In Berlin erinnert eine internationale Ausstellung an das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 auf dem Nova-Festival. Ein Bericht über einen erschütternden und zugleich aufbauenden Besuch.
Geneviève Hesse
Ich will eigentlich nicht hingehen. Drei Freundinnen von mir auch nicht. »Warum sollte ich mir diese barbarischen Videos anschauen, die mir den Schlaf rauben?«, fragen sie. Und ich frage mich das ebenfalls. Von den über 4.000 Besuchern vom Nova-Festival wurden 411 grausam ermordet, Hunderte verletzt und 43 als Geiseln genommen. Die Gräueltaten der Terroristen am 7. Oktober 2023 haben mich monatelang nicht losgelassen – und das nur durch das Lesen darüber. Soll ich mir nun wirklich das antun, was selbst die Flottilla-Aktivistin Greta Thunberg abgelehnt hat, um ihre Seele zu schützen? Als sie im vergangenen Juni kurzzeitig in Israel festgehalten wurde, hätte ihr das Verteidigungsministerium gerne die Bodycam-Aufnahmen der Terroristen gezeigt.
Trotzdem gehe ich zur Ausstellungseröffnung in Berlin am 7. Oktober – mit journalistischer Distanz als innerem Schutzschild. Schließlich erweisen sich meine Sorgen als unbegründet. Wie ich später erfahre, wurden die schlimmsten Szenen aus den Videos der Ausstellung »Oct 7, 06:29 am – The Moment Music Stood Still« herausgeschnitten. Die Ausstellung ist geprägt von einem Leitgedanken der Heilung und wirkt dadurch überraschend anders. Sie beginnt mit Liebe und Tanz, führt durch eine Zone der Barbarei und endet schließlich unter dem Motto »We will dance again« wieder im Licht.
Der Besuch beginnt sanft mit entspannter Trance-Musik, die schon in der langen Schlange vor dem dritten und letzten Taschencheck durch freundliches Sicherheitspersonal zu hören ist. Es könnte auch der Eingang zu einem angesagten Club sein. Auf dem schwarzen Teppichboden leuchten als eine Art Einladung zum Loslassen in großer, weißer Schrift Worte wie »Community«, »Compassion«, »Recovery«, »Support« oder »Faith«.
In kleinen Gruppen betreten die Besucher einen Raum und sehen einen Kurzfilm. Menschen tanzen auf dem Nova-Festival – sie strahlen Euphorie und Ekstase aus, wirken genussvoll, liebevoll, verbunden. Der Sonnenaufgang steht kurz bevor und verspricht Wunderschönes. Auch in der Rückschau leuchten die Augen von zwei Überlebenden, Omri Kohavi und seine Frau Idan, wenn sie von diesen letzten Momenten gegen 6:15 Uhr erzählen. In der letzten Szene eilt ein Mann vom Backstage-Bereich zum DJ – die Musik soll sofort beendet werden. Der DJ versteht erst, als er die Worte »Roter Alarm« hört. Es ist 6:29 Uhr, am 7. Oktober 2023, nahe der Grenze zum Gazastreifen.
»Bitte setzen Sie Ihren Besuch durch den Eingang hinter Ihnen fort«, erscheint nun auf der Leinwand.
Barbarei
Ich zucke innerlich zusammen – was erwartet mich nun hinter dem schwarzen Vorhang? Leicht verzweifelt frage ich eine Sicherheitsmitarbeiterin, wie ich den verstörenden Videos ausweichen kann. Sie weiß es nicht, erkundigt sich aber und kommt rasch zurück: Ich solle vermeiden, »die Bildschirme in den Zelten anzuschauen«.
Hinter zwei schwarzen Vorhängen öffnet sich der erste Ausstellungsbereich in einer großen Halle des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Chaos und Verwüstung dominieren das Bild. Man muss vorsichtig gehen, um nicht über Objekte am Boden zu stolpern.
