Um den Verlauf des Konflikts und der heutigen Situation der Palästinenser zu verstehen, muss man ihre historische »Alles-oder-Nichts«-Politik in Betracht ziehen.
Donna Robinson Divine
Warum ist Palästina immer noch kein unabhängiger Staat? Die gängige Antwort beginnt und endet normalerweise mit Israel und seiner »Besatzung«, die den Palästinensern angeblich ihr Land und ihr Recht auf Selbstbestimmung verweigere. Die berühmten Worte des palästinensisch-amerikanischen Professors Edward Said von der Columbia University, dass der Zionismus aus der Sicht seiner Opfer beurteilt werden sollte, besitzen nach wie vor kulturelle Autorität, auch wenn sie im Widerspruch zu den historischen Fakten stehen.
Der Zionismus hat immer eine Politik befürwortet, die auf der Idee der Teilung des Landes beruhte. Fast ein Jahrzehnt lang war Israel in einen Prozess involviert, in dem es davon ausging, Palästina als Land auf der Landkarte der Region hinzuzufügen. Warum erscheint nun eine Zukunft, die einst als Weg zur Souveränität angesehen wurde, wie Science-Fiction?
Um klar zu verstehen, wie und warum die Feindseligkeiten, die einst angeblich kurz vor ihrem Aus standen, zu dem heutigen Schrecken geführt haben, müssen wir viele lang gehegte Illusionen aufgeben und stattdessen die historische geopolitische Strategie der Palästinenser betrachten, die immer auf ein »alles oder nichts« ausgerichtet war.
Nehmen wir zum Beispiel den arabischen Aufstand von 1936, in dem die Wut der palästinensischen Bauern entfacht wurde, ohne ernsthaft über die Folgen nachzudenken. Nach einem Jahrzehnt jüdischer Einwanderung und Landkäufen unter der britischen Herrschaft, die trotz des Widerstands der Palästinenser stattfanden, begannen Araber, darunter auch solche aus anderen Ländern als dem Mandatsgebiet, Juden und britische Streitkräfte anzugreifen.
Brutale britische Maßnahmen zur Niederschlagung beendeten den Aufstand, aber nicht bevor Dutzende von Bauern die Städte besetzten. Am Ende der Revolte war das Palästina-Problem in die umfassenderen Bestrebungen nach arabischer nationaler Einheit eingebunden. Die Aufhebung der Grenzen zwischen Nation und Region führte zu Bestrebungen, die sowohl unrealistisch als auch selbstzerstörerisch für alle waren, die sich ihnen anschlossen.
Die darin sich ausdrückende »Alles-oder-nichts-Strategie« wurde zu einer heiligen Formel, die verehrt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. So waren etwa die Empörung und Ablehnung des UN-Teilungsplans von 1947 in exakt diesem Prinzip verankert.
Apokalyptische Katastrophe
Dieselben proteischen Kräfte überschatteten die Osloer Verträge und führten zu ihrem Scheitern, indem sie jahrelange mühsame Verhandlungen durch anhaltende Gewalt ersetzten. Während die »Erste Intifada« den Friedensprozess der 1990er Jahre vorantrieb, glorifizierte die »Zweite Intifada« Bombenanschläge auf Busse, Restaurants oder Lokale, in denen sich jugendliche Israelis zum Tanzen trafen, und vereitelte damit ein großzügiges Programm zum Aufbau eines Staates.
Selbst als die Staats- und Regierungschefs der Welt die palästinensischen Führer davon überzeugten, sich – zumindest oberflächlich – zu »zwei Staaten für zwei Völker« zu bekennen, gelang es ihnen nie, diese Worte auch in Taten umzusetzen. Dies ermöglichte es letztlich, die von der Hamas angeführten Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 zu einem fast mythologischen Status zu erheben. Die Ersetzung der Forderung nach »zwei Staaten für zwei Völker« durch den Ruf »Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein« hob die Verheerung, die Israel erschütterte, in eine apokalyptische Dimension.
