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Vom Dschihadisten zum Staatsmann? Al-Sharaa und die Zukunft Syriens

Ahmed al-Sharaa mit der EU-Kommissarin für Resilienz, humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, Hadja Lahbib
Ahmed al-Sharaa mit der EU-Kommissarin für Resilienz, humanitäre Hilfe und Krisenmanagement, Hadja Lahbib (Imago Images / UPI Photo)

Nach dem Sturz des Assad-Regimes hat Ahmad al-Sharaa die Macht in Syrien übernommen. Doch wer ist der Mann, der vorgibt, sich vom Dschihadisten zum Pragamtiker gewandelt zu haben?

Seit dem 8. Dezember des Vorjahres ist Ahmed al-Sharaa der neue Machthaber in Damaskus. Al-Scharaa ist kein Unbekannter. Unter dem Kampfnamen Abu Muhammad al-Jolani führte er 2011 eine sechsköpfige Gruppe von al-Qaida-Kämpfern aus dem Irak nach Syrien. Binnen kurzer Zeit entwickelte sich daraus unter dem Namen al-Nusra-Front eine der schlagkräftigsten Milizen im syrischen Krieg.

Geboren wurde al-Sharaa 1982 im saudi-arabischen Riad. Wie er in einem ausführlichen Interview mit dem US-Magazin Frontline erzählte, stammte sein Vater ursprünglich aus den syrischen Golanhöhen – daher auch sein Kampfname al-Jolani, was wörtlich übersetzt »der vom Golan« bedeutet. Als junger Mann ging er in den Irak, wo er an der Universität Bagdad Wirtschaft studierte.

Nach dem Einmarsch der USA in den Irak im Jahr 2003 schloss er sich dem Kampf gegen die US-Truppen an. Er wurde militanter und religiöser, verbrachte einige Zeit in Syrien und ging zurück in den Irak. Laut dem Magazin Republik wurde er vom kurdisch-syrischen Sheikh Abu al-Qaqa beeinflusst, der – unter den Augen des syrischen Regimes – zum bewaffneten Widerstand gegen die Amerikaner im Irak aufrief und zahlreiche Kämpfer ins Nachbarland schleuste.

Im Irak schloss sich al-Sharaa dem 2004 gegründeten al-Qaida-Ableger an. Nachdem er bei der Vorbereitung eines Angriffs auf US-Truppen festgenommen worden war, verbrachte er fünf Jahre in Haft, unter anderem in den berüchtigten Foltergefängnissen Abu Ghraib und Camp Bucca. In Camp Bucca, im Süden Iraks, lernte er Abu Bakr al-Baghdadi kennen, der ab 2010 die Organisation Islamischer Staat im Irak anführen sollte und 2014 in Mossul das Kalifat des Islamischen Staates ausrief.

Von al-Qaida zum Pragmatiker

Im Jahr 2011 schickte al-Baghdadi den damals 29-jährigen al-Sharaa nach Syrien zurück, um dort einen Ableger von al-Qaida aufzubauen. Die al-Nusra-Front wuchs rasch zu einer tausende Mann starken Miliz heran. Im Frühjahr 2013 kündigte al-Baghdadi die Gründung des Islamischen Staates nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien (ISIS) an. Al-Shara befahl er, seine al-Nusra-Front aufzulösen und sich dem ISIS zu unterwerfen. Nach dessen Weigerung brachen im Jänner 2014 offene Kämpfe zwischen ISIS und al-Nusra aus. Während al-Nusra bei al-Qaida blieb, spaltete sich al-Baghdadi von der Organisation ab.

Als 2015 Russland auf Seite des Assad-Regimes in den Krieg eintrat, verloren die Rebellen und Milizen immer mehr an Boden und mussten sich schließlich in die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens zurückziehen. Zu dieser Zeit begann al-Sharaa, seinen Kurs zu ändern und sagte sich im Jahr 2016 von al-Qaida los. Sein erklärtes Ziel war nun nicht mehr der Kampf gegen den Westen, sondern einzig der Sturz des syrischen Regimes. Indem er sich als pragmatischer Islamist gab, entging er möglichen Angriffen durch die USA oder Russland, die dschihadistische Milizen in Syrien bekämpften.

In den folgenden Jahren baute er in Idlib eine Regionalverwaltung auf. Die von ihm geführte Miliz hieß jetzt Hayat Tahrir al-Sham (HTS). Gegenüber konkurrierenden Milizen griff al-Sharaa hart durch, wobei der von ihm eingesetzten Verwaltung, aber auch HTS, zahlreiche Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden. Gleichzeitig gab er sich pragmatisch und ließ bis zu einem gewissen Grad zivilgesellschaftliche Aktivitäten zu.

Neue Sprache, neue Ideologie?

