Die militärischen Operationen der Libyschen Nationalarmee von Khalifa Haftar lassen Libyens Nachbarn befürchten, dass das Land in einen Krieg abgleitet, der die Stabilität der gesamten Region gefährdet.
Das Kriegsszenario begann letzten Dienstag, als der Stabschef der Bodentruppen der libyschen Nationalarmee in einer Erklärung bekannt gab, dass »militärische Einheiten auf Anweisung Haftars in verschiedene Städte und Regionen im Südwesten des Landes verlegt werden«. Der Erklärung der Militärs im Osten Libyens zufolge erfolgt dieser Schritt »im Rahmen eines umfassenden Plans zur Sicherung der südlichen Grenzen des Landes und zur Verbesserung der nationalen Sicherheit und Stabilität in diesen wichtigen Gebieten durch die Überwachung des Grenzstreifens zu den Nachbarländern«.
Diese Maßnahmen haben bei den konkurrierenden militärischen Führern im Westen des Landes Besorgnis ausgelöst.Salah al-Namroush, der stellvertretende Stabschef der libyschen Armee, die der im Westen fungierenden Regierung der Nationalen Einheit angehört, wies daher am nächsten Tag die Militäreinheiten an, »die Bereitschaft zu erhöhen, um jeden möglichen Angriff abzuwehren«.
Al-Namroush reagierte damit auf die Bewegungen von Haftars Truppen in Richtung der Stadt al-Shuwayrif etwa vierhundertfünfzig Kilometer südlich von Tripolis, wie lokale Medien unter Berufung auf Regierungsquellen berichteten. Währenddessen erklärte der Oberste Staatsrat, das Parlament der Regierung der Nationalen Einheit, letzten Donnerstag, er habe »mit großer Sorge die militärischen Bewegungen von Haftars Streitkräften in den vergangenen zwei Tagen in der südwestlichen Region verfolgt, die einen unverhohlenen und eindeutigen Versuch darstellen, den Einfluss und die Kontrolle über wichtige strategische Gebiete mit den Nachbarländern auszuweiten«.
Erinnerung an Bürgerkrieg
Der Rat betonte seine scharfe Ablehnung dieser Truppenbewegungen, die er als illegitim bezeichnete, da sie »außerhalb des offiziellen und legitimen Rahmens stattfinden, der durch den Oberbefehlshaber der libyschen Armee (den Präsidialrat) und die zuständigen Militärbehörden vertreten wird«. Das Parlament im Westen warnte, »die verdächtigen Bewegungen der von Haftar geführten östlichen Kräfte in Richtung der südwestlichen Regionen des Landes könnten zu einer Rückkehr zu bewaffneten Konflikten führen, die das Waffenstillstandsabkommen gefährden«.
Mit der in seiner Erklärung angesprochenen »Rückkehr zu bewaffneten Konflikten« verweist der Rat auf die Kämpfe, die zwischen Bataillonen, die mit der Regierung Westlibyens verbunden sind, und Haftars Kräften ausgebrochen sind, nachdem Letztere im Jahr 2019 versucht hatten, die Kontrolle über die Hauptstadt Tripolis zu übernehmen. Damals griffen internationale Mächte ein, und ihre Vermittlung führte im Oktober 2020 zu einem Waffenstillstandsabkommen.
Libyen ist in zwei Regionen aufgeteilt, von denen jede beansprucht, die Regierung zu stellen: eine im Osten und eine im Westen, die beide über ein Parlament und militärische Kräfte verfügen. Trotz aller Bemühungen sind in den vergangenen Jahren mehrere Versuche gescheitert, die politischen und militärischen Institutionen des Landes zu vereinen.
»Der Westen Libyens befindet sich jetzt in einem Zustand großer Unruhe, da Haftars Streitkräfte in die südliche Region vordringen, was von einigen als Vorspiel für einen möglichen Angriff auf Tripolis gesehen wird«, analysierte der libysche Militärexperte Imad Badi. Er schätzt, dass eine von Haftar unterstützte Übernahme von Ghadames, einem strategischen Gebiet am Schnittpunkt der libyschen Grenzen zu Algerien und Tunesien, »einen Zusammenbruch des Waffenstillstands von 2020 bedeuten würde«.
Besorgtes Algerien
Angesichts seiner kalten Beziehungen zu Mali, Niger und Russland haben die militärischen Bewegungen in Libyen die Besorgnis Algeriens über den Ausbruch eines Kriegs an seinen Grenzen verstärkt. Die angespannte Lage verstärkt Algiers Unfähigkeit, dermaßen zu intervenieren, dass eine Eskalation verhindert wird, die seine nationale Sicherheit beeinträchtigen könnte. Das algerische Außenministerium erklärte in dem Zusammenhang, das Land teile »voll und ganz die von den Vereinten Nationen geäußerte Besorgnis über die jüngste Mobilisierung und Stationierung von Streitkräften in verschiedenen Regionen Libyens, insbesondere im Süden und Westen des Landes«.
»Angesichts der Vielzahl, Vielfalt und Komplexität der Hindernisse«, die einer friedlichen Lösung der schweren Krise noch im Wege stehen, sei die in der Vergangenheit erreichte Beendigung der Konfrontationen und Zusammenstöße »ein sehr wichtiger Gewinn, der um jeden Preis bewahrt werden muss«, hieß es weiter.
Die Sorgen Algeriens könnten auch daher rühren, dass die Kontrolle der libyschen Nationalarmee über ein Gebiet nahe der Grenze mehr Einfluss für das mit General Haftar verbündete Russland in diesem Gebiet bedeutet, das auch in der Nähe von Mali und Niger liegt, wo Russland ebenfalls starken Einfluss ausübt.
Der libysche Militäranalyst Adel Abdel Kafi ging davon aus, dass Haftar durch seine Truppenbewegungen im Südwesten Libyens seine russischen Verbündeten unterstützen möchte, »indem er seinen Einflussbereich ausweitet, um die Grenzen zwischen Libyen und Niger zu sichern, angefangen vom Salvador-Korridor bis zum Atshan-Gasfeld«. Abdel Kafi glaubt, dass es in diesem abgelegenen Gebiet »etwa achtzehn Korridore gibt, die das Personal des russischen Afrikakorps [der ehemaligen Wagner-Gruppe, Anm. Mena Watch] nutzen kann, um militärische Nachschuboperationen zu sichern, was es ihnen erleichtert, Personal von libyschem Territorium nach Niger und Mali zu verlegen«.