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Nordsyrien: Erdbeben im Krisengebiet

New York: Solidaritätsdemonstration mit den Erdbebenopfern in Syrien und der Türkei
New York: Solidaritätsdemonstration mit den Erdbebenopfern in Syrien und der Türkei (© Imago Images / ZUMA Wire)

Es brauchte ein verheerendes Erdbeben, damit die internationale Gemeinschaft ihren Blick wieder auf Nordsyrien richtete. Ob sich dadurch die Lage für die Bevölkerung nachhaltig verbessern wird, muss bezweifelt werden.

Das Sterben in der Türkei und in Nordsyrien geht weiter: Am Mittwoch gab es im Irak an der Grenze zu Syrien, in der Türkei und sogar im östlichen Mittelmeer nahe der Grenze Israels zum Libanon massive Nachbeben. Der Leiterin des libanesischen Zentrums für Geophysik, Marlene Brax, zufolge wird die Erde in diesen Regionen noch länger beben, da im Untergrund weitere Energie gefangen sei, die nun freigesetzt werde, wie regionale Medien berichteten. 

Zugleich wird langsam das ganze Ausmaß des verheerenden Beben vom 6. Februar sichtbar: der Insgesamt gab es bisher 46.000 Tote, 40.000 davon in der Türkei und knapp 6.000 in Nordsyrien. Da immer noch nicht alle Leichen unter den Trümmern geborgen wurden, werden diese Zahlen wohl weiter steigen. Während in den türkischen Katastrophengebieten unmittelbar nach dem Beben internationale Hilfe eintraf, kamen in Syrien zu wenige Hilfslieferungen zu spät an. Woran liegt das?

Terrorist im Schafspelz?

Im Winter 2016 nahm die syrische Armee mithilfe der russischen Luftwaffe den Ostteil Aleppos ein. Den verbliebenen Rebellenmilizen wurde der freie Abzug in die Provinz Idlib erlaubt. Ähnlich verfuhr Damaskus mit der Opposition in Ghouta und Daraa. Idlib wurde Auffangbecken für Oppositionelle aller Schattierungen und ihrer Familien. 

Nach jahrelangen Machtkämpfen in Idlib hat sich der (ehemalige) al-Qaida-Ableger Hayat Tahrir al-Sham (HTS) durchgesetzt. Der Milizenverband steht unter dem Kommando von Abu Mohammad al-Jolani. Der in Saudi-Arabien geborene Jolani mit syrischen Wurzeln kämpfte für den Islamischen Staat und al-Qaida, zunächst im Irak, seit 2011 in Syrien. Von beiden Terrororganisationen hat er sich offiziell losgesagt. In Idlib ist es Jolani gelungen, eine rudimentäre Verwaltung und ein Mindestmaß an Ordnung aufzubauen. 

Nach außen hin ist Jolani bemüht, sich von seiner terroristischen Vergangenheit zu lösen und gibt sich als moderater Islamist. Er betont, sein Kampf richte sich nicht gegen den Westen, sondern ausschließlich gegen das Regime in Damaskus. Obwohl die Situation in den von Rebellen kontrollierten Gebieten für religiöse Minderheiten angespannt bleibt, können in einigen christlichen Kirchen in Idlib inzwischen wieder Messen gefeiert werden. Die Moral-Polizei, die in ihren Augen unangemessen gekleidete Frauen belästigte, ist von den Straßen verschwunden. 

Der Grund für Jolanis Kurswechsel ist klar. Keiner der großen Player in Syrien wird offiziell mit einer Miliz kooperieren, die als Terrororganisation gelistet ist. Von dieser Liste gestrichen zu werden würde Hayat Tahrir al-Sham einen weitaus größeren Handlungsspielraum eröffnen. 

Vielfach bleibt es aber bei bloßer Rhetorik, denn obwohl HTS sich gemäßigt islamistisch gibt, regiert die Miliz und ihre zivile Verwaltung weiterhin autoritär. In Idlibs Gefängnissen sind nicht nur ausländische und syrische al-Qaida und IS-Anhänger sowie Mitglieder verfeindeter Rebellengruppen inhaftiert, sondern auch Journalisten und andere Personen, die HTS kritisieren.

Fleckenteppich Nordsyrien 

Nördlich von Idlib hat die Türkei in mehreren Offensiven seit 2016 einen Streifen Land besetzt, der sich entlang der türkischen Grenze bis zum Euphrat erstreckt. In diesen Gebieten kooperiert Ankara mit der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA). 

Diese »Armee« besteht aus zahlreichen Rebellenmilizen, die, je nach ihrer militärischen Schlagkraft, Regionen, Städte und Grenzübergänge kontrollieren. Zahlreiche Milizenführer nutzen ihre Macht, um sich zu bereichern. Die Vorwürfe reichen von Schutzgelderpressung und Raub über Entführung, Folter bis Mord. Betroffen sind vor allem jene Kurden, die nach dem türkischen Angriff auf Afrin im Jahr 2018 in der Region geblieben sind. Aber auch syrische Araber, die aus anderen Gebieten hierher flohen, werden Opfer von Übergriffen. 

