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Wenn ein UNRWA-Chef in Gaza die Wahrheit sagt

Demonstration gegen den UNRWA-Direktor Matthias Schmale in Gaza
Demonstration gegen den UNRWA-Direktor Matthias Schmale in Gaza (© Imago Images / ZUMA Wire)

Nachdem UNRWA-Direktor Matthias Schmale Israels Luftschläge in einem TV-Interview als „präzise“ bezeichnet hatte, halfen ihm alle Entschuldigungen bei der Hamas nichts mehr: Er musste Gaza verlassen.

Ulrich W. Sahm / Elisabeth Lahusen

Ein Interview des Gaza-Direktors für das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), Matthias Schmale, am 22. Mai mit dem Journalisten Arad Nir von Channel 12 des israelischen Fernsehens löste große Empörung bei der Hamas und der Vereinigung palästinensischer Nichtregierungsorganisationen (PNGO) bis hin zum „Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte“ (PHROC) aus.

Schmale bestätigte auf Nachfrage, dass die militärischen Schläge durch die IDF sehr präzise gewesen seien und bis auf wenige Ausnahmen kaum zivile Opfer gefordert hätten. Und er lässt im Interview keinen Zweifel daran, dass er von Seiten der Hamas im günstigsten Fall lediglich keine Störungen erwartet.

Oberflächlich ging es um das palästinensische Narrativ, dass Israel unkontrolliert Zivilisten getötet hätte. Dahinter steht die Tatsache, dass der internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag im Gazastreifen ermittelt, weil dessen gambische Chefanklägerin Fatou Bensouda zur Freude der Palästinenser offensichtlich deren Hoffnung teilt, Israel endlich wegen vermeintlicher „Kriegsverbrechen“ anklagen zu können.

Auch hierbei würde ein UNRWA-Chef, der nicht im Sinne der Hamas mitspielt, nur stören. Obwohl sich Schmale nach dem Interview über Tage hinweg immer wieder öffentlich entschuldigte, wollte ihn die Hamas nicht mehr in Gaza dulden und forderte seine umgehende Absetzung. Am 2. Juni wurde Schmale zusammen mit seinem Stellvertreter von seinem Posten abgezogen. „Zu einem längeren Urlaub“, wie es heißt.

Der „Gouverneur von Gaza“

Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten betreibt in Gaza 275 Schulen für die Klassenstufen 1-9 (für nicht registrierte Flüchtlinge, die etwa 30% ausmachen und alle Jugendlichen ab Klasse 10 ist die PA zuständig), 22 Basis- Gesundheitsstationen, die pro Quartal von einer Million Menschen besucht werden und alle Formen von Sozialarbeit.

Der Gaza-Chef von UNRWA ist für ungefähr 1,3 Millionen bzw. 70 Prozent der Menschen im Gazastreifen verantwortlich und damit der größte öffentliche Arbeitgeber. Matthias Schmale wurde deshalb gern als „Gouverneur von Gaza“ bezeichnet. Vor seinem Wechsel in den Gazastreifen 2017 war Schmale nach eigenen Aussagen über ein Jahrzehnt in Leitungsfunktion im Internationalen Roten Kreuz in Genf tätig und anschließend für anderthalb Jahre als UNRWA – Chef im Libanon.

In Gaza hatte er gleichwohl nur wenig zu bestimmen. In einem Interview mit „Jung& Naiv“ im Oktober 2018 schilderte Schmale, wie seine Arbeit aussieht. Es ist eine „non family duty station“ – das heißt, seine Frau und Kinder sind in Genf, weshalb er alle zwei Monate eine zusätzliche Urlaubswoche erhält.

Schmale hat keinerlei persönliche Kontakte in Gaza, sondern wird morgens von Bodyguards zu seinem Arbeitsplatz begleitet und abends wieder zurück in sein Appartement. Er machte sich von Anfang an keine Illusionen, wer in Gaza: „Wir sind im Prinzip natürlich in einem Gebiet, was von Hamas kontrolliert wird“ (Min.14:13) Umso erstaunlicher, dass er nun nach drei weiteren Jahren in Gaza in dem Interview mit dem israelischen Fernsehen so deutlich wurde:

Arad Nir: „Israelische Beamte behaupten, die Bombardements seien sehr präzise gewesen. Was ist Ihr Eindruck in dieser Frage?“

Matthias Schmale: „Ich bin kein Militärexperte, aber ich würde das nicht bestreiten. Ich habe auch den Eindruck, dass die Art und Weise, wie das israelische Militär in den letzten 11 Tagen zugeschlagen hat, eine enorme Raffinesse hat.

Aber das ist nicht mein Thema. Mein Problem ist ein anderes. Ich hatte viele Kollegen, die mir beschrieben haben, dass sie das Gefühl haben, dass die Schläge im Vergleich zum Krieg von 2014 dieses Mal viel bösartiger in Bezug auf ihre Auswirkungen waren. Also ja, sie haben mit einigen Ausnahmen keine zivilen Ziele getroffen, aber die Bösartigkeit, die Grausamkeit der Angriffe war stark zu spüren.

