Im Mena-Talk mit Florian Markl kritisiert Ingo Elbe die eng mit der Dämonisierung Israels und des Westens verknüpfte postkoloniale Theorie.
Im Gespräch mit Florian Markl kritisiert der Philosoph und Sozialwissenschaftler Ingo Elbe die postkoloniale Theorie scharf. Die an vielen Universitäten weltweit einflussreiche Denkschule werde durch manichäisches Denken charakterisiert und sei eng mit antisemitischen Denkmustern sowie einer Delegitimierung Israels verknüpft, an der sich nicht etwa Randfiguren, sondern zentrale Vordenker postkolonialen Denkens beteiligen.
Grundannahmen und Probleme
Die postkoloniale Theorie geht davon aus, dass koloniale Denkweisen und Strukturen auch nach dem Ende des Kolonialismus im Westen weiterbestehen. Zentraler Bezugspunkt ist Edward Saids Werk Orientalismus (1978), das Elbe als »stilbildend« für postkoloniale Theorie bezeichnet und in dem grundlegende Probleme postkolonialen Denkens bereits angelegt seien.
So verwische Said die Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus, den Zionismus erkläre er zum Kolonialismus, während die Juden nach 1945 zu Helden des Westens, die Muslime dagegen die wahren Opfer des »Anti-Semitismus« geworden seien. Diese Sichtweise öffne antisemitischen Stereotypen Tür und Tor.
Das »genozidale« Israel
Als besonders folgenreich betrachtet Elbe die Anwendung postkolonialer Schemata auf Israel. In den sogenannten Siedlerkolonialismus-Studien werde schon die bloße Existenz Israels als »genozidal« gedeutet, und zwar ganz unabhängig von Kriegen oder konkreten Taten. Jeder Akt jüdischer Staatlichkeit oder Souveränität werde in diesem Denken als Unterdrückung und Vernichtung der Palästinenser verstanden. Damit werde Israels bloße Existenz zum Verbrechen erklärt.
Auch diese grundsätzliche Delegitimierung Israels finde sich bereits bei Edward Said. In seinem Buch The Question of Palestine, das er ein Jahr nach Orientalismus veröffentlichte, vertrete Said die These, »dass Israel auf der theoretischen und praktischen Eliminierung der Palästinenser als Volk gegründet sei«.
Zugleich sei in postkolonialem Denken der Versuch weit verbreitet, mit laut Elbe hanebüchenen Theorien die jüdische Indigenität im Nahen Osten zu leugnen, während Palästinenser als einziges »ursprüngliches« Volk dargestellt würden.
Mit solch »manichäischen Gut-und-Böse-Denkmustern« sei der Postkolonialismus anschlussfähig an den alten Antiimperialismus, indem sich zeitgenössische, postkolonial orientierte Linke mit alten Marxisten-Leninisten darauf einigen könnten: »Israel ist der Kolonisator, die Palästinenser sind das ursprüngliche Volk, das ausgebeutet und vernichtet wird.«
Holocaust und Erinnerungskultur
Postkoloniale Theoretiker stellen den Holocaust nicht als singuläres, präzedenzloses Verbrechen dar, sondern reihen ihn in die Geschichte kolonialer Massengewalt ein. Damit gehen für Elbe die spezifische Dimension des Vernichtungsantisemitismus und der fundamentale Unterschied zwischen Kolonialverbrechen und dem Holocaust verloren. Das Gedenken an die Shoah wird oft als Hindernis für die Erinnerung an Kolonialverbrechen dargestellt.
Eingefordert werde eine »multidirektionale Erinnerung«, bei der in Wahrheit aber die Erinnerung an den Holocaust in den Hintergrund treten und Israel delegitimiert werden soll. Denn wenn der Holocaust in Wahrheit nichts Besonderes, sondern nur ein »Kolonialverbrechen« unter vielen gewesen sei, dann brauche es auch keinen Staat Israel, in dem Juden Schutz vor antisemitischer Verfolgung finden können.
Elbe weist auf einen blinden Fleck des Postkolonialismus hin: Thematisiert würden nur Verbrechen, für die man dem Westen die Schuld geben könne, während Verbrechen anderer Gesellschaften konsequent ausgeblendet bleiben.