Die Meinungen der Experten über Ahmad al-Sharaa gehen auseinander. Einige Beobachter sehen in ihm einen radikalen Islamisten im Schafspelz. Andere trauen ihm zu, den von den Syrern erhofften Neustart Richtung Stabilität und Wiederaufbau einzuleiten und den religiösen Minderheiten gleichberechtigten Platz einzuräumen.

Tatsächlich hat er bisher vieles richtig gemacht. Zu den befürchteten Massakern an Christen und anderen Minderheiten kam es bislang nicht. Seine Kernbotschaft an die Syrer lautet, einen Staat für alle aufbauen zu wollen. Gegenüber der internationalen Gemeinschaft gibt er sich kooperationsbereit. Das war nicht immer so. Um al-Sharaas (rhetorischen) Wandel zu verdeutlichen, verglich der Blogger Aaron Y. Zelin eine Audiobotschaft vom Jänner 2012 mit al-Sharaas heutiger Position gegenüber den darin genannten Akteuren.

Die USA identifizierte er 2012 eindeutig als Feind und bezeichnet sie als »Unterdrücker der Muslime«. Die Türkei kritisiert er in ihrer Rolle als Verbündeter der USA. Erdogans Behauptung, der muslimischen Gemeinschaft zu dienen, sei falsch und sei lediglich ein Vorwand, um dessen eigene Interessen zu bedienen. Mit Blick auf Israel zitierte al-Sharaa einen Teil des Koranverses 2:120: »Die Juden werden niemals mit euch zufrieden sein, noch werden es die Christen sein, wenn ihr nicht ihrem Glauben folgt.« Schließlich markierte er auch den Iran als Feind, wolle Teheran Syrien doch in ein neu zu gründendes Persisches Reich eingliedern.

Fast genau zwölf Jahre nach seiner ersten öffentlichen Ansprache hat sich al-Sharaas Position gegenüber den angesprochenen Akteuren völlig geändert – mit Ausnahme jener gegenüber dem Iran. Bei seiner Ansprache in der Umayyaden-Moschee in Damaskus am 8. Dezember 2024warf er Teheran vor, in Syrien Sektierertum zu verbreiten, Korruption geschürt und dazu beitragen zu haben, dass Syrien zu einem der weltweit größten Produzenten des Aufputschmittels Captagon wurde.

Anders als noch im Jahr 2012 gibt es keine Kritik an der Türkei, die mittlerweile einer der wichtigsten Verbündeten al-Sharaas ist. Bis Ende Jänner 2025 gab es knapp fünfzig Gespräche zwischen Ankara und der syrischen Übergangsregierung. Die Beziehung zu Israel ist wegen der Vorstöße der israelischen Streitkräfte in den Süden Syriens zwar heikel, dennoch bemüht sich al-Sharaa, das Thema zu vermeiden und betonte, Syrien sei kriegsmüde und er selbst habe kein Interesse daran, dass sein Land als Ausgangspunkt für Angriffe gegen Israel genutzt werde. Auch Richtung USA streckt er seine Hand aus und sandte zur Amtseinführung Donald Trumps eine Glückwunscherklärung nach Washington.

Ungewisse Zukunft

Ahmad al-Sharaa scheint mit seinem Kurs bisher erfolgreich. Vertreter der USA trafen sich bereits mehrmals mit ihm in Damaskus, und Washington zog das auf ihn ausgesetzte Kopfgeld zurück. Wie außerdem bekannt wurde, konnte HTS mithilfe von US-Geheimdienstinformationen eine IS-Zelle in Damaskus ausschalten, die einen Anschlag auf das schiitische Heiligtum der Sayyida Zeinab in der Hauptstadt geplant hatte.

Am 29. Jänner erklärte sich al-Sharaa zum Interimspräsidenten von Syrien; einen konkreten Fahrplan für einen Übergang präsentierte er bislang nicht. In einem nächsten Schritt will er sämtliche Rebellenmilizen in einer nationalen Armee zusammenzuführen. Wohin sich Syrien in den kommenden Monaten und Jahren entwickeln wird, ist von einer Reihe an Faktoren abhängig. So ist die Frage der Autonomierechte bisher ungeklärt, allen voran jene der Kurden, aber auch der Drusen und Alawiten. Wird hier keine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung gefunden, kann das die Wurzel weiterer Konflikte und Repressionen durch die neue Regierung sein.

Unklar ist auch, welche Ansprüche regionale Akteure wie die Türkei und Israel an das neue Syrien stellen und inwiefern der Iran versuchen wird, eine Konterrevolution in Syrien zu befeuern. Nicht zuletzt hängt vieles von der Person al-Sharaas selbst ab. Ob er seinen Kurs erneut ändern und ein autoritäres Regime errichten wird, oder, wie derzeit viele Syrer hoffen, das Land mit einer Art »Scharia light« in eine zumindest bessere Zukunft führt, als der Baathismus des Assad-Regimes gewesen ist, bleibt ungewiss.

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