, fortan besondere Verantwortung zu tragen. Der Massenmord an den Juden verpflichte, so meint man, Deutschland dazu, Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde.“
Diese Art von selbstreferenziellem Bewährungshelfertum im Land der Wiedergutgewordenen (Eike Geisel) ist also keineswegs neu, aber immer wieder aufs Neue unangenehm.
Ein jüngeres Beispiel dafür ist der Text „Attacken von innen“, den Steffi Hentschke für Zeit Online verfasst hat. „Wie steht es um die Demokratie im Land?“, fragt sie im Vorspann, schließlich befinde sich Israel „in der schwersten politischen Krise seiner Geschichte“, seit Monaten gingen „Tausende Bürger auf die Straße“.
Dabei macht der jüdische Staat derzeit vor allem „wegen seiner erfolgreichen Corona-Impfkampagne von sich reden“, wie die Absolventin der Henri-Nannen-Journalistenschule eingangs festhält. Innerhalb von drei Wochen seien bereits rund 20 Prozent der Bevölkerung immunisiert worden; damit liegt das Land diesbezüglich weltweit mit großen Abstand vorne. Aber solche positiven Meldungen können natürlich nicht einfach stehen bleiben, wenn es um Israel geht.
Häufige Wahlen als Zeichen mangelnder Demokratie?
„Dieser Erfolg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Israel, 72 Jahre nach der Staatsgründung, in seiner tiefsten innenpolitischen Krise befindet“, schreibt Hentschke dann auch. Denn „zum vierten Mal binnen zwei Jahren stehen Ende März Parlamentswahlen an“, und eine Studie, in der 19 westliche Demokratien verglichen worden seien, habe ergeben, dass seit 1996 nirgendwo so oft gewählt worden sei wie in Israel. „Längst zweifeln viele im Land, ob Israel überhaupt noch eine Demokratie ist“, so die Autorin weiter.
Nun könnte man aus der Tatsache, dass regelmäßig demokratische Wahlen stattfinden, durchaus den Schluss ziehen, dass es sich beim betreffenden Land sehr wohl um eine Demokratie handelt. Dass knappe Mehrheitsverhältnisse und Kabinettsstreitigkeiten immer mal wieder zu Neuwahlen führen, steht nicht im Widerspruch dazu.
In den palästinensischen Autonomiegebieten dagegen wurde seit 2005 nicht mehr gewählt, dort startete Mahmud Abbas gerade ins siebzehnte Jahr seiner vierjährigen Präsidentschaft. Protestiert wird dagegen nicht, während in Israel „seit Monaten Tausende Bürgerinnen und Bürger auf die Straße“ gingen und „eine Erosion demokratischer Strukturen“ kritisierten, wie Steffi Hentschke schreibt.
Auch diese Demonstrationen selbst könnte man als Ausdruck einer funktionierenden Demokratie betrachten. Ebenso, dass derjenige, gegen den protestiert wird, nämlich Premierminister Benjamin Netanjahu, „wegen krimineller Vergehen, wegen Korruption, Untreue und Bestechung, vor Gericht steht“, wie Hentschke es formuliert.
Genauer gesagt: Er steht dort, weil ihm diese Verfehlungen vorgeworfen werden. Die Unschuldsvermutung gilt bis zum Beweis des Gegenteils schließlich bei aller Kritik auch für ihn.
Jüdisch und demokratisch ist kein Widerspruch
Rechtsstaatliche Verfahren sind in Israel jedenfalls selbstverständlich, auch prominente Politiker werden von der Justiz nicht verschont. So gehört sich das in einer Demokratie.
Netanjahus Vorgänger Ehud Olmert und der frühere Staatspräsident Mosche Katzav mussten sogar ins Gefängnis; das Urteil gegen Katzav sprach dabei letztinstanzlich ein arabischer Israeli, der als Richter am Obersten Gerichtshof tätig ist. Was nicht weiter erwähnenswert wäre, wenn gegen Israel nicht immer wieder der dämonisierende Vorwurf erhoben würde, ein „Apartheidstaat“ zu sein.
So weit geht die Zeit-Autorin zwar nicht, doch hält sie es für einen Widerspruch, ja, für einen Gegensatz, dass Israel sich als demokratisch und jüdisch versteht – „beißt sich der Anspruch, ein jüdischer Staat zu sein, doch mit dem demokratischen Grundrecht auf Religionsfreiheit“.
Das aber stimmt nicht, Israel gewährt diese Freiheit sämtlichen Glaubensgemeinschaften, so wurde es bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1948 verankert. Diese Gemeinschaften haben sogar eigene Gerichte, die für alle religiösen und personenstandsrechtlichen Dinge wie beispielsweise Ehe und Scheidung zuständig sind.
Hentschke zitiert sogar den Satz in der Unabhängigkeitserklärung, in dem es heißt, dass Israel „all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen“ werde. Gleich danach steht dort übrigens, dass der israelische Staat Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährleiste.
Wer es trotzdem für problematisch oder gar undemokratisch hält, dass der Souverän in Israel jüdisch ist, kann sich, um es zurückhaltend zu formulieren, mit der Geschichte, Gegenwart und Wirkmächtigkeit von Antisemitismus nicht allzu intensiv befasst haben. Nur in Israel sind die Jüdinnen und Juden keine Minderheit, deren Wohl und Wehe von der Mehrheit abhängig ist.
Zweierlei Maß
Für die Überprüfung, ob Israel auch wirklich noch demokratisch ist, hat Steffi Hentschke mit einem ehemaligen Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs, einem Mitbegründer der israelischen Journalistenunion, zugleich Mitarbeiter der linken Tageszeitung Haaretz, und einem arabisch-israelischen Rechtsanwalt gesprochen.
Was sie kritisieren – von der Schelte der Politik für die Justiz über politische Einflussnahme auf die Medien bis hin zur Diskriminierung von Minderheiten –, sind Probleme, Maßnahmen und Entwicklungen, die es in ähnlicher Form auch in anderen demokratischen Ländern gibt. Das macht sie nicht weniger kritikwürdig, aber im Normalfall käme keine deutsche Journalistin auf die Idee, deshalb den demokratischen Charakter dieser Staaten zu hinterfragen.
Doch wenn es um Israel geht, werden selbst Tatsachen, die für eine große Lebendigkeit dieser Demokratie sprechen – in einem Land, wohlgemerkt, dessen autoritär regierte Nachbarn es seit seiner Gründung immer wieder mit kriegerischen Angriffen und Vernichtungsdrohungen überziehen –, ins Gegenteil verkehrt.
Immerhin hat Hentschke nicht auch noch die raschen Impfungen zu einem vermeintlichen Beleg dafür verdreht, dass es im jüdischen Staat undemokratisch zugeht.
Darin unterscheidet sie sich von Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, der in der Talkshow „Anne Will“ mit Blick auf das eher mäßige Impftempo in Deutschland gesagt hatte: „So schnell wie Israel werden wir es nicht schaffen. Aufgrund der bei uns notwendigen rechtlichen Beratung können wir das nicht im Drive-in-Verfahren machen. Wir sind immer noch ein Rechtsstaat.“
Wie richtig Wolfgang Pohrt doch mit seiner glänzenden Polemik lag.