Vielleicht meinte die Sicherheitsfrau »an« statt »in«, denn in den halb offen hinterlassenen Zelten der Feiernden sehe ich keine Bildschirme flackern. Diese stehen oder liegen direkt daneben – umgeben von zurückgelassenen Habseligkeiten: ein begonnenes Backgammon-Spiel, Verhütungspillen, Kosmetikartikel, leere Snacktüten, Kuscheltiere, Brillen, Hüte, Schals, Flaschen. »Die Videos, Objekte und Besitzstücke, die Sie vor sich sehen, sind vollkommen authentisch«, erklärt ein Text. Er lädt dazu ein, »diese Dinge zu berühren« und »sich die Handys zu nehmen«, um die Videos zu sehen.
Auf dem Boden liegen Teppiche in unterschiedlichen Farben und Materialien. Im Raum verteilt stehen beleuchtete, verkohlte Autowracks, dazwischen Bäume und Bildschirme unterschiedlicher Größen, die Videos in Dauerschleifen zeigen, untertitelt auf Englisch und Deutsch. Zum visuellen Chaos passt der dissonante Klangraum: Die Originaltöne der Bildschirme überlappen sich. Immer wieder sticht der Ruf »Allahu Akbar« hervor – ich wende mich dann schnell ab.
Ein leichter Nebel liegt in der Luft, fast metaphysisch. Auf der einen Seite stehen durchlöcherte Dixi-Klos, auf der anderen ein grauer Betonschutzraum – einer von vielen, der sich als tödliche Falle erwies. »An jenem Samstag bedeuteten zufällige Entscheidungen den Unterschied zwischen Leben und Tod«, steht auf einer Erklärungstafel.
Auf einem Bildschirm sehe ich in Großformat das Gesicht eines jungen, blonden Mannes mit blauen Augen. Er trägt ein rosafarbenes T-Shirt, liegt im Gebüsch, fast regungslos. Schüsse im Hintergrund. Seine weit geöffneten, sich langsam bewegenden Augen wirken erstaunlich sanft – und erschrocken zugleich. »Wir verstecken uns vor den Terroristen. Es ist nicht schlimm, keine Panik«, flüstert eine junge Frau, Noa Kalash, auf dem nächsten Bildschirm. »Ich nehme ein Video auf, damit es erhalten bleibt. Ich möchte einfach nur nach Hause. Ich hoffe wirklich, dass wir hier bald rauskommen.« Wie ich später erfahre, wurden die beiden nach acht Stunden im Gebüsch gerettet.
Auf einem der letzten Monitore erscheinen erneut die beiden Überlebenden vom ersten, noch hedonistisch anmutenden Kurzfilm über die Nova-Gemeinschaft, die sagen: »Wir werden alles tun, um das Licht der Welt zu verbreiten.« Es ist wie ein Übergang zum zweiten Teil der Ausstellung, welcher der Trauer gewidmet ist.
Trauer
Wer die Zone der Barbarei möglichst vermeiden möchte, kann direkt durch die Halle bis zum originalen DJ-Pult gehen. Es steht unter einem farbenfrohen Dach im zentralen Bereich. Davor befindet sich ein großer, weißer Kreis mit hebräischen Buchstaben – ein kabbalistischer Code, der »transformative Kräfte« freisetzen soll. Umrahmt wird dieser Kreis von einem niedrigeren Ring aus Ton, der beim Trocknen Risse gebildet hat.
Dieser Altar des israelischen Künstlers Roee Aminof bildet das Herzstück der Ausstellung. Er lädt dazu ein, »über das Bekannte hinauszuwachsen«. Ein Lichtstrahl fällt von oben durch das Zeltdach in die Mitte des Kreises. Er soll verdeutlichen, dass Menschen selbst in den schmerzhaftesten Situationen die Kraft zur Veränderung, zum Wachstum und zur Heilung in sich tragen – sowohl individuell als auch kollektiv.
