Nach intensiven Recherchen verdichten sich die Hinweise, dass SOS-Kinderdorf in Syrien jahrelang und systematisch mit den Sicherheitsdiensten und anderen Behörden des Regimes kollaboriert haben.
Zwei Monate nach dem Ende der Assad-Diktatur in Syrien kommt sukzessive das Ausmaß der vom Regime begangenen Verbrechen ans Licht. Sinnbildlich dafür stehen die Gefängnisse wie etwa das berüchtigte »Menschenschlachthaus« von Sednaya oder die sogenannte Palestine Branch in Damaskus, in denen im Lauf der vergangenen Jahrzehnte Zehntausende Menschen zu Tode gekommen sind.
Hatten Verwandte und Freunde der unzähligen »Verschwundenen«, sprich: Verschwinden-Gemachten im Dezember noch erwartet, ihre Angehörigen bald wieder zu sehen, hat sich diese Hoffnung inzwischen zerschlagen und in Trauer verwandelt, denn die meisten dieser Verschleppten scheinen umgekommen und irgendwo in Massengräbern verscharrt worden zu sein. Besonders bitter ist das Schicksal der immer noch verschwundenen Kinder: Dem Syrian Network for Human Right (SHNR) liegen 3.700 Fälle von Kindern vor, die seit dem Jahr 2011 gewaltsam von ihren Eltern getrennt wurden und seitdem nicht mehr auffindbar sind. Laut SHNR riss »das Assad-Regime diese Kinder aus ihren Familien oder verlegte in Haftanstalten geborene Kinder in Waisenhäuser oder Kinderbetreuungseinrichtungen«.
Vorwürfe nicht neu
Der Vorwurf ist nicht neu und wurde in den letzten Jahren immer wieder von Eltern erhoben, die gewaltsam von ihren Kindern getrennt worden waren. Schon 2013 sorgte der Fall der festgenommenen Rania al-Abassi, dem sich Amnesty International damals annahm, für Schlagzeilen, was aber insofern nichts nutzte, als die Frau gemeinsam mit ihren Kindern bis heute verschwunden ist.
Seit Jahren kämpft ihr Bruder, Hassan al-Abassi, um Informationen über ihren Verbleib zu erfahren. Nach Assads Sturz im Dezember 2024 erhielt er Hinweise, dass die Kinder unter Umständen zwangsweise in einem SOS-Kinderdorf untergebracht worden seien und begann umgehend eine Kampagne. Erste Hinweise, dass SOS-Kinderdörfer Syrien vier der sechs Kinder in einer ihrer Einrichtungen untergebracht hatte, gab es zwar schon 2022, nur ließen sich damals in Syrien keine unabhängigen Untersuchungen durchführen – schon gar nicht über ein so sensibles Thema und ganz besonders, weil Asma al-Assad, die Gattin des Präsidenten, als Schutzherrin der meisten Waisenhäuser im Land und damit auch der SOS-Kinderdörfer fungierte.
In der Zwischenzeit meldeten sich auch andere Mütter und Verwandte, deren Kinder ebenfalls mit Gewalt entführt wurden. Immer mehr verdichtet sich der Verdacht, dass besonders in Gefängnissen Frauen ihre Kinder entwendet und anschließend unter falscher Identität in Waisenhäuser untergebracht wurden. Unklar ist auch, was später mit diesen Kindern geschehen ist. So wird immer wieder der Verdacht geäußert, sie seien entweder zur Adoption freigegeben oder sogar in die Prostitution verkauft worden.
Der Druck in Syrien wächst; schon hat es mehrere Kundgebungen von Eltern und Angehörigen gegeben, die von der Regierung, die inzwischen eine Untersuchungskommission eingesetzt hat, schnelle Aufklärung fordern. Prominente Unterstützung erhielten sie kürzlich von der Association of Detainees & The Missing in Sednaya Prison (ADMSP):
»Wir starten heute eine weltweite Kampagne, nachdem wir herausgefunden haben, dass das gestürzte Regime mit Waisenhäusern zusammengearbeitet hat, um die Kinder zwangsweise inhaftierter Personen zu verstecken und ihre Identitäten auszulöschen. Wir glauben, dass diese Kinder möglicherweise außerhalb Syriens zur Adoption angeboten oder für illegale Zwecke verwendet wurden.
