Bei Benny Katzover in der Siedlung Elon Moreh im auch als Samaria bekannten nördlichen Teil des Westjordanlandes.
Sandro Serafin und Merle Hofer
Benny Katzover sitzt in der Siedlung Elon Moreh vor einer atemberaubenden Kulisse: Hinter ihm erstreckt sich ein biblisches Panorama mit Blick auf die Berge Garisim und Ebal; im Tal dazwischen liegt die palästinensische Stadt Nablus, das biblische Schechem (Sichem). Katzover, hagere Statur, blaues Hemd, kann darüber begeistert erzählen: Hier sei das jüdische Volk eingesetzt worden, sagt er, als es mit Josua ins Land kam. Es sei historisch und geographisch das Herz von »Eretz Israel«.
Gerade aber rührt Katzover in seinem Kaffee, neigt den Kopf etwas zur Seite und hat ein leicht gequältes Lächeln auf dem Gesicht. Wir sprechen über ein unangenehmes Thema: »Siedlergewalt«. Für viele ist schon der Begriff ein Reizwort, weil es Siedler als solche in Zusammenhang mit Gewalt bringt – Siedler, wie auch Katzover einer ist. Der 77-Jährige hat sich als Pionier der ersten Stunde einen Namen gemacht, gehörte zu den frühen Siedlern in Hebronund trieb anschließend die Bewegung im auch Samaria genannten nördlichen Westjordanland voran.
Hier wählten 87 Prozent Ben-Gvir
»Dieser Radikale?«, fragt eine Israelin später, als wir in Jerusalem erzählen, wen wir getroffen haben. Nicht nur Katzover gilt vielen als Radikaler, sondern die ganze Ortschaft Elon Moreh. Bei den Knesset-Wahlen im November 2022 votierten hier etwa 86 Prozent für den Religiösen Zionismus – das Bündnis des heutigen, innerhalb Israels und international heiß umstrittenen extrem rechten Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir und des ebenso extrem rechten Finanzministers Bezalel Smotritch.
Für viele ist das eine einfache Gleichung: Ben Gvir gleich radikal und radikal gleich Gewalt. Katzover wirkt alles andere als radikal. Man spürt ihm die Liebe für das Land und seine Geschichte ab. Er erzählt ruhig und sachlich. Und nach einem kurzen, nur unterschwellig angedeuteten Seufzer nimmt er ausführlich zum Thema »Siedlergewalt« Stellung.
»Sie beschädigen den Ruf des Staates«
Katzover leugnet das Phänomen nicht. Und dass er die Gewalt ablehnt, ist für ihn keine Frage: »Sie schaden uns und tun Dinge, die nicht richtig sind. Sie beschädigen sowohl das Siedlungsprojekt, als auch den Ruf des Staates«, sagt er, der in den 1980er und frühen 1990er Jahren dem Regionalrat von Samaria vorstand. Zugleich betont Katzover, dass es sich um eine kleine Minderheit handle.
Dass international die Aufmerksamkeit für das Thema enorm zugenommen hat, interpretiert er so: Die Welt begegne Israel »mal wieder« mit der typischen Doppelmoral. Ist es nur das? Ist das Problem nicht tatsächlich größer geworden? Die linke israelische Organisation Jesch Din behauptete zu Jahresbeginn, 2023 sei das Jahr mit der meisten und schwersten Siedlergewalt gewesen, seit sie das Thema 2006 in den Blick genommen hat.
Eine exakte, objektive Einordnung ist wie so oft in diesem Konflikt schwierig. An anderer Stelle erzählt aber auch ein nationalreligiöser Polizist, selbst Siedler und in Hebron stationiert, dass er zunehmend mit gewalttätigen Israelis im Westjordanland zu tun habe. Bilder von Siedlern, die etwa palästinensisches Eigentum in Brand stecken, lassen sich nicht leugnen und werden in der israelischen Presse heiß diskutiert.
Jugendliche Problemfälle
Die in der deutschen Presse gängige Erklärung für dieses Phänomen lautet: Die seit Dezember 2022 im Amt befindliche rechte israelische Regierung habe den Siedlern so etwas wie einen Freifahrtschein ausgestellt. Dass mit Itamar Ben-Gvir jemand Sicherheitsminister ist, der jedenfalls ursprünglich der rechtsradikalen kahanistischen Denkströmung entstammt, gebe Gewalttätern das Gefühl, Oberwasser zu haben und machen zu können, was sie wollen.