In der zweiten Hälfte der Halle beginnt die Zone der Trauer. Die Folgen des Massakers werden sichtbar gemacht: Für jeden getöteten Menschen vom Nova-Festival stehen ein Bild und eine Kerze. Auf kleinen Tischen liegen Berge von Taschen, Schuhen und persönlichen Gegenständen, die Flüchtende zurücklassen mussten – Bilder, die Erinnerungen an deutsche Konzentrationslager wachrufen.
An der hinteren Wand hängen Fotos und Namen der Menschen, die bei der Ausstellungseröffnung am 7. Oktober 2025 sich noch in Geiselhaft im Gazastreifen befanden. Bei einer Zeremonie am 14. Oktober wurde das Wort »home« auf elf dieser Bilder geklebt.





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Heilung
Im hinteren Bereich des Flughafens beginnt die Zone für den Prozess der Heilung, eingeläutet durch einen Lebensbaum mit der Inschrift: »Verbunden durch das gemeinsame Trauma bahnen wir uns den Weg zur Heilung. Aus dem verkohlten Stumpf sprießen immergrüne Zweige.«
Zwei Räume weiter laden bequeme Sessel und Liegen zur Ruhe ein. Helle, klare Stimmung. Tafeln und Bilder dokumentieren die Arbeit der Nova-Heilzentren, die allen Betroffenen – auch den Angehörigen – Therapien, Workshops, Musik- und Gedenkveranstaltungen anbieten. Heilungszeremonien sollen langfristige Genesung ermöglichen und ein starkes Gemeinschaftsgefühl schaffen. Im letzten Raum ist ein Video zu sehen, in dem sich einige Überlebende gegenseitig versprechen: »Wir werden die Welt zu einem besseren Ort machen und wieder tanzen.«
Die Ausstellung wurde von Überlebenden des Massakers und deren Freunden konzipiert. Einer von ihnen ist Ofir Amir, DJ und Mitbegründer des Nova-Festivals. Er überlebte nur knapp. Von den Schüssen in seinen Beinen spürt er noch heute die Folgen. Für ihn sei das Ziel der Ausstellung, an die ermordeten Freundinnen und Freunde zu erinnern und der Welt zu zeigen, was geschehen ist.
Schon bei der Eröffnung in Tel Aviv hätten die Menschen die Wirkung gespürt und den Ort verändert verlassen. Es gehe nicht nur um eine Gedenkstätte, sondern um ein »mächtiges Werkzeug, um die Wahrheit zu erzählen, Verleugnungen zu bekämpfen und Verbündete zu gewinnen. Die Ausstellung erzählt unsere Geschichte: Vom Licht in die Dunkelheit – und wieder zurück ins Licht.« Es gehe dabei nicht um ein Land, nicht um Politik, sondern um junge Menschen, die das Leben gefeiert haben, und das Grauen, das ihnen angetan wurde.
Eindringliche Worte
Die Ausstellung wird von zahlreichen Institutionen unterstützt und gefördert und steht unter der Schirmherrschaft des regierenden Bürgermeisters von Berlin, Kai Wegner, des Kulturstaatsministers Wolfram Weimer und der Bundesministerin Karin Prien. Der größte Kostenpunkt liegt in der Sicherheit.
In einer eindringlichen Rede zur Eröffnung am 7. Oktober sagte die israelische Kommunikationsberaterin Melody Sucharewicz: »Mögen die Studenten, die in Berlin die Slogans der Hamas grölen, hierherkommen – und für immer schweigen. Mögen die Islamisten, die am 7. Oktober 2023 jubelten, hierherkommen – und schweigen. Mögen die Deutschen, die ihre Demokratie lieben, hierherkommen – und nie wieder schweigen.« Die Ausstellung zeige, jenseits aller Gefühle, mit welchen Gefahren die freie Welt durch die Hamas und ihre Unterstützer konfrontiert sei. Terror dürfe niemals über Freiheit triumphieren.