Wir fordern die neue Regierung auf, die Direktoren der Waisenhäuser sofort abzusetzen und gegen sie zu ermitteln. Wir fordern auch die Dokumente in den Geheimdiensten, Waisenhäusern und im Innenministerium, um herauszufinden, was mit den Kindern passiert ist. Wir fordern SOS-Kinderdorf International dringend auf, Druck auf seine Zweigstellen in Syrien auszuüben, damit sie diese Verstöße stoppen. Abschließend appellieren wir an die Kinder: Wenn Ihr uns hört, kontaktiert uns bitte über die Seite der Kampagne.«
Internationaler Prüfbericht
Ganz besonders in der Kritik stehen dabei die SOS-Kinderdörfer in Syrien, die schließlich an eine internationale, in Österreich ansässige Organisation angebunden sind, die in ihren Spendenkampagnen und auf ihrer Homepage höchste Standards im Kinderschutz verspricht. Nur klafft da seit Jahren offenbar eine recht große Diskrepanz zwischen dem, was versprochen wird, und der Realität in den Einrichtungen weltweit.
So wurden immer wieder Vorwürfe laut, dass es in Kinderdörfern zu sexuellem und anderem Missbrauch, Gewalt und weiteren Vergehen komme. Das führte schließlich dazu, dass die Organisation eine Independent Special Commission (ISC) damit beauftragte, die inkriminierten Fälle zu untersuchen. Diese ISC legte 2023 ihren Abschlussbericht vor, dessen 262 Seiten es in sich haben. Da ist etwa ein besonders aparter Fall in Nepal aufgeführt, wo ein der Päderastie angeklagter österreichischer Staatsbürger erst über einen obskuren Liechtensteiner Fond, der auch in den Panama Papers auftaucht, eine große Summe für den Bau eines Kinderdorfes spendet, um dort mehrmals zu übernachten und dabei mindestens acht Buben zu missbrauchen:
»In einem Fall wurde ein inzwischen verstorbener Spender beschuldigt, zwischen 2010 und 2014 in Nepal Kinder sexuell missbraucht zu haben. Nachdem er mehr als 900.000 Euro für die Finanzierung lokaler Einrichtungen gespendet hatte, wurde ihm ›Zugang‹ zu diesen gewährt, wo er dann angeblich Kinder missbrauchte, heißt es in dem Bericht. Die ›frühere Führungsspitze ermöglichte auch die Reise eines Jungen aus Nepal nach Österreich, um den Spender zu besuchen‹, fügte der Bericht hinzu.«
Auch die Situation in Syrien wird detailliert erwähnt; offensichtlich herrschten dort zumindest äußerst fragwürdige Verhältnisse in den SOS-Kinderdörfern. Schon 2016 hatten lokale Mitarbeiter den Mut aufgebracht, Missstände zu melden. Unter anderem ging es dabei auch um sexuellen Missbrauch und Gewalt gegen Kinder.
Die libanesische Investigativplattform Daraj weist zusätzlich darauf hin, dass schon im Jahr 2019 in der syrischen oppositionellen Presse schwerwiegende Vorwürfe gegen SOS-Kinderdorf erhoben wurden:
»In Berichten wurde hervorgehoben, dass Kinder von den ›Müttern‹ und ›Tanten‹, die für ihre Betreuung im SOS-Kinderdorf in Qudsia verantwortlich waren, geschlagen und psychisch misshandelt wurden. Außerdem wurden Fälle dokumentiert, in denen die Verwaltung Missbrauch vertuschte und die Täter nach kurzer Zeit wieder in ihren Positionen einstellte.«
Liest man die entsprechenden Passagen, stößt man immer wieder auf Vorschläge und Anweisungen an die syrische Organisation, Fälle von Missbrauch und Ähnlichem künftig ohne Verzögerungen an die zuständigen staatlichen Stellen zu melden. So heißt es etwa: »Die Schutz- und Sicherungsrichtlinie verlangt, dass alle Vorfälle zum Schutz von Kindern strafrechtlicher Natur nach syrischem Recht den staatlichen Institutionen gemeldet werden müssen.«
Dilemmata und Wiedersprüche