Selten hingegen hört man eine Binnenperspektive wie die von Katzover. Angesprochen auf Gewalttäter der sogenannten Hügeljugend – jugendliche Israelis, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Hügel des Westjordanlands für israelische Besiedlung zu erobern – holt er aus: »Das ist eine Art von Jugendlichen, die es in der ganzen Welt gibt. Sie bringen in der Schule schlechte Leistung, wollen keine Verantwortung übernehmen, erkennen die Lehrer nicht an, niemand zeigt ihnen, wo es lang geht.«
Demnach wäre es nicht anders als mit deutschen Jugendlichen, die unter verkorksten Lebensumständen in den Linksextremismus, Rechtsextremismus oder auch Islamismus abgleiten und schließlich den Sinn ihres Lebens in der Gewalt suchen: »Ein Teil von ihnen findet seine Bestimmung dann draußen, indem sie mit Schafen und Ziegen arbeiten, und teilweise eben auch in Form von Gewalt«, führt Katzover mit Blick auf gewalttätige Siedler der Hügeljugend aus, von denen ihm selbst einige bekannt sind. So werden dann auch die israelischen Sicherheitskräfte, Armee und Polizei, häufig zu einem Feindbild für diese Jugendlichen.
Unrecht gegenüber Siedlern?
Katzover verurteilt ihr Verhalten – und zeigt dennoch ein wenig Verständnis. Die Hügeljugend sehe viel Unrecht, sagt er: Wenn Araber sich im Westjordanland Land aneigneten, dann tue niemand irgendetwas dagegen. Tatsächlich ist das illegale arabische Bauen in der Zone C, also den gemäß der Osloer Abkommen voll unter israelischer Kontrolle stehenden Teilen des Westjordanlands, unter nationalreligiösen Israelis ein großes Thema: Die rechte israelische Organisation Regavim registrierte 2022 81.317 illegale arabische und 4.382 illegale jüdische Bauten.
»Vielleicht gegen hundert oder zweihundert der arabischen Bauten geht die Regierung vor«, sagt Katzover. »Wenn aber die Hügeljugend auf die Hügel steigt, kommt wegen des internationalen Drucks die ganze Armee; man schlägt sie, zerrt sie weg, zerstört ihre Bauten.« Diese Ungerechtigkeit trage zur Radikalisierung bei, gerade bei Jugendlichen: »Die machen sich keine komplexen Gedanken«, sagt Katzover, »sondern es wächst in ihnen langsam das Gefühl: Es gibt keine Gerechtigkeit, wir können uns nicht auf unsere Regierung, auf unsere Armee und nicht auf die Polizei verlassen – also lasst es uns selbst in die Hand nehmen!«
»Freude ist die stärkste Waffe«
Tut Katzover etwas dagegen? Wenn solche Jugendliche zu seinen Führungen auf dem Berg Kabir bei Elon Moreh kommen, versuche er ihnen zu erklären: »Wenn ihr Steine werft, wird lediglich über die Steine berichtet – nicht aber über das, worum es euch eigentlich geht.« Katzover ist überzeugt, man dürfe den Hügeljugendlichen nicht mit Gewalt begegnen, sondern mit Bildung und mit Liebe. Wo man dies tue, sehe man auch deutliche Ergebnisse: »Siebzig bis achtzig Prozent gehen schließlich in die Armee, die zunächst noch etwas sehr Negatives für sie war.«
Katzover erinnert sich an seine eigene Zeit zurück, an den »Kampf um Samaria«, wie er es nennt: »Wir führten diesen ganzen Kampf fast ausschließlich, ohne die Hand gegen andere zu erheben oder Schaden anzurichten.« So habe es auch schon Rabbiner Zvi Jehuda Kook, der große Kopf der Siedlerbewegung Gusch Emunim, verlangt, sagt Katzover: »Was haben wir stattdessen getan? Wir haben gesungen. Singen bedeutet Freude. Und Freude ist eine viel stärkere Waffe als jede andere Waffe.«