Antisemitische Kontinuitäten
Laut Elbe werden in postkolonialem Denken zentrale antisemitische Muster reproduziert: Juden würden als privilegierte, herrschende und zerstörerische Kraft dargestellt, der Zionismus nicht selten mit Faschismus oder gar »Hitlerismus« gleichgesetzt. In extremen Ausprägungen, etwa bei Ramón Grosfoguel, nehme das geradezu den Charakter eines »erlösungsantisemitischen« Denkens an, das Israels Vernichtung als Voraussetzung für eine bessere Welt begreife.
Erschreckend sei, das Grosfoguel mit seinem Fanatismus keineswegs eine marginale Figur der postkolonialen Szene darstelle, sondern »einer der einflussreichsten dekolonialen Theoretiker der Welt« sei. Wird Studenten an Universitäten gelehrt, dass wir uns in einem »apokalyptischen Endzeitkampf« befinden und Professoren wie Joseph Massad von der Columbia University in New York das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 feierten, sei es nicht verwunderlich, dass es in den USA bereits mehrere antisemitische Morde gegeben hat. »Das heißt nicht, dass jeder Postkoloniale so denkt, aber die Potenziale sind in diesem Diskurs angelegt.«
Woher der Erfolg?
Die Frage nach dem Grund des Erfolgs des Postkolonialismus beantwortet Elbe mit ein paar Thesen. Postkoloniales Denken biete »die Möglichkeit, westliche Schuld zu thematisieren und sich dadurch moralisch überlegen zu fühlen«. So paradox es auch klingen mag: Für seine Proponenten biete postkoloniale Agitation das »Versprechen auf zumindest ein bisschen Schulderlösung, indem man sich die Schuld selber dauerhaft gibt«.
Fuß fassen habe der Postkolonialismus auch deshalb können, weil es sich bei ihm um »die Fortsetzung des linken Antiimperialismus in neuer Form« handle. Entstanden sei diese Denkrichtung nicht zufällig in den 1970er Jahren, als der Marxismus-Leninismus seine Strahlkraft verloren hatte und man auf der Suche nach einer Ersatzideologie gewesen sei. Der große Vorteil des postkolonialen Denkens sei dabei gewesen, »dass man seinen eigenen Antiimperialismus mit den westlichen Ausbeutergesellschaften, die die Völker der dritten Welt ausbeuten, quasi weiter tradieren konnte und dann nur in eine eher postmodern oder literaturwissenschaftlich ausgerichtete Theorie übertragen musste.«
Das passe auch zu dem immer weiter um sich greifenden Kulturrelativismus, mit dem autoritäre Herrschaftsformen im Namen der »Anderen« legitimiert werden, solange es sich nicht um westliche Kulturen handelte. Auf diese Weise werde eine Affirmation autoritärer oder totalitärer Systeme mit dem »Gestus von Toleranz« betrieben, indem man beweise, »dass man weltgewandt ist und den Anderen akzeptiert«. Das ermögliche es, in einer zunehmend multipolaren Welt weltübergreifende Bündnisse zu schließen, wie es Vordenker des Postkolonialismus tun, die sich mit islamistischen Terrorgruppen wie der Hisbollah oder der Hamas solidarisieren.
Fazit
Elbes Ausblick ist alles andere als optimistisch. Obwohl speziell nach dem 7. Oktober 2023 einige der schlimmsten postkolonialen Auswüchse wie der massive Antisemitismus in den Blick einer größeren Öffentlichkeit gerückt seien, werde von postkolonialer Seite ein reiner Abwehrkampf geführt: »Man leugnet, man verharmlost, man versucht mit den abenteuerlichsten Mitteln zu zeigen, dass diese Vorwürfe unberechtigt seien.«
Hoffnung darauf, dass der Postkolonialismus mit seinem manichäischen Denken und seiner offenen Flanke zum Antisemitismus seinen Zenit bereits überschritten habe, hat Elbe nicht. Ganz im Gegenteil: »Ich glaube, dass wir selbst in Deutschland noch nicht mal auf dem Höhepunkt des Einflusses dieses Denkens sind.«