In solchen Ratschlägen drückt sich das Dilemma aus, in das sich Organisationen begeben, die in Diktaturen wie jener unter Assad arbeiten. Denn die Regierung selbst benutzte ja Waisenhäuser und eben auch Einrichtungen von SOS-Kinderdorf für ihre kriminellen Aktivitäten. Wie können sich dann Betroffene, selbst wenn sie wollen, an dieselben Autoritäten mit Beschwerden wenden, ohne ihr Leben in Gefahr zu bringen? Die Ratschläge, Missbrauchsfälle den Behörden zu melden, sind also entweder naiv oder zynisch, praktikabel sind sie in einem Klima der Angst und des Terrors, wie es in Syrien herrschte, jedenfalls nicht. Mehr noch, die Untersuchungen, die zu jener Zeit stattfanden, wurden unter Oberaufsicht syrischer Offizieller getätigt, die wohl direkt der Aufsicht von Asma al-Assad unterstanden:
»Aus einem [der syrischen Zeitung] Zaman al-Wasl vorliegenden Dokument geht hervor, dass die Organisation SOS [Kinderdorf] International im Jahr 2020 in direkter Abstimmung mit dem syrischen Regime und seinen Sicherheitsdiensten, einschließlich des Nationalen Sicherheitsbüros, das den syrischen Geheimdienst überwacht, die Bedingungen in Waisenhäusern in Syrien überprüft hat. Die Überprüfungen wurden unter strenger Aufsicht hochrangiger Beamter des Regimes, darunter Asma al-Assad, durchgeführt, was Fragen nach den Beweggründen für diesen Schritt aufwirft.«
Trotzdem dokumentiert der interne Report, der seit 2023 vorliegt, dass in Syrien in den Einrichtungen schwere Missstände herrschten, die so gar nicht zu den Spendenaufrufen passen, die SOS-Kinderdorf in der Zwischenzeit lancierten, um ihre dortigen Einrichtungen zu bewerben. Allerdings ist von Kindern, die zwangsweise untergebracht wurden, keine Rede.
Inzwischen allerdings gibt SOS-Kinderdorf, wohl aufgrund des Drucks aus Syrien, zu, in der Vergangenheit auch mit syrischen Behörden kollaboriert und Kinder aufgenommen zu haben, die der Organisation zugewiesen wurden und deren Herkunft im Dunklen blieb. Nach den im Dezember erhobenen Vorwürfen erklärte SOS-Kinderdorf:
»Uns liegen inzwischen gesicherte Erkenntnisse vor, dass im Jahr 2015 eine Gruppe von Kindern aus den genannten Gründen in einem syrischen SOS-Kinderdorf aufgenommen wurde. Über Aufnahmen in anderen Jahren ist uns derzeit nichts bekannt. Diese behördlich angeordnete Unterbringung wurde bereits vor einigen Jahren beendet, da sie nicht mit unseren Prinzipien und Statuten vereinbar ist.«
Laut Recherchen der syrischen Journalistin Israa Alrfae wurde allerdings zumindest ein Kind noch im Jahr 2018 dem SOS-Kinderdorf in Damaskus zugewiesen. Außerdem existierte die Einrichtung Saboura in Damaskus, die besonders im Fokus steht, im Jahr 2015 noch gar nicht, sondern wurde erst im Jahr 2017 eröffnet. Schwer belastendes Material publizierte jüngst auch die Zeitung Zaman al-Wasl, nämlich eine umfangreiche Liste von Kindern, die SOS-Kinderdorf über einen langen Zeitraum vom berüchtigten Sicherheitsdienst der syrischen Luftwaffe zugewiesen wurden, nachdem ihre Eltern verhaftet oder umgebracht worden waren.
Kurzum: Die Hinweise verdichten sich, dass die SOS-Kinderdörfer in Syrien jahrelang und systematisch mit den Sicherheitsdiensten und anderen Behörden kollaboriert haben. Erst nach dem Sturz Assads und aufgrund des wachsenden Drucks sowie massiver Kritik gibt SOS-Kinderdorf scheibchenweise zu, welches Unrecht sie in ihren Einrichtungen geduldet haben.
Auf eine Anfrage von Mena-Watch antwortete SOS-Kinderdorf Österreich:
»Generell müssen wir leider bestätigen, dass dem selbstständigen Länderverein SOS-Kinderdorf Syrien während des Assad-Regimes Kinder zugewiesen wurden, weil ihr Sorgeberechtigten zuvor vom Regime verhaftet worden waren oder aus sonstigen uns nicht bekannten Gründen.« Man habe, heißt es weiter, »die noch vorhandenen Daten an die offiziellen Stellen der neuen zivilen Regierung übermittelt. Darüber hinaus haben wir, die SOS-Kinderdörfer weltweit, eigene Anwälten mandatiert, die mit Sammlung von Hinweisen beschäftigt sind.«
In der Tat wurde am 23. Januar eine entsprechende Untersuchung in Auftrag gegeben, auch weil, wie es in einem Schreiben heißt, die internationale Dachorganisation der SOS-Kinderdörfer, der Hermann-Gmeiner-Fond in Deutschland, einer der Hauptgeldgeber der syrischen Partner gewesen sei.
