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Die Vision der Türkei verändert das Syrien nach Assad

Erdogan verfolgt – nicht nur – in Syrien eine neo-osmanische Vision
Erdogan verfolgt – nicht nur – in Syrien eine neo-osmanische Vision (Quelle: JNS)

Mit seiner neo-osmanischen Politik strebt Ankara danach, zum wichtigsten Architekten Syriens zu werden und rivalisierenden Mächten wie dem Iran und Russland entgegenzuwirken.

Hay Eytan Cohen Yanarocak

Der Sturz des Regimes von Baschar al-Assad – herbeigeführt von syrischen Oppositionskräften unter der Führung der islamistischen Hayat Tahrir al-Sham (HTS) und mit Unterstützung der Türkei – hat Ankara eine beispiellose Gelegenheit eröffnet, seine Rolle als Regionalmacht im Einklang mit seinen umfassenderen neo-osmanischen Bestrebungen neu zu definieren. Durch die Unterstützung der sunnitischen Opposition und den Sturz des von den Alawiten geführten Regimes ist es der Türkei gelungen, das Kräfteverhältnis im Nahen Osten zu verschieben, in Damaskus ein der Türkei wohlgesonnenes Regime zu installieren und den Einfluss von Rivalen wie dem Iran und Russland einzudämmen.

Die Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist auch von Ankaras Versuchen geprägt, die Entstehung einer kurdischen Autonomie oder gar Staatlichkeit einzudämmen, die in türkischen Augen eine destabilisierende Wirkung hätte und die territoriale Integrität Syriens, des Iraks, des Irans und der Türkei bedrohen würde. Ankara strebt eine umfassende Rolle beim Wiederaufbau und der Regierungsführung in Syrien an und nutzt seine neo-osmanische Vision, um einen dauerhaften kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss zu etablieren.

Von der Achillesferse …

Jahrelang wurde der türkische Präsident wegen seiner interventionistischen Außenpolitik in Syrien heftig kritisiert. Diese Kritik rührte vor allem vom Zustrom syrischer Flüchtlinge, der offiziellen Angaben zufolge mehr als drei Millionen Menschen umfasste. Erdogan weigerte sich jedoch, seine Haltung zu ändern. Im Gegenteil, er verfolgte einen panislamischen Ansatz und betonte stets, wie wichtig es sei, syrische Flüchtlinge als Ausdruck islamischer Brüderlichkeit aufzunehmen und die militärische Präsenz der Türkei in Syrien aufrechtzuerhalten.

Es ist wichtig festzuhalten, dass Erdogan selbst während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen 2023 nicht von seiner sturen Haltung abwich, die bereits die politische Stabilität seiner Regierung erschüttert hatte. Zum ersten Mal in seiner politischen Karriere konnte er sich damals den Sieg nicht in der ersten Wahlrunde sichern, was hauptsächlich auf die schwächelnde Wirtschaft zurückzuführen war.

Die Wähler unterschieden jedoch nicht zwischen wirtschaftlichen Problemen und dem syrischen Bürgerkrieg. Die syrische Flüchtlingsfrage, die Fremdenfeindlichkeit und steigende Arbeitslosigkeit schürte, sowie die steigenden Kosten für die Finanzierung eines festgefahrenen Kriegs wurden als Gründe für die Verschlechterung der Wirtschaftslage angesehen. Dies war Erdogans Achillesferse. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz – und zum Teil durch das Versäumnis der Opposition, sich hinter einem charismatischen Führer wie den Bürgermeistern von Istanbul oder Ankara zu vereinen – gelang es Erdogan erneut, sein politisches Überleben zu sichern.

… zur Trumpfkarte

Heute, da das Regime in Syrien gestürzt ist, steigt Erdogans Beliebtheit rasant an. Seine Anhänger stellen ihn als »den Eroberer Syriens« dar. Es ist nicht überraschend, dass neo-osmanische Rhetorik zu einem wichtigen Bestandteil des öffentlichen Diskurses geworden ist. Sowohl die etablierten institutionellen Medien als auch Erdogans Propagandakanäle beziehen sich häufig auf die osmanische Geschichte, um die organischen Verbindungen der Türkei zu Syrien zu betonen.

