Wie die Jerusalemer Erklärung die BDS-Bewegung verharmlost

Kundgebung von Befürwortertn der Israel-Boykottbewegung BDS in London. (© imago images/ZUMA Wire)
Kundgebung von Befürwortertn der Israel-Boykottbewegung BDS in London. (© imago images/ZUMA Wire)

Die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ gibt sich als rein wissenschaftliches Dokument, ist aber eine politisch motivierte Deklaration. Ihre Urheber und Unterzeichner wollen den Hass auf Israel kleinreden und ihn vom Stigma des Antisemitismus befreien. Dabei exkulpieren sie auch die Israel-Boykottbewegung BDS, die aus ihrer Sicht „nicht per se antisemitisch“ ist.

Bescheidenheit ist eher keine Eigenschaft, die man mit den 200 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ in Verbindung bringen würde. Dass sie ihre Deklaration für ganz besonders bedeutend halten, lassen sie schon am Aufbau des Dokuments deutlich werden: Es beginnt mit einer „Präambel“ – ganz so, als handelte es sich um eine Urkunde, gar so etwas wie einen völkerrechtlichen Vertrag, jedenfalls um ein Schriftstück mit Gesetzeskraft –, bevor eine kurze Definition von Antisemitismus und ausführliche „Leitlinien“ folgen, die den Kern der Erklärung bilden. Sodann stellt man sich selbst noch ein paar Fragen und beantwortet sie auch gleich. Zudem wird mehrfach die Wissenschaftlichkeit der Deklaration betont, die sich schon aus dem beruflichen Tun der Autoren und Unterzeichner ergeben soll („internationale Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung und in verwandten Bereichen arbeiten“).

Man sieht sich in der Tradition großer Erklärungen, etwa jener der Menschenrechte von 1948, und ist überzeugt, eine „anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus“ vorzulegen, die viel besser ist als jene, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verabschiedet und seitdem von zahlreichen Staaten, Regierungen, Parlamenten, Verbänden, Einrichtungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen wurde. Die Unterzeichner empfehlen ihre Erklärung jedenfalls ausdrücklich „als Alternative zur IHRA-Definition“; sie sei „klarer, kohärenter und nuancierter“ sowie „stichhaltiger“ und spiegle „klar die fachliche Autorität wissenschaftlicher Expert:innen aus den relevanten Feldern wider“.

Der apodiktische Ton, das unangenehme Selbstlob und das aufdringliche Hervorheben der eigenen Autorität wirken unsouverän und vermitteln den Eindruck, dass man Widerspruch nur ungern duldet. Die Erklärung, schrieb Jürgen Kaube in der FAZ, wolle zwar urkundenfähig sein, doch viele Unterzeichner seien weder Holocaustforscher noch betrieben sie Jüdische Studien oder Studien zum Nahen Osten. Manche seien Historiker oder Frühneuzeitforscherin, Philosophin oder Schriftstellerin, Mittelalter-Spezialist oder Musikwissenschaftler. Sie hätten unterschrieben, „weil sie die Deklaration befürworten, nicht, weil sie über Antisemitismus, Palästina, den Staat Israel oder das gegenwärtige Judentum forschen“.

Eine politische Erklärung im Gewand einer wissenschaftlichen Analyse

Die Deklaration ziele deshalb auch nicht auf Forschung, so Kaube, „sie will vielmehr das öffentliche Gespräch umorientieren und bedient sich dazu des Renommees von Wissenschaft als solcher“. Es ist also eine politische Erklärung, die im Gewand einer wissenschaftlichen Analyse daherkommt, und deshalb ist es auch ausgesprochen albern, das abzustreiten, etwa durch die Beteuerung, keine politischen Absichten „in Bezug auf Israel und Palästina“ zu verfolgen. Die Unterzeichner stammen aus dem linken und linksliberalen Spektrum, die deutschen unter ihnen – wie Aleida Assmann, Wolfgang Benz, Micha Brumlik oder Hanno Loewy – fand man zuletzt regelmäßig unter allerlei offenen Briefen und Erklärungen, in der Mbembe-Debatte etwa, in der Diskussion um die „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ oder im Streit über das Jüdische Museum in Berlin.

Sie alle sind schon länger um etwas bemüht, das Matthias Küntzel im Perlentaucher zu Recht auch als Essenz der Jerusalem-Erklärung bezeichnet: Es gehe „nicht um eine Präzisierung der Antisemitismus-Definition der IHRA, sondern um die Freisprechung vom Antisemitismusverdacht, sofern es um Äußerungen oder Aktionen gegen Israel geht“. Die Urheber der Erklärung wollten „einen Freibrief für israelbezogenen Antisemitismus“ und interessierten sich nicht „für die Erkenntnisse, die in den letzten Jahrzehnten bei dessen Erforschung gemacht wurden“, sondern wollten zum „Status quo ante zurück“.

