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Israel und der eingebildete permanente „Rechtsruck“

Israelisches Parlament (Dr. Avishai Teicher, CC BY 2.5)

Da am 17. September in Israel wiedergewählt wird, kann man sich auf einen „Rechtsruck“ gefasst machen. Nein, einen wirklichen Rechtsruck wird es höchstwahrscheinlich nicht geben. Aber es ist einfach Tradition oder für manche eine Art Zwang, im Zusammenhang mit israelischen Wahlen einen „Rechtsruck“ zu prognostizieren oder zu konstatieren.

Abgesehen von Wahlen finden sich auch regelmäßig andere Anlässe, vor einem „Rechtsruck“ in Israel zu warnen oder einen solchen zu beklagen. Doch wenn jeder der „Rechtsrucke“, von denen in den letzten 20 oder 30 Jahren die Rede gewesen ist, auch tatsächlich stattgefunden hätte, dann hätte Israel schon längst über den rechten Rand in den Abgrund gekippt sein müssen. Ist es aber offensichtlich nicht.

Die Medien, die Wahlwerbung, die Gerichte und alle sonstigen Einrichtungen, die frei zu sein haben, sind frei. Die Gesellschaft ist mindestens so pluralistisch wie in sonst einem Land. Gegen einen rechten Premierminister wird beharrlich wegen Korruptionsverdachts ermittelt, und er muss wahrscheinlich auf die Anklagebank. Der Oberste Gerichtshof hat soeben zwei rechtsextreme Kandidaten von der Teilnahme an den Wahlen ausgeschlossen. Ihre Kandidatur angemeldet haben nicht weniger als 32 Parteien, die ein breites Spektrum abdecken, Kommunismus und Islamismus miteingeschlossen.

Rechts und Links in Israel

Vor jeder weiteren „Rechtsruck“-Analyse sollte man der Ordnung halber klarstellen, was überhaupt gemeint ist, wenn man von „rechts“ und „links“ spricht. In Israel haben die Begriffe nämlich eine andere Bedeutung als in anderen Demokratien. Seit der Französischen Revolution werden, vereinfacht gesagt, die „unteren Schichten“, die Arbeitnehmer, die Einkommensschwächeren, die weniger Gebildeten als „links“ eingestuft. In Israel hingegen bilden die sozial Benachteiligten – die orientalischen Juden, die kinderreichen Familien in den ärmlichen Vierteln – die Stammwählerschaft der „rechten“ Parteien, während die „Elite“, von den Studenten und den auf hohem Niveau abgesicherten Beamten bis zu den Managern und Unternehmern, von je her eher die Arbeiterpartei oder andere „linke“ Gruppierungen gewählt hat.

„Links“ und „rechts“ bezeichnet in Israel also nicht gesellschaftspolitische, sondern nahost- und sicherheitspolitische Positionen. Wer „links“ steht, ist eher zu territorialen und sonstigen Kompromissen mit den Palästinensern und der arabischen Welt bereit; wer „rechts“ steht, ist da eher misstrauisch bis ablehnend.

Optische Täuschung

Israel und der eingebildete permanente „Rechtsruck“
Sitzverteilung nach den Wahlen im April 2019 (Quelle: Parliament diagram tool, Public Domain)

Ob man sich nun über die Definitionen ganz klar ist oder nicht – die verbreitete Überzeugung, dass „die Rechte in Israel immer stärker wird“, beruht auf einer optischen Täuschung. Man könnte sagen, dass da die Länge mit der Tiefe verwechselt wird. Richtig ist natürlich, dass die Rechte schon lange an der Macht ist. Seit 2009 ist durchgehend der rechtskonservative Likud von Premier Benjamin Netanjahu die dominante Regierungspartei, in wechselnden Koalitionen meist mit rechten und religiösen, aber auch mit linken und zentristischen Partnern wie der Arbeiterpartei, der von Schaul Mofas geführten „Kadima“, Yair Lapids „Yesch Atid“ oder Mosche Kachlons „Kulanu“.

Es liegt in der Natur der Sache, dass in dieser langen Zeit auch Gesetze beschlossen und Maßnahmen getroffen wurden, welche die rechte Weltanschauung der Regierenden widerspiegeln. Aber das geschah immer nur unter heftigen Debatten, bei starkem Gegendruck der Öffentlichkeit oder von Koalitionspartnern und mit knappen Mehrheiten. Grundlegende oder gar demokratiegefährdende Veränderungen haben nicht stattgefunden. In Wahrheit ist nämlich die Rechte in Israel, auch wenn sie schon lange regiert, gar nicht besonders stark, und sie wird auch nicht stärker, sondern immer schwächer!

