US-Diplomaten reisten am Freitag zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt in die syrische Hauptstadt Damaskus, um sich nach dem Sturz des langjährigen Diktators Baschar al-Assad mit dem neuen Machthaber al-Julani zu treffen.
Andrew Bernard
Wie die stellvertretende US-Staatssekretärin für Angelegenheiten des Nahen Ostens, Barbara Leaf, Journalisten mitteilte, habe sie Abu Mohammed al-Julani, den Anführer der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die den Sturz Assads angeführt hatte, über die Aussetzung des Kopfgelds auf ihn informiert.
Zuvor hatten die USA wegen seiner Rolle als Anführer einer ausländischen terroristischen Vereinigung eine Belohnung in Höhe von zehn Millionen Dollar für seine Ergreifung in Aussicht gestellt. »Während unseres Gesprächs habe ich ihm gesagt, dass wir das seit einigen Jahren geltende Angebot einer Belohnung durch Rewards for Justice nicht mehr weiterverfolgen werden«, sagte Leaf.
Der unter seinem Kampfnamen al-Julani bekannte HTS-Führer, dessen richtiger Name Ahmad al-Sharaa lautet, versicherte der Staatssekretärin, die terroristischen Gruppen würden weder innerhalb noch außerhalb Syriens eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten und ihre regionalen Partner mehr darstellen.
Die HTS ging als Splitterorganisation aus der Al-Nusra-Front, dem syrischen Zweig von Al-Qaida, hervor, die 2012 als Erweiterung des irakischen Aufstands inmitten des aufkeimenden Bürgerkriegs in Syrien gegründet wurde. Der syrische Staatsbürger al-Julani schloss sich 2003, kurz vor der US-Invasion, der Al-Qaida im Irak an und wurde 2006 vom US-Militär gefangengenommen und für fünf Jahre inhaftiert.
Das US-Außenministerium bezeichnete die Al-Nusra-Front erstmals im Jahr 2012 als Terrorgruppe und stufte sie als Deckorganisation von Al-Qaida im Irak ein. HTS wiederum wurde im Jahr 2018 nach wiederholten Spaltungen, Umstrukturierungen und Umbenennungen als Terrorgruppe definiert.
Al-Julani ist seit 2013 ein von den USA als »Specially Designated Global Terrorist« eingestufter Islamistenführer und wurde wiederholt beschuldigt, Anschläge auf Zivilisten verübt zu haben. Seine Gruppe gab 2016 ihre offizielle Abspaltung von Al-Qaida bekannt. Im Lauf der letzten Jahre schlug sie einen pragmatischeren Weg ein.
Der HTS-Führer forderte wiederholt die Streichung seiner nunmehr gemäßigten Gruppe von der Liste der terroristischen Organisationen. »Wir haben keine Verbrechen begangen, die es rechtfertigen, uns als terroristische Vereinigung zu bezeichnen«, sagte er vergangene Woche in einem Interview mit der BBC. »Die Sanktionen müssen aufgehoben werden, weil sie sich gegen das alte Regime richteten. Opfer und Unterdrücker sollten nicht auf selber Stufe behandelt werden.«
Wenig sinnvoll
Wenn sie, so Leaf, »mit dem HTS-Führer zusammensitze und ein langes, ausführliches Gespräch über eine ganze Reihe von Interessen der USA, Syriens, vielleicht auch der Region, führe, wäre es ein wenig inkohärent, ein Kopfgeld auf ihn auszusetzen. Andernfalls sollte ich das FBI bitten, hereinzukommen und ihn zu verhaften oder so«, gab sich die Politikerin vor der Presse launig.
Das Treffen war nicht nur die erste öffentliche Begegnung zwischen Vertretern der Vereinigten Staaten und dem Rebellenführer, sondern auch der erste US-Besuch in Damaskus seit dem Jahr 2012, als Washington seine Diplomaten aus Syrien abberufen und seine Beziehungen zum Assad-Regime aussetzt hatte.
Leaf könne zwar keine Vorschau auf die Aufhebung von Sanktionen gegen Syrien geben, erwarte jedoch, dass die Übergangsregierung internem Druck seitens der Bevölkerung ausgesetzt sein werde, die Anforderungen für die Aufhebung der Sanktionen gemäß dem amerikanischen Caesar Act und der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats zu erfüllen.
Die US-Diplomaten versuchten auch, von den neuen syrischen Machthabern Informationen über das Schicksal des amerikanischen Journalisten Austin Tice zu erhalten, der im Jahr 2012 in Syrien entführt worden war. Roger Carstens, Sondergesandte des US-Präsidenten für Geiselfragen, sagte, es sei angesichts der labyrinthartigen Sicherheitsinfrastruktur des ehemaligen Regimes nicht einfach zu klären, was mit Tice geschehen sei. »Ich bin ziemlich überrascht über die Anzahl an Geheimgefängnissen, die Assad betrieben hat«, sagte Carstens und verwies auf die bis zu vierzig Standorte, wo sich der Journalist aufhalten könnte.
Ob die israelische Präsenz in Syrien, die nach dem Sturz Assads ausgeweitet wurde und aktuell die Kontrolle über den gesamten Berg Hermon und eine Pufferzone innerhalb Syriens entlang der Grenze umfasst, Gesprächsthema zwischen Leaf und al-Julani war, wurde nicht bekannt. Washington habe jedoch eine klare Meinung über die Rolle anderer regionaler Mächte in Syrien: »Die Türkei spielt offensichtlich eine sehr große Rolle und übt großen Einfluss aus. Sie hat, historisch gesehen und als Nachbarstaat Syriens, nationale Sicherheitsinteressen zu wahren.«
Der Iran hingegen werde seine Bedeutung in der Region verlieren, was die stellvertretende Staatssekretärin im Namen der Vereinigten Staaten begrüße: »Der Iran hat sich in Syrien jahrzehntelang zerstörerisch verhalten und aggressive Präsenz gezeigt. Während des Kriegs mobilisierte er ausländische Milizen, seine eigenen IRGC-Truppen und unterstützte die Hisbollah und trug so zur brutalen Ausbeutung der syrischen Bevölkerung bei.«
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)