Vom Corona-Vorzeigeland zum schwarzen Schaf

Am 3. September wurde mit 2.991 Fällen ein Rekord an Neuinfektionen erreicht
Am 3. September wurde mit 2.991 Fällen ein absoluter Rekord an Neuinfektionen erreicht (© Imago Images / Xinhua)

Israel wurde von einem Vorzeigeland zu einem Land, das weltweit die meisten COVID-Fälle pro Kopf aufbringt.

Was ist passiert, dass es zu den enormen Zahlen von bis zu 3000 Neuinfizierten am Tag und insgesamt 1000 Sterbefälle kam? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Zum einen startete Israel viel zu früh damit, wirtschaftliche Sektoren zu eröffnen, Schüler wurden zu früh wieder zurück in die Klassenräume geschickt und das Land war zu wenig auf schnelle, Massentestungen vorbereitet. So ist es immer noch nicht möglich, einen Soforttest ohne Termin zu bekommen oder sich nach der Öffnung des Flugverkehrs, direkt am Flughafen testen zu lassen.

Politische Einflussnahme

Außerdem steckt viel politische Einflussnahme hinter den Entscheidungen, die bezüglich der Restriktionen in Israel getroffen werden. So ist es nun tausenden Ultra-Orthodoxen erlaubt, nach Uman in der Ukraine zu reisen, um dort ihre jährliche Pilgerreise zu absolvieren. Sowohl in der Ukraine als auch in Israel sind zwar die Zahlen der Neuinfizierten enorm hoch, doch die ultra-orthodoxe Koalitionspartei übte Druck auf Premierminister Benjamin Netanjahu aus und drohte damit, die Regierung zum Fall zu bringen, sollten kein Kompromisse bezüglich der Reiseerlaubnis für die Pilger erreicht werden.

Bis Ende Mai unterlag Israels Bevölkerung strikten Restriktionen. Doch zu früh, nämlich am 26.Mai, trat Netanyahu mit den Worten im Fernsehen auf: „Geht zurück zur Normalität, habt eine Tasse Kaffee, ein Bier – zuallererst: Habt Spaß.“ So war der Beginn der zweiten Welle von COVID-19 eingeleitet.

Ständig veränderte Regelungen und Einschränkungen verwirren die Bevölkerung und verusachen ein Misstrauen gegenüber der Regierung, was bewirkt, dass sich erst recht nicht an die Regelungen gehalten wird. Dies gilt vor allem für die ultra-orthodoxe Haredi Gemeinschaft und die arabische Bevölkerung, wo schon in Vor-Corona-Zeiten ein fehlendes Vertrauen in die Regierung herrschte, das sich jetzt nur weiter verstärkt hat.

Ausgangssperre für rote Zonen

Vergangenen Donnerstag traf sich das Kabinett, um neue Restriktionen für die roten Zonen in Israels Ampelsystem zu besprechen, zu denen in den letzten Tagen zehn weitere Städte hinzugefügt wurden: u.a. Ashdod, Ashkelon, Sderot und Eilat. Es wurde davon ausgegangen, dass über etwa zehn der roten Städte mit den höchsten Infektionszahlen ein kompletter Lockdown verhängt werden würde. Aufgrund enormen Druckes der Haredi-Bevölkerung, wurde diese Maßnahme jedoch nicht durchgesetzt. Stattdessen entschied sich das Corona Komitee Sonntagnacht dafür, eine nächtliche Ausgangssperre in den 40 roten Städten einzuführen. Diese trat montags um 19:00 Uhr in Kraft trat, als Geschäfte und Lokale geschlossen wurden. Die Bevölkerung darf sich zwischen 19:00 Uhr und 05:00 Uhr früh nur 500 Meter vom eigenen Wohnsitz entfernen. Die Schulen in den roten Zonen bleiben von diesem Zeitpunkt an geschlossen, lediglich Kindergärten und Einrichtungen für Sonderpädagogik operieren weiter. Treffen sind auf eine Zahl von 20 Personen draußen und zehn Personen drinnen begrenzt.

Diese Ausgangssperre ist für die nächsten zwei Wochen aufrecht, danach wird das weitere Vorgehen besprochen. Unabhängig davon wird sich das Komitee am 10.September treffen, um die kommenden Feiertage zu besprechen. Da an Feiertagen große Familientreffen veranstaltet werden, ist das Risiko für Neuinfektionen groß. Obwohl der Corona-Projektmanager der Regierung Ronni Gamzu sich dagegen ausgesprochen hatte, versicherte Benjamin Netanjahu der Bevölkerung bereits, an den Feiertagen religiöse Aktivitäten abhalten zu können, auch wenn es zu einem Lockdown kommen sollte.

Wie geht es weiter?

Außerdem wird zurzeit diskutiert ob der Tempelberg, sowohl für die jüdische als auch die muslimische Bevölkerung geschlossen werden soll. Hier beten jeden Freitag etwa 18.000-22.000 Menschen, wobei sich oft nicht an Corona-Maßnahmen gehalten wird. Die islamische Waqf-Stiftung ist strikt gegen eine Schließung des Tempelberges, während Gamzu in Betracht zieht, auch andere religiöse Stätten wie die Klagemauer und die Grabeskirche zu schließen.

In Israel steht es also zurzeit Religion gegen Wissenschaft gegen Regierung. Die Maßnahmen, die aus diesem Hickhack entstehen, sind dementsprechend vage und verwirrend, und während die Corona-Zahlen steigen, wird auf politischer Ebene weiter gestritten. Es heißt also abwarten, welche Auswirkungen die Feiertage haben werden, ob es zu einem weiteren landesweiten Lockdown kommen wird und ob sich die sogenannten roten Zonen dieses Mal an die Restriktionen des Corona-Komitees halten.

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