Diese Medien betonen nicht nur die historische Tatsache, dass die Türken als Osmanisches Reich die Region 402 Jahre lang beherrschten, sondern versuchen auch, die Verbindung der türkischen Öffentlichkeit zu Syrien zu vertiefen, indem sie an den bewaffneten Kampf von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der türkischen Republik, erinnern. 1918 kämpfte Atatürk als Kommandeur der 7. Armee an der »Palästina-Front« gegen die Briten. Die Betonung von Atatürks Schlachten und seine Ansicht, Syrien und Palästina seien integrale Bestandteile des osmanisch-türkischen Heimatlandes, zielen darauf ab, nationalistische und säkulare Teile der türkischen Gesellschaft für Erdogans neo-osmanische Außenpolitik zu gewinnen.

Neo-osmanische Bestrebungen

Die türkischen Behörden haben das ehemalige Hauptquartier Atatürks in der syrischen Stadt Afrin bereits in eine Pilgerstätte verwandelt, die mit türkischen Flaggen und Porträts des Republikgründers geschmückt ist. Während Ankara versucht, die türkische Öffentlichkeit von einer erweiterten türkischen Präsenz in Syrien zu überzeugen, erleichtert die schrittweise Umwandlung des Landes in eine neue Provinz im türkisch-osmanischen Stil der Regierung die Rechtfertigung ihrer ehrgeizigen Investitionen.

Der Blaupause für diese Politik zeigt sich in den Aussagen des türkischen Verkehrs- und Infrastrukturministers Abdulkadir Uraloglu vom 24. Dezember vergangenen Jahres. Auf die Frage nach den potenziellen Investitionen der Türkei in ein Syrien nach Assad erklärte der Minister, dass Ankara so, wie die Regierung den Opfern des Erdbebens in der Türkei am 6. Februar 2023 wesentliche humanitäre Hilfe, Güter und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt habe, nun auch Syrien jede notwendige Unterstützung zukommen lasse – also so, als ob das Land bereits Teil der Türkei wäre.

Diese Vorgehensweise ist auch in anderen Regionen zu beobachten, in denen die Türkei bereits präsent ist. Der Infrastrukturminister erklärte die Bereitschaft seines Landes, die Flughäfen von Damaskus und Aleppo wiederaufzubauen, zu renovieren und mit Radargeräten auszustatten, die auch militärischen Zwecken dienen könnten. Darüber hinaus wird die Türkei höchstwahrscheinlich Mobilfunknetze und Strominfrastruktur bereitstellen, um den Bedarf Syriens in diesen Bereichen zu decken.

Weiters betonte Uraloglu im Sinne seiner eng mit dem osmanischen Erbe verbundenen Regierung Ankaras Bestreben, die osmanische Hedschasbahn von Sultan Abdülhamid II. wiederzubeleben, um eine direkte Verbindung zwischen Istanbul und Damaskus herzustellen. Der neue syrische Verkehrsminister Bahaddin Sharma befürwortete das Projekt und bezeichnete den Bau der Strecke Gaziantep-Aleppo als ersten Schritt.

Uraloglu machte auch auf die schlechte Autobahninfrastruktur Syriens und die strategische Bedeutung von Autobahnen in Kriegszeiten aufmerksam. In diesem Zusammenhang betonte er die Bedeutung der Autobahnen M4 und M5 und kündigte Pläne für den Bau neuer Brücken und Schnellstraßen an, um den Bedürfnissen des türkischen Verteidigungsministeriums gerecht zu werden. Diese neuen Autobahnen werden nach den strategischen Prioritäten des türkischen Generalstabschefs entworfen – ein klarer Hinweis auf die langfristigen Ziele der Türkei in Syrien.