Wie weiter?
Bislang hat sich noch kein größeres deutschsprachiges Medium mit diesem Skandal befasst, der doch wie durch ein Brennglas zeigt, was es heißt, als Hilfsorganisation in Diktaturen wie jener unter Assad zu arbeiten. Das syrische Regime hatte offenbar nicht die geringsten Skrupel, neben lokalen Waisenhäusern auch die Einrichtungen von SOS-Kinderdorf zum Teil seines brutalen Repressionsapparates zu machen. Des Weiteren steht der Verdacht im Raum, dass sich sogenannte Vergewaltigungskinder unter den Eingewiesenen befanden, also Kinder, die bei sexuellem Missbrauch durch Wärter in Gefängnissen gezeugt wurden, denn sexueller Missbrauch war in syrischen Gefängnissen Alltag.
Wenn die SOS-Kinderdörfer von diesen Einweisungen wussten, stellt sich die Frage, weshalb sie jahrelang und eben bis zum Sturz Assads geschwiegen und die ganze Zeit weiterhin Spendenaufrufe lanciert haben, in denen mit berührenden Bildern dafür geworben wurde, wie gut es Kindern in diesen Einrichtungen gehe? Denn es ist äußerst unwahrscheinlich, dass dem vor Ort tätigen Personal nicht bekannt gewesen ist, was es bedeutet, wenn Mitarbeiter von Geheimdiensten Kinder mit äußerst fragwürdiger Herkunft der NGO zuweisen.
Außerdem stellt sich die Frage, wo diese Kinder verblieben sind, denn viele der verzweifelt von ihren Eltern gesuchten befinden sich nicht mehr in den Einrichtungen. Wurden sie, wie Hassan al-Khatib vermutet, zur Adoption freigegeben, oder sind sie gar, wie Israa Alrfae befürchtet, an Kinderhändlerringe verkauft?
Wird es wirklich eine gründliche Untersuchung geben, wie von Angehörigen und syrischen Menschenrechtsorganisationen gefordert? Auch dies bleibt eine große Frage, denn im Mittelbau syrischer Behörden arbeiten weiter all jene, die dort auch schon unter Assad tätig waren. Keiner von ihnen dürfte ein nachhaltiges Interesse an der Aufklärung dieser Missstände haben, um selbst als Mittäter bekannt zu werden. So steht zu befürchten, dass man nie das ganze Ausmaß dieser Verbrechen erfahren wird.
Da ist es nur ein kleiner Trost, dass sich in Syrien zumindest so viele Menschen für das Schicksal dieser Kinder interessieren, denn es handelt sich bei ihnen eben nicht um klassische Waisen ohne Eltern und Angehörige. Sie haben nämlich in der Regel keine Lobby und niemanden, der sich für das Schicksal und den Verbleib der Kinder interessiert. Und das ist auch einer der Gründe, weshalb sie weltweit derart oft zu Opfern von Missbrauch, Gewalt und Ausbeutung werden.
Die Hilfsorganisationen, die sich öffentlichkeitswirksam als Helfer und Beschützer dieser Kinder inszenieren, müssten genau aus diesem Grund eine ganz besondere Verantwortung tragen und jedem, auch dem kleinsten Hinweis nachgehen, ob es in einer ihrer Einrichtungen zu Missbrauch gekommen ist. Genau dies scheint, trotz anderslautender Beteuerungen, bei den SOS-Kinderdörfern nicht der Fall zu sein. Leider ist Syrien nur ein Beispiel von vielen, wenn auch ein besonders erschreckendes.
Da sich in der Vergangenheit auch gezeigt hat, dass SOS-Kinderdorf erst reagiert, wenn Druck aufgebaut wird und die Organisation solange es irgendwie geht, Fälle von Missbrauch zu leugnen oder kleinzureden versucht, wäre es umso wichtiger, dass auch in Deutschland und Österreich die Medien und die Öffentlichkeit nun ein größeres Interesse am Schicksal dieser Kinder in Syrien zeigen.