Ein neuer UNO-Bericht betreibt statistisches Schindluder mit den Opferzahlen in Gaza, um zu suggerieren, Israel griffe bevorzugt Frauen und Kinder an.
Von Beginn des Kriegs an behaupteten von der Hamas geführte Behörden im Gazastreifen, siebzig Prozent aller Opfer seien Frauen und Kinder, um so das Narrativ zu stützen, die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) bombardierten wahllos. UN-Agenturen und Vertreter, darunter der Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk, übernahmen diese Zahlen unkritisch und wiederholten sie lautstark und häufig ohne Quellenangaben, bis mehrere Statistiker Belege für die Behauptungen einforderten.
Im Mai wurden die Zahlen leise nach unten korrigiert auf etwa fünfzig Prozent Frauen und Kinder unter den Opfer, woraufhin ich der Hoffnung war, diese irregeleiteten Unterstellungen seien damit endgültig widerlegt. Aber nein!
Ein neuer Bericht des Büros des Hohen Kommissars für Menschenrechte (OHCHR) hat derartige Behauptungen scheinbar wiederbelebt, wie die auf ihn folgenden Schlagzeilen veranschaulichen:
- BBC: »Fast 70 % der Toten im Gazakrieg sind Frauen und Kinder, sagt die UN«
- Guardian: »Fast beispielloses Leid in Gaza, nach UN Angaben sind fast 70 % der Getöteten Frauen und Kinder«
- CNN: »Rund 70 % der Todesopfer in Gaza sind Frauen und Kinder, sagt die UN«
Guter Zug, Herr Türk!
Nicht Opfer, sondern verifizierte Opfer
Doch warum stellt das OHCHR so viel kühnere Behauptungen auf als selbst das Gesundheitsministerium im Gazastreifen (MoH)? Wie sich herausstellt, erhebt der Bericht, liest man ihn genau, gar keine solchen Anschuldigungen. Die Verwirrung entsteht vielmehr durch ein geschicktes Wortspiel. Tatsächlich behauptet der Bericht, fast siebzig Prozent der verifizierten (!) Todesopfer seien Frauen und Kinder, wobei die Verifizierungsmethode nicht detailliert dargelegt ist.
In einer Fußnote auf Seite sechs wird nur darauf verwiesen, dass »die Verifizierungsmethode des OHCHR mindestens drei unabhängige Quellen erfordert«, ohne allerdings Beispiele für diese »Quellen« zu nennen oder die Bedeutung des Wortes »unabhängig« in diesem Zusammenhang zu definieren. Dies steht im Widerspruch zu den Guidance on Casualty Recording (GCR-Richtlinien zur Opfererfassung) des OHCHR selbst, die fordern, dass »Berichte die angewandte Methodologie beschreiben, den Umfang darlegen und die verwendeten Begriffe definieren müssen«.)
Für den untersuchten Zeitraum von Kriegsbeginn im Oktober 2023 bis Ende April 2024 geht das OHCHR von bisher 8.119 verifiziert Todesopfer aus – was weniger als ein Viertel der rund 35.000 Opfer ausmacht, die von der Hamas angegeben wurden. Laut dem Bericht entspricht die Alters- und Geschlechterverteilung unter den Todesopfern der Bevölkerungsstruktur im Gazastreifen, was auf wahllose Angriffe auf Zivilisten durch die IDF hindeuten soll: »Wenn verifizierte Todesfälle die demografische Zusammensetzung einer Gesamtbevölkerung widerspiegeln, anstatt die bekannte Demografie von Kombattanten abzubilden, wirft dies Fragen zur Einhaltung des Unterscheidungsprinzips auf.«
Um diesen Punkt zu unterstreichen, stellen die Autoren die Zahlen der Alters- und Geschlechterverteilung aus den vergangenen Konflikten »Operation Guardian of the Walls« (2021) und »Operation Protective Edge« (2014) (in beiden warf das OHCHR Israel ebenfalls Missachtungen des Unterscheidungsprinzips vor) der aktuellen »Operation Iron Swords« gegenüber: »Im Vergleich zu früheren Eskalationen, wie 2021 und 2014 […] wurden in der gegenwärtigen Eskalation Frauen (26 % der verifizierten Todesfälle) und Männer (30 %) zu etwa gleichen Zahlen getötet.«
Würden Palästinenser wahllos angegriffen, wäre tatsächlich zu erwarten, dass die Alters- und Geschlechterverteilung die Gesamtbevölkerung widerspiegelt. Umgekehrt würde eine Überrepräsentation von Männern im Kampfalter auf einen größeren Anteil von Kombattanten und damit die Einhaltung des Unterscheidungsprinzips hindeuten.
Erhebliche Stichprobenverzerrung
Wenig überraschend beeindruckte diese Logik das OHCHR nicht bei der Opferzählung im Rahmen der »Operation Protective Edge«. Für dem 2014er-Konflikt sprechen die offiziellen UN-Angaben von 1.462 toten Zivilisten unter 2.251 insgesamt Getöteten, darunter explizit aufgeführte 551 Kinder und 299 Frauen, womit 612 männliche Zivilisten übrigbleiben. Dass männliche Zivilisten damit scheinbar doppelt so häufig starben wie weibliche, fand im UN-Bericht keine besondere Erwähnung.
Würde man eine annähernd gleiche Anzahl männlicher und weiblicher ziviler Opfer annehmen, rechnete also rund 300 männliche Opfer aus der Einstufung als Zivilisten heraus, so stiege die Zahl der Kombattanten von rund 780 auf einiges über tausend, was sich durchaus in Übereinstimmung mit den IDF-Schätzungen von (mindestens) 936 getöteten Kombattanten befände.