Das mag manche überraschen, aber es ist zunächst einmal ein schlichtes mathematisches Faktum. Über die drei Wahlgänge 2009, 2013 und 2015 ist der Block der Rechten und Religiösen von 65 auf 61 und dann auf nur 57 Mandate (im 120-köpfigen Parlament) geschrumpft. Die Regierung, die Netanjahu im Mai 2015 gebildet hat, stützte sich (unter Beteiligung von „Kulanu“) auf eine Koalition mit nur noch 61 Mandaten, also auf die geringste aller Mehrheiten. Von wegen Rechtsruck!

Bei den jüngsten Wahlen im April 2019 haben die rechten und religiösen Parteien zwar doch wieder etwas zugelegt, aber ihre zusammengerechnet 61 Mandate bestätigen bloß den chronischen Schwächezustand. Und dann hat Avigdor Lieberman noch alles über den Haufen geworfen. Der Ex-Außen- und Verteidigungsminister, der Netanjahu früher immer von rechts angegriffen hatte und ein Stützpfeiler des nationalen Lagers war, lässt plötzlich keine schmale rechts-religiöse Koalition mehr zu, sondern will eine große Koalition mit Teilen der Linken erzwingen. Wie das ausgehen wird, wissen wir nicht, aber nach jetzigem Stand kann man das nur als Linksruck (!) beschreiben, der durch Liebermans Person gegangen ist und die gesamte politische Landschaft verschiebt.

Rechtsruck oder Linksdrall?

Im mikroskopischen, parteipolitischen Maßstab ergibt also ein nüchternes Durchzählen der Parlamentsmandate: die Rechte in Israel wird schwächer. Aber auch im makroskopischen, historischen Maßstab haben sich „die Israelis“ über das letzte Vierteljahrhundert keineswegs nach rechts, sondern deutlich nach links bewegt.

Israel und der eingebildete permanente „Rechtsruck“
(Quelle: Vince Musi/The White House, Public Domain)

Bis zum Beginn der 1990er Jahre waren Kontakte mit der PLO gesetzlich verboten gewesen. Wer den Palästinensern Territorium abtreten wollte, galt in der kollektiven Wahrnehmung als Verräter. Der bloße Gedanke an einen „palästinensischen Staat“ kam einer Gotteslästerung gleich. Doch seither hat es nicht nur Verhandlungen, sondern sogar fertige Abkommen mit der PLO gegeben, und die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit hat das längst geschluckt. Allerdings: in den Oslo-Abkommen mit der PLO kommt der Begriff „palästinensischer Staat“ nicht vor. Jizchak Rabin, Premierminister und Chef der Arbeiterpartei, hat noch in seiner letzten Parlamentsrede am 5. Oktober 1995, fast genau einen Monat vor seiner Ermordung, daran festgehalten, dass bloß eine „palästinensische Entität“ (hebräisch: „Yeschut“) geschaffen werden sollte, „die weniger ist als ein Staat“. Aus Rabins Ausführungen über geplante Grenzen und Siedlungszonen war zu schließen, dass er den Palästinensern kaum mehr als 60 Prozent des Westjordanlands überlassen wollte.

Inzwischen wurden den Palästinensern bei den verschiedenen Verhandlungsanläufen längst weit mehr als 90 Prozent, ja sogar (in Verbindung mit einem Landtausch) rund 100 Prozent angeboten. Die Auflösung von jüdischen Siedlungen war früher für israelische Politiker, ob linke oder rechte, undenkbar, doch 2005 wurden alle Siedlungen im Gazastreifen (und einige im Westjordanland) geschleift. Umfragen unter Israelis ergeben regelmäßig relative oder absolute Mehrheiten für eine Zwei-Staaten-Lösung. Und 2009 hat Netanjahu in einer Rede kurz nach seiner Rückkehr ins Premieramt ausdrücklich einen „palästinensischen Staat“ akzeptiert. Das war natürlich mit vielen Einschränkungen verbunden, seither hat sich auch viel verändert, und wir können nicht wissen, was Netanjahus wirkliche Absichten waren und sind. Faktum aber ist: der Anführer der israelischen Rechten steht heute offiziell weiter links als früher der Anführer der israelischen Linken.