Die Palästinenser fanden weltweit Unterstützer, welche die Gräueltaten in eine Art heiliges Drama verwandelten, einen Moment rücksichtsloser Kühnheit und Selbstaufopferung für eine edle Sache. Das Gemetzel wurde auf Universitätsgeländen und in vielen amerikanischen und europäischen Städten als ruhmbringende Tat im Namen der Palästinenser gefeiert, die zur ewigen Metapher für die unschuldigen Opfer einer historischen Ungerechtigkeit wurden.
Einige Demonstranten spielten die Gewalt herunter oder leugneten sie, aber eine überraschend große Zahl begrüßte die Taten der Hamas uneingeschränkt und verlieh der Bewegung damit eine revolutionäre Legitimität, die sie zuvor nie besessen hatte und deren Auswirkungen weit über die umstrittene Region hinausreichten und den Keim für weitere Gewalt säten.
Barbarei der Hamas
Die Barbarei der Hamas, die Tod und Zerstörung verbreitete, wie es schon bei früheren Massakern der Fall war, wurde für viele Staats- und Regierungschefs, deren Aufmerksamkeit sich bald auf die unschuldigen Palästinenser richtete, die zwischen die Fronten geraten waren, zu einer Fußnote, wenn sie sie überhaupt noch wahrnahmen. Unter dem Druck innerer Zwänge und aus Furcht um ihr eigenes politisches Überleben schalteten sich viele führende internationale Politiker mit Vorschlägen ein, die angeblich darauf abzielten, den nationalen Kampf der Palästinenser vor dem völligen Zerfall zu bewahren.
Am problematischsten ist dabei der Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der eine gemeinsame Erklärung der arabischen und europäischen Staaten zur Anerkennung eines palästinensischen Staates organisieren will. Bemerkenswert an seinem Vorschlag ist, dass er suggeriert, es habe sich überhaupt nichts geändert und die Welt sich noch immer in der Ära der Osloer Verträge befinde und die Umwälzungen des letzten Vierteljahrhunderts nie stattgefunden hätten. Ginge es nach dieser Vorstellung, würde der 7. Oktober im Prinzip zum Unabhängigkeitstag Palästinas werden.
Dies ist eine zutiefst beunruhigende Vorstellung. Die von der Hamas angeführten Angriffe hatten nicht zum Ziel, Frieden und Stabilität in der Region oder der Welt zu schaffen. Eine Erklärung, die einen palästinensischen Staat ohne festgelegte, konfigurierte Grenzen anerkennt, verleiht einer Idee Macht, die nicht nur chaotisch, sondern auch gefährlich ist. Sie bedeutet, dass die geopolitische »Alles-oder-nichts«-Strategie kein Anachronismus ist. Ihre Imperative können nicht akzeptiert, aber offenbar auch nicht zerstört werden.
Die Palästinenser sind Opfer einer strategischen Doktrin, die so rigide vertreten wird, dass sie die Art von Kalkülen und Kompromissen ausschließt, die Bevölkerungen und ihre Führer normalerweise eingehen, wenn sie Staaten aufbauen. So bleiben sie einer Gewalt ausgeliefert, die ihren Tod als ewige Opfer kuratiert, nur um zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Sie stürzt palästinensische Männer, Frauen und Kinder in einen Kreislauf von Zerstörung und Verlust, von dem sich Familien, wenn nicht ganze Generationen, nie wieder erholen werden.
Die Palästinenser haben das Märtyrertum verherrlicht und eine nationale Kultur aufgebaut, die auf Groll und Opferhaltung basiert. Sie huldigen der »Nakba« von 1948 (arabisch für »Katastrophe«, die Gründung des Staates Israel) und setzen sich keine realistischen Ziele, mit denen sie ihre Unabhängigkeit erreichen könnten. Der Aufbau von Institutionen und einer Kultur, die materiellen Wohlstand und Stabilität fördern, ist keine leichte Aufgabe, die für die Palästinenser besonders schwierig sein wird. Es mag zwar ein langwieriges Unterfangen sein, aber es ist dennoch das einzige, das es wert ist, in Angriff genommen zu werden.
Donna Robinson Divine ist Morningstar-Familienprofessorin für Jüdische Studien und emeritierte Professorin für Politikwissenschaft am Smith College in Massachusetts. (Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)