Von diesen Überlegungen abgesehen, weist die OHCHR-Argumentationslinie noch weitere Schwächen auf:
Erstens gibt es gute Gründe zu vermuten, dass die rund 8.000 verifizierten Todesfälle keineswegs repräsentativ für die Gesamtheit der Opfer stehen können. Wie im Bericht erwähnt, wurden fast 95 Prozent der verifizierten Todesopfer in Wohngebäuden getötet. 2014 hingegen ereignete sich laut damaligem UN-Bericht weniger als ein Drittel aller Todesfälle in Wohngebäuden, jedoch starben dort über 82 Prozent der Frauen und 66 Prozent der Kinder.
Außerdem stimmt die regionale Verteilung nicht mit dem Zeitverlauf des Kriegs überein. Die Hälfte aller verifizierten Todesopfer wurde im »Mittleren Gaza« (Deir al-Balah und Nuseirat) sowie in Rafah im äußersten Süden gemeldet – jeweils Gebiete, in denen die IDF bis Ende April keine Bodentruppen eingesetzt hatten. Die heftigsten Kämpfe fanden hingegen in Gaza-Stadt und Khan Younis statt.
All das deutet darauf hin, dass die Daten eine erhebliche Stichprobenverzerrung aufweisen, nicht zuletzt aufgrund der Methodologie, die drei unabhängige Quellen verlangt. Höchstwahrscheinlich sind Palästinenser, die bei Luftangriffen mit hohen Opferzahlen und somit vielen Augenzeugen starben, im Bericht stark überrepräsentiert vertreten, während Kombattanten, die in Tunneln oder im Kampf mit IDF-Bodentruppen ums Leben kamen, unterrepräsentiert sind.
Zweitens macht der OHCHR-Bericht keinerlei Versuche, Kombattanten zu identifizieren, im Widerspruch zu seinen eigenen GCR-Richtlinien, die den Status der Opfer im humanitären Völkerrecht (d. h. Kombattant oder Zivilist) als Mindestanforderung der Datenerhebung anführen.
Gerade das wäre aber eine entscheidende Frage, denn tatsächlich entspricht die demografische Verteilung der Opfer nicht ganz der Bevölkerungsverteilung. Es gibt eine leichte, aber deutliche Häufung bei Männern im Alter von 30 bis 45 Jahren, also in etwa dem Alter eines Hamas-Kommandanten mittleren oder höheren Rangs, sowie Frauen im Alter von 25 bis 40 Jahren, also in etwa dem Alter der Ehefrauen solcher Kommandanten. Die Zahlen könnten durchaus Indizien dafür sein, dass die Luftangriffe auf mittel- und höherrangige Hamas Kommandanten abzielten. Ein unbestätigter Bericht vom Oktober, wonach Hamas-Vertreter privat zugegeben haben, dass achtzig Prozent der Todesopfer Hamas-Mitglieder und deren Familien seien, deutet exakt darauf hin.
Skepsis statt Leichtgläubigkeit
Es ist völlig klar, dass die Verwirrung, die zu den eingangs zitierten internationalen Schlagzeilen führte, kein bloßer Ausrutscher übereifriger Journalisten war, sondern auch einer gezielten Irreführung durch das OHCHR entsprang.
Wo die GCR-Richtlinien verlangen, dass »die Stärken und Schwächen der Daten so gut wie möglich dargelegt werden«, wählten die Autoren des Berichts stattdessen den Weg der Verschleierung der Schwächen und der massiven Übertreibung ihrer Implikationen. Mit Verweis auf die Auswertung verifizierter Todesfälle schreiben sie: »Auseinandersetzungen im Gazastreifen töteten nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums 34.535 Palästinenser. […] Die Mehrheit der Getöteten und Verletzten werden als Zivilisten eingeschätzt, mit einem großen Anteil an Kindern und Frauen.« Die geben aber die eigenen OHCHR-Daten nicht her, welche die kolportierte Einschätzung nur für die 8.119 verifizierten und zum größten Teil in Wohnhäusern Getöteten belegen.
Die Versuchung ist groß, derart schamlose und tendiere Verfälschungen allein dem Hass gegen Israel zuzuschreiben, doch diesem Impuls sollten wir widerstehen. Antisemitismus mag eine Rolle spielen, aber wir müssen den Hauptgrund anerkennen, der humanitäre Organisationen ungestraft lügen lässt, nämlich im Anschein edler Absichten – die ich ihnen größtenteils nicht absprechen will. Das OHCHR versteht den Schutz unschuldiger Kriegsopfer offenkundig als seine Aufgabe, ein durchaus lobenswertes Ziel. Das Problem ist nur, dass seine Funktionäre in der Wahrnehmung dieser Rolle zu Aktivisten werden – und Aktivisten sind schlechte Hüter der Wahrheit. Was ist für solche Aktivisten der guten Sache schließlich eine Unterschlagung hier, eine Übertreibung dort, ein irreführender Bericht am Schluss, wenn dadurch doch ein Kindesleben gerettet werden könnte?
Diese Tatsache entlässt Journalisten umso weniger aus ihrer Verantwortung, Recherchen zu betreiben und die veröffentlichten Schlüsse mit den zugrundeliegenden Daten und den Tatsachen vor Ort zu konfrontieren. Nur so könnten humanitäre Einrichtungen für ihre – möglichweise aus guten Absichten entspringende – Unehrlichkeit zur Rechenschaft gezogen werden. Die Verantwortung liegt bei uns allen, besonders aber bei Journalisten, auch den Behauptungen humanitärer Organisationen mit Skepsis statt mit blinder Leichtgläubigkeit zu begegnen. Leider scheinen manche Journalisten statt ihre Rolle als kritischer Beobachter selbst den Mantel des Aktivismus angelegt zu haben.