Anschließend erinnerte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner daran, dass die Berliner Clubkommission zwei Monate gebraucht habe, um überhaupt auf den 7. Oktober zu reagieren. Zunächst habe die Kommission erklärt, es sei nicht ihre Aufgabe, »das generelle, politische Geschehen abseits des clubkulturellen Kontextes zu kommentieren«. Diese erste Reaktion auf »die schlimmste Gewaltattacke, die je auf ein Musik-Event verübt wurde«, so Klöckner, sei »nicht nur beschämend, sie war peinlich«, der es gegenüber den Opfern des Terrors an Entsetzen und Empathie gefehlt habe.
Nach dem Morden habe der »Kampf um die Wahrheit« begonnen. In den digitalen Medien seien die Gräueltaten geleugnet oder verherrlicht worden. Manche hätten infrage gestellt, ob das Massaker überhaupt stattgefunden habe; andere hätten vermutet, die israelische Regierung stecke dahinter. »So etwas dürfen wir schlichtweg nicht hinnehmen«, sagte Klöckner. »Wir müssen die Wahrheit verteidigen – gegen Lüge, gegen Hass, gegen Lautstärke.« Es gehe nicht darum, wer auf welcher Seite stehe, sondern am Ende um die Seite des Menschseins.
»Wir alle stehen jetzt an einem Wendepunkt, auch und vor allem in der Kunst- und Kulturszene«, erklärte der israelische Botschafter Ron Prosor. »Wir erleben einen stillen Boykott gegen israelische und jüdische Künstler. Wer Israel nicht öffentlich beleidigt oder dämonisiert, wird oft nicht mehr eingeladen. Unter dem Deckmantel der Kritik entstehen Ausgrenzung und Diskriminierung. Früher war Kultur ein Kompass, heute zittert seine Nadel.«
Die Ausstellung wurde bislang von 500.000 Menschen in Tel Aviv, New York, Los Angeles, Miami, Buenos Aires, Toronto und Washington besucht. Berlin ist die erste Station in Europa. Für die Überlebenden, so Ofir Amir, sei Berlin »nicht einfach nur eine weitere Stadt«, sondern ein Ort mit besonderem Gewicht: »Für uns, für das jüdische Volk, für die Überlebenden trägt Berlin eine besondere historische Verantwortung.«
Es gehe nicht nur darum, der Opfer zu gedenken, sondern auch um aufzuzeigen, dass Erinnerung lebt. Bildung sei »die stärkste Waffe gegen Antisemitismus und Hass«. Jeder, der noch Hoffnung habe und an das Gute glaube, solle diese Ausstellung sehen.
Zum Abschluss der Eröffnung erzählte der israelische Aktivist Yoseph Haddad von seinem arabischen Taxifahrer, der bezweifelt, ob das Massaker überhaupt stattgefunden habe, und den er nicht davon überzeugen konnte, die Ausstellung zu besuchen.
Haddad erzählte aber auch von zwei arabischen Muslimen, die am Nova-Festival teilgenommen hatten: Der eine sei nicht geflüchtet, weil er Verletzten helfen wollte – und wurde von der Hamas ermordet. Der andere arbeitete als Fahrer und rettete mehr als dreißig israelische Festivalgäste – und überlebte. Als man ihn später fragte, warum er nicht einfach davongefahren sei, habe er geantwortet: »Ich bin Israeli, und es waren Israelis da. Ja, Araber und Juden leben hier zusammen, arbeiten zusammen, feiern und tanzen zusammen, essen zusammen.« Das seien die Seiten Israels, die in den Medien zu selten gezeigt würden.
Wer wissen wolle, was israelische Resilienz bedeutet, sollte mit den Überlebenden vom 7. Oktober sprechen, so Haddad. Trotz der Gräueltaten kämpften sie für ihre eigene Heilung und die Rückkehr der Geiseln weiter. Wenn er Überlebende treffe, bekomme er »ganz viel Energie von ihnen«. Es seien Menschen, »die aus der Dunkelheit herausgewachsen sind. Sie teilen das Licht – ihr Licht.«