Die Milizenführer investieren das aus ihren illegalen Aktivitäten gewonnene Geld in Immobilien und andere lukrative Projekte, und zwar sowohl in der Türkei als auch in den Rebellengebieten.

Lebensader Bab al-Hawa

Die Bevölkerung in beiden genannte Regionen ist von UN-Hilfslieferungen abhängig. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben im Nordwesten Syriens rund 4,4 Millionen Menschen. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Binnenflüchtlinge, von denen viele seit Jahren in Lagern hausen. Über vier Millionen sind laut UN auf humanitäre Hilfe angewiesen. 

Bis vor dem Erdbeben war Bab al-Hawa der einzige Grenzübergang, über den UN-Hilfsgüter von der Türkei nach Nordsyrien gelangten. Der grenzüberschreitende Mechanismus wurde 2014 geschaffen, um die Lieferung von humanitärer Hilfe der Vereinten Nationen direkt in die von der Opposition kontrollierten Gebiete Syriens zu ermöglichen. Eine Ausnahmeregelung, denn tatsächlich schreibt das humanitäre Völkerrecht vor, dass alle Hilfslieferungen über die Regierung des Gastlandes laufen müssen. Und das ist, völkerrechtlich betrachtet, nach wie vor die Regierung Assad in Damaskus. 

Ursprünglich waren vier Grenzübergänge für UN-Hilfe geöffnet – zwei in der Türkei, einer in Jordanien und einer im Irak. Doch Syriens Verbündete Russland und China nutzten in den vergangenen Jahren ihre Vetos im UN-Sicherheitsrat, um die Zahl der genehmigten Lieferrouten zu reduzieren. Ab dem Jahr 2020 war nur noch der türkisch-syrische Grenzübergang Bab al-Hawa in Betrieb.

Alle sechs Monate muss das Abkommen im UN-Sicherheitsrat erneuert werden, zuletzt im Januar 2023. Für Baschar al-Assad und seine Verbündeten ist das ein Hebel, um Druck auf die letzte Rebellenhochburg in Syrien auszuüben, indem sie den Nachschub an Hilfsgütern kurzfristig abdrehen können. Sollten Russland und China sich in Zukunft gegen eine Verlängerung des Mechanismus aussprechen, würde der einzige Weg, UN-Hilfsgüter nach Nordsyrien zu transportieren, über Damaskus führen. Hilfsorganisationen befürchten, dass dies von der Regierung Assad politisch instrumentalisiert werden könnte.

Dass unmittelbar nach dem Beben keine internationale Hilfe den Nordwesten Syriens erreichte, lag vor allem daran, dass die Straße zum Grenzübergang Bab al-Hawa auf der türkischen Seite stark beschädigt und für die schweren UN-Lastwagen nicht befahrbar war. 

Aber es gibt auch weitere Gründe: Wie ein UN-Sprecher am 12. Februar mitteilte, blockierte HTS die Einfuhr von Hilfsgütern aus dem von Damaskus kontrollierten Gebiet. HTS, das jede offizielle Kooperation mit Damaskus ablehnt, bestand darauf, dass Hilfe ausschließlich über die Türkei nach Idlib gelangen solle. Erst durch Vermittlung der Vereinigten Arabischen Emirate konnte HTS überzeugt werden, die Einfuhr der Hilfsgüter zu genehmigen. Inzwischen hat Damaskus der UN die Erlaubnis erteilt, Hilfslieferungen über zwei weitere Grenzübergänge von der Türkei nach Nordsyrien zu transportieren. 

Keine Lösung in Sicht

Politisch scheint der Kampf um Syrien entschieden, die Revolution gegen Assad gescheitert, dessen Absetzung kurz- und mittelfristig niemand durchsetzen wird. Auch die Golfstaaten, die ihre Beziehungen zu Damaskus abgebrochen hatten, setzen inzwischen wieder auf Annäherung

Gleichzeitig ist Damaskus militärisch zu schwach, um auch die Gebiete in Nordsyrien wieder unter seine Herrschaft zu zwingen. Wenn überhaupt, ginge das nur mit der Hilfe Russlands, und es sieht derzeit nicht so aus, als hätte es Moskau damit besonders eilig. 

Die über vier Millionen Zivilisten im Nordwesten Syriens sind gezwungen, in dieser prekären Stabilität zu verharren, die nur so lange Bestand hat, so lange Russland und die Türkei keine grundlegende Neubewertung der Lage vornehmen. Das Erdbeben hat ein weiteres Mal verdeutlicht, wie aussichtslos die Situation ist. Selbst bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes erreicht dringend benötigte Hilfe die Bevölkerung in den Rebellengebieten viel zu spät, weil die Verantwortlichen aus politischen Gründen sie blockiert oder verzögert. 

Eine langfristige Lösung für diese in größter Not lebenden Menschen wäre daher dringend angebracht. Es gilt, den Konflikt zu managen. Aber das erscheint zurzeit wenig realistisch, umso weniger, als der Blick des Westens völlig auf die Ukraine gerichtet ist.

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