Berichten in türkischen und arabischen Medien zufolge beabsichtigt die Türkei auch, ihre militärische Präsenz in Syrien auszuweiten. Zusätzlich zu den bereits bestehenden Einsätzen im Norden Syriens, insbesondere in den Gebieten Afrin, Jarabulus und Tel Al-Abyad, strebt die Türkei nun die Einrichtung neuer Militärstützpunkte an verschiedenen Standorten an, insbesondere in Damaskus und Tartus. Arabische Quellen haben verlauten lassen, dass die künftige türkische Militärpräsenz in Syrien auch dazu dienen soll, Israel von einseitigen Aktionen im Land abzuhalten.

Wirtschaftliche Interessen

Die türkischen Ambitionen in Syrien scheinen über das Territoriale hinauszugehen. Der Verkehrsminister merkte an, die Türkei plane die Unterzeichnung eines Abkommens zur Abgrenzung der Seegebiete, um mit der neuen syrischen Regierung seismische Untersuchungen von Kohlenwasserstoffen durchzuführen und so ihre eigenen Interessen im östlichen Mittelmeer zu maximieren. Solch ein Vertrag wird höchstwahrscheinlich auf Kosten der ausschließlichen Wirtschaftszone und der Hoheitsgewässer der Republik Zypern gestaltet werden, wie sie in der »Karte von Sevilla« der Europäischen Union definiert sind, die auf dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1982 basiert.

Im Rahmen ihrer Marinedoktrin »Blaues Vaterland« lehnt die Türkei die Bestimmungen des UNCLOS ab, die sich auf das Recht jeder Insel beziehen, ihren eigenen Festlandsockel, d. h. zwölf Meilen Territorialgewässer und eine ausschließliche Wirtschaftszone, zu deklarieren. Im Jahr 2019 unterzeichnete die Türkei ein Abkommen zur Abgrenzung der Seegebiete mit der libyschen Regierung der Nationalen Einheit (GNA) und stellte damit die von der EU unterstützten Seegebietsansprüche Griechenlands und Zyperns infrage. Daher wird das neue Abkommen mit Syrien die Legitimität des UNCLOS und der »Karte von Sevilla« wahrscheinlich weiter untergraben.

Die Unterzeichnung des Vertrags kann nur verzögert werden, wenn die Europäische Union in den Wiederaufbau Syriens investiert, wie die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, dem türkischen Präsidenten bei ihrem Besuch in Ankara am 17. Dezember letzten Jahres zugesagt hat.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Sturz des Assad-Regimes und die Beteiligung der Türkei an der Gestaltung des Syriens der Nachkriegszeit eine Verschiebung in der geopolitischen Landschaft des Nahen Ostens bedeuten. Mit seiner selbstbewussten, neo-osmanischen Politik hat Ankara nicht nur versucht, das von den Alawiten dominierte Regime zu stürzen und dem iranischen und russischen Einfluss entgegenzuwirken, sondern auch, zum Hauptarchitekten der Zukunft Syriens zu werden – vorausgesetzt, das Geld für den Wiederaufbau aus Katar und der EU wird über die Türkei geleitet.

Die Türkei strebt danach, ihren Einflussbereich zu erweitern und ihre Position als Regionalmacht im Einklang mit dem osmanischen Erbe zu festigen. Das vorgeschlagene Abkommen zur Festlegung der Seegrenzen, der Schwerpunkt auf der Entwicklung der Infrastruktur und eine verstärkte Militärpräsenz signalisieren Ankaras Bestreben, seinen Einfluss in der Region zu festigen.

Diese Strategie stärkt zwar Erdogans Image im Inland, stellt jedoch auch eine große Herausforderung dar, insbesondere für die Nachbarstaaten und vor allem für Israel und die Republik Zypern. In diesem Zusammenhang muss Jerusalem mit großer Vorsicht vorgehen. Der jüdische Staat sollte enge Beziehungen zu den hellenischen Staaten aufrechterhalten, aber gleichzeitig alles tun, um sich die Türkei nicht zu einem aktiven Feind zu machen. Zugleich muss es Jerusalem gelingen, seine Handlungsfreiheit in Syrien ohne Zugeständnisse zu wahren. All dies ist eine anspruchsvolle, aber keine unmögliche Aufgabe.

Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)

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