Ich war zum Beispiel in einem Büro einer Kollegin, wo unter ihrem Schreibtisch ein großer Stein lag, der durch das Fenster geschleudert wurde. Durch das Dach, eher durch die Wucht der Explosion. Wenn sie also noch an dem Schreibtisch gesessen hätte, wäre sie jetzt schon tot. So hoffen wir, dass es nie wieder einen Krieg geben wird. Sie werden wissen, wenn es Sie interessiert, dass mehr als 60 Kinder getötet wurden, von denen 19 in UNWRA-Schulen gingen.

Ich denke, diese Präzision war vorhanden, aber es gab inakzeptable und unerträgliche Verluste an Menschenleben auf der zivilen Seite.“

Arad Nir: Und wie beteiligen sich die Hamas-Behörden an der Last des Wiederaufbaus und der Sanierung?

Matthias Schmale: „Man kann an einem Ort wie Gaza nicht arbeiten, ohne sich mit den lokalen Behörden abzustimmen. Das gilt für jedes autokratische Regime dieser Art. Meine Hoffnung ist, dass sie uns, sobald unsere Pläne klar werden und Ressourcen zur Verfügung stehen, den humanitären Freiraum geben oder erlauben, den wir brauchen, um unsere Arbeit zu erledigen.”

Nir hatte keine weiteren Fragen.

Die Hamas ist not amused

Das Interview schlug ein wie die sprichwörtliche Bombe. Noch nie hatte ein Vertreter der UNRWA sich nicht gegen Israel positioniert. Auch Schmale selber war zuvor immer auf Linie geblieben. Die großen palästinensischen NGOs verurteilten sein Statement öffentlich.

Die Hamas war empört, sie warf Schmale vor, er wolle Israel entlasten, und sagte, „seine Kommentare sind eine völlige Verzerrung zugunsten der Zionisten.“ Folgerichtig verlangte sie seine sofortige Ablösung. Schmale reagierte umgehend mit Unterwerfungsgesten auf die Kritik und twitterte am 25 Mai:

„Jüngste Bemerkungen, die ich im israelischen Fernsehen gemacht habe, haben diejenigen beleidigt und verletzt, deren Familienmitglieder und Freunde während des gerade beendeten Krieges getötet und verletzt worden sind. Ich bedauere es wirklich, ihnen Schmerzen bereitet zu haben, und wiederhole für Sie die folgenden Punkte, die ich durch unzählige Interviews und Tweets deutlich gemacht habe.

Es gibt keinerlei Rechtfertigung für die Tötung von Zivilisten. Jeder getötete Zivilist ist einer zu viel. Es ist einfach unerträglich, dass so viele unschuldige Menschen mit ihrem Leben bezahlt haben. Militärische Präzision und Raffinesse sind niemals eine Rechtfertigung für Krieg.

Viele Menschen wurden durch direkte Treffer oder als Kollateralschäden durch militärische Schläge getötet oder schwer verletzt. An einem so dicht besiedelten Ort wie Gaza muss jeder Einschlag enorme schädliche Auswirkungen auf Menschen und Gebäude haben.“

Aber seine Beschwichtigungsversuche halfen nicht mehr, die Kritik riss nicht ab. Nach seinen Beteuerungen warfen ihm auch israelische Medien vor, dass er vor der Hamas eingeknickt wäre.

Schmale muss Gaza verlassen

Die Aussagen Schmales fassen das ganze Dilemma der internationalen Hilfswerke in Terrorgebieten zusammen: Man hat keine Handhabe gegen die Willkür autokratischer Regime. Man hofft lediglich, dass man die Erlaubnis bekommt, den Zivilisten zu helfen und muss daher ständig auf der Hut sein, örtliche Machthaber bloß nicht zu reizen. Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass Matthias Schmale bei all seinen Entschuldigungen seine Einschätzungen des militärischen Geschehens nie explizit zurückgenommen hat.

Ob Schmales Aussagen in Den Haag irgendwann bei einer Klage gegen Israel Bestand haben, oder ob das palästinensische Narrativ sich auch international juristisch durchsetzt, wird sich zeigen. Mitte Juni wird der britische Jurist Karim Khan die Rolle des Chefanklägers beim Internationalen Strafgerichtshof übernehmen und Fatou Bensousa im Amt ablösen und. Ob sich damit auch das antiisraelische Ressentiment des IStGH verabschiedet, wird sich zeigen.

Die Bild-Zeitung meldete inzwischen: „Am Mittwoch verließ Schmale gemeinsam mit seinem Stellvertreter David de Bold den Gaza-Streifen. Die Hamas hatte zuvor ein Statement gegen den UNRWA-Direktor veröffentlicht. Darin erklärte die Terrorgruppe unter anderem: ‚Wir wollen Schmale daran erinnern, dass sein eigentlicher Job ist, sich um palästinensische Flüchtlinge zu kümmern und nicht die israelische Aggression zu rechtfertigen, die Kinder tötet und Häuser zerstört.‘“

Die UNRWA, so fordert die Hamas weiter müsse jetzt eine offizielle Entschuldigung an das palästinensische Volk aussprechen. Darüber hinaus müsse die UNO rechtliche Schritte gegen Schmale einleiten.

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