Anders, als es medial verschiedentlich dargestellt worden sei, stamme die Deklaration auch keineswegs aus der Feder der renommiertesten Holocaustforscher, so Küntzel: „Abgesehen von Michael Wildt [und Omer Bartov; Anm. Mena-Watch] hat kein einziger der renommierten Holocaustforscher die Erklärung unterschrieben – weder Yehuda Bauer noch Peter Longerich, weder Saul Friedländer noch Christopher R. Browning, weder Ulrich Herbert noch Deborah Lipstadt.“ Von diversen Instituten, die den Antisemitismus weltweit untersuchten, seien lediglich zwei vertreten: das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung und das Birbeck-Institut aus London. Küntzel resümiert daher: „Es ist weniger der spezifische Sachverstand, der die Unterzeichner dieser Erklärung zusammenbringt, als vielmehr der politische Wille, den Israelhass vom Stigma des Antisemitismus zu befreien.“

BDS – nur eine gängige Protestform?

Die Urheber ärgern sich über die IHRA-Definition, die auch den israelbezogenen Antisemitismus einschließt und ihm dabei ein großes Gewicht verleiht. Das lege „einen unangemessenen Schwerpunkt auf einen bestimmten Schauplatz“, heißt es in der Jerusalemer Erklärung. Weil aber „wirklich ein großer Bedarf an Klarheit über die Grenzen legitimer politischer Äußerungen und Handlungen in Bezug auf Zionismus, Israel und Palästina“ bestehe, sind gleich zehn der fünfzehn Punkte in den „Leitlinien“ diesem Themenkomplex gewidmet. Fünf davon sollen Beispiele sein, „die nicht per se antisemitisch sind“, etwa „Kritik oder Ablehnung des Zionismus als eine Form von Nationalismus“ oder „faktenbasierte Kritik an Israel als Staat“.

„Nicht per se antisemitisch“ soll so viel heißen wie: Es kommt darauf an. Worauf genau, bleibt allerdings unklar. Wann etwa der „Vergleich Israels mit historischen Beispielen“ – explizit genannt werden „Siedlerkolonialismus“ und „Apartheid“, aber NS-Vergleiche gehörten gewiss auch hierhin – nicht antisemitisch sein soll, obwohl er in aller Regel kein anderes Ziel verfolgt als die Dämonisierung und Delegitimierung des jüdischen Staates, lässt die Erklärung offen. Mit Blick auf die BDS-Bewegung wiederum heißt es knapp: „Boykott, Desinvestition und Sanktionen sind gängige, gewaltfreie Formen des politischen Protests gegen Staaten. Im Falle Israels sind sie nicht per se antisemitisch.“

So gängig ist BDS, dass es trotz rund 20 Kriegen und bewaffneten Konflikten und trotz diverser Besatzungen weltweit gegenwärtig nur eine einzige entsprechende Bewegung respektive Kampagne gibt – nämlich die gegen Israel gerichtete. Der Deutsche Bundestag hat sie im Mai 2019 in einer Resolution als antisemitisch verurteilt und unter anderem deutlich gemacht: „Die Aufrufe der Kampagne zum Boykott israelischer Künstlerinnen und Künstler sowie Aufkleber auf israelischen Handelsgütern, die vom Kauf abhalten sollen, erinnern […] an die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte. ‚Don’t Buy‘-Aufkleber der BDS-Bewegung auf israelischen Produkten wecken unweigerlich Assoziationen zu der NS-Parole ‚Kauft nicht bei Juden!‘ und entsprechenden Schmierereien an Fassaden und Schaufenstern.“

BDS ist auch ein Angriff auf das Judentum

Nach der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA, die sich auch der Deutsche Bundestag zu eigen gemacht hat, ist BDS unzweifelhaft antisemitisch. Doch selbst wenn man – wie die Unterzeichner der Jerusalemer Erklärung – der Ansicht ist, dass diese Definition die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an der israelischen Regierungspolitik nicht klar genug zieht, kommt man nicht um die Feststellung herum, dass die Bewegung antisemitisch ist. Gewiss, BDS behauptet, nicht gegen Juden, sondern gegen den Staat Israel und die „Vermischung von Zionismus und Judentum“ zu sein. Die Gleichsetzung der Ablehnung Israels mit Antisemitismus vermische „die Interessen des israelischen Staates mit [denen] der heterogenen jüdischen Bevölkerung in und außerhalb Israels“.

Nun ist es selbstverständlich richtig, dass Israel nicht für alle Juden weltweit sprechen kann, und ebenso wahr ist es, dass Juden außerhalb Israels nicht einfach mit dem jüdischen Staat identifiziert werden dürfen. Zugleich besteht für die Mehrheit der Juden, auch außerhalb Israels, kein Zweifel daran, dass Israel ein wichtiges, wenn nicht gar das wichtigste Symbol des zeitgenössischen Judentums ist. Für sehr viele ist die Unterstützung des jüdischen Staates vielfach der entscheidende Bestandteil ihres jüdischen Selbstverständnisses.

Das heißt nicht, dass sie automatisch die Politik der jeweiligen israelischen Regierung unterstützen. Aber es bedeutet sehr wohl, dass sie sich dem jüdischen Staat verbunden fühlen, weil das Bekenntnis zu Israel als der Verkörperung des Rechts der Juden auf Selbstbestimmung und Souveränität in Eretz Israel selbstverständlich zu ihrem Judentum dazugehört. Auch dann, wenn sie nicht dort leben. Weil rund vier Fünftel aller Juden in den USA und Europa sich verschiedenen Umfragen zufolge dem jüdischen Staat eng oder sehr eng verbunden fühlen – unabhängig von einer konkreten Regierung –, empfinden viele von ihnen es als einen Angriff auf das Judentum, wenn die BDS-Bewegung den einzigen jüdischen Staat der Welt ständig in den Dreck zieht.

Wenn die BDS-Bewegung also behauptet, sie richte sich nicht gegen Juden, dann geht sie dabei über die große Mehrheit der heute lebenden Juden hinweg, in deren Selbstverständnis Israel sehr wohl eine große Bedeutung zukommt. Da die Israel-Boykotteure den Zionismus grundsätzlich für verbrecherisch halten, richtet sich ihr Hass zwangsläufig auch gegen den überwältigenden Großteil der Juden außerhalb Israels, sofern diese nicht bereit sind, sich von ihrem Verständnis des Judentums zu verabschieden. Für einen derartigen Angriff auf ein wichtiges Symbol des Judentums und auf eine wesentliche Komponente jüdischer Identität gibt es einen Begriff: So etwas nennt man Antisemitismus.

Eine per se antisemitische Bewegung

Antisemitisch in diesem Sinne ist aber nicht nur die Propaganda der BDS-Bewegung, sondern auch das Ziel, das sich aus den zentralen Forderungen der Israel-Boykotteure ergibt: die Beseitigung Israels als jüdischer Staat. Nach der weitgehenden Vernichtung der europäischen Juden und der fast vollständigen Flucht und Vertreibung der orientalischen Juden gibt es heute zwei Zentren des Judentums: die USA und Israel. Die Beseitigung des jüdischen Staates, also die Zerstörung eines dieser beiden Zentren und des dort entstandenen israelischen Judentums, wäre ein für das Judentum nicht verkraftbarer Schlag.

Übrig blieben dann – neben den verhältnismäßig kleinen Gemeinden in Europa und anderswo – nur noch die USA mit ihren schrumpfenden jüdischen Gemeinden. Darin ein Untergangsszenario für das Judentum insgesamt zu sehen, ist keine Übertreibung. Wenn es so ist, dass die Umsetzung der Forderungen der Israel-Boykotteure das Ende des jüdischen Staates bedeuten würden, dann zielt die BDS-Bewegung auf nichts Geringeres ab, als dem Judentum insgesamt so schweren Schaden zuzufügen, dass dessen weitere Existenz gefährdet wäre.

Aus diesem Blickwinkel kann der Befund daher ebenfalls nur lauten: Unabhängig von den Niederungen ihrer alltäglichen, dämonisierenden Propaganda handelt es sich bei BDS um eine fundamental – und damit per se – antisemitische Bewegung. Und eben nicht, wie die Jerusalemer Erklärung glauben machen will, bloß um eine „gängige, gewaltfreie Form des politischen Protests gegen Staaten“. Den wissenschaftlich verbrämten Versuch einer Exkulpation von BDS, wie er in der Deklaration unternommen wird, darf man deshalb auch als so durchschaubar wie gescheitert betrachten.

(Mehr zum Thema BDS finden Sie in dem Buch „Die Israelboykottbewegung. Alter Hass in neuem Gewand“ von Alex Feuerherdt und Florian Markl, das beim Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist.)

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