Freiheit der Kunst, …

Doch nicht nur bei den großen nahostpolitischen Entwicklungen, auch im Kontext kleiner tagespolitischer Scharmützel wird Israel regelmäßig so dargestellt, als würde es rettungslos in Richtung Faschismus driften. Voriges Jahr etwa vermittelten manche Berichte über das „Nationalstaats-Gesetz“ das Gefühl, in Israel tobe eine Art nationalistischer Exzess. Dass dieses Gesetz einen trivialen, harmlosen Inhalt und keinerlei praktische Auswirkung hat, wurde hier dargelegt.

Eine Gefahr für die „Freiheit der Kunst“ wittern viele, seit die Likud-Politikerin Miri Regev 2015 Kulturministerin geworden ist. Mit ihrem schrillen Ton und brüsken Stil scheint Regev für dieses Amt wirklich nicht kultiviert genug zu sein. In der Substanz geht es aber darum, dass Regev keine Einrichtungen oder Veranstaltungen subventionieren will, die etwa Israel das Existenzrecht als jüdischer Staat absprechen, Terror und Gewalt gegen Israel billigen oder Israels Nationalfeiertag zum Trauertag erklären. Ganz falsch ist es, wenn das als „Zensur“ beschrieben wird. Für jedwede Art von Zensur gibt es in Israel keine gesetzliche Grundlage, und die Kulturministerin kann, so zornig sie auch darüber sein mag, kein Buch, keine Theateraufführung und keinen Film verbieten. Es geht lediglich um die Frage, ob Werke, die sich gegen den Staat richten, aus staatlichen Mitteln gefördert werden sollen.

Ist es „staatliche Kontrolle“ und wird Kritik von links mundtot gemacht, wenn solche Förderungen gestrichen werden? Vielleicht, aber klar und einfach ist die Antwort sicher nicht, und wenn ein Staat sich dafür entscheidet, keine kulturellen Aktivitäten zu finanzieren, die diesen Staat schlechtmachen, ist das sicher nicht das Ende des Kulturlebens und der Demokratie.

… der Meinung, …

Auch wegen seiner Auseinandersetzung mit Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) kommt Israel immer wieder ins „Rechtsruck“-Gerede. Ein 2016 beschlossenes NGO-Gesetz veranlasste die EU gar zu einem Vergleich mit „autoritären Regimes“! Das Gesetz verpflichtet NGOs, die Spender offenzulegen, wenn mehr als 50 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland kommen. Befürworter wollen damit die „Durchsichtigkeit“ der Finanzierung von NGOs gewährleisten, Gegner sehen darin hingegen ein Instrument zur Schwächung regierungskritischer Linksgruppen.

Ganz offensichtlich war das Gesetz auf die teilweise von fremden Staaten gesponserte Organisation „Breaking the Silence“ gemünzt, die anonyme Aussagen von Ex-Soldaten über angebliche Vergehen der Armee sammelt. Man könne es nicht zulassen, dass NGOs benutzt würden, um Israel aus dem Ausland unter Druck zu setzen, argumentierte die damalige Justizministerin Ayelet Shaked, „die Einmischung fremder Staaten in die … Politik eines anderen Staates ist die wahre Gefahr für die Demokratie“. Wie weit man bei der Kontrolle von NGOs gehen darf, ist eine heikle Frage. Aber Österreich hat politisch motivierte Auslandsfinanzierungen abgestellt, ohne dass ihm eine Beschränkung der Meinungsfreiheit vorgeworfen würde.

… der Gerichte

Israel und der eingebildete permanente „Rechtsruck“
Israels Oberster Gerichtshof (Quelle: israeltourism, CC BY 2.0)

Der Eindruck eines „Rechtsrucks“ wird aber am häufigsten und nachhaltigsten durch jene Alarmrufe erweckt, die mit dem Obersten Gerichtshof (OGH) zu tun haben. Der OGH gilt in Israel als Fundament und Leuchtturm der Demokratie und der Grundrechte – und das ist er auch. Er kann die Regierung und die Armee zurückpfeifen und der kleinen Bürgerin durch eine einstweilige Verfügung rasch zur Hilfe kommen.

Besonders im linken Lager ist man entsprechend misstrauisch gegen jedes Manöver, das die Unabhängigkeit oder die Zusammensetzung des OGH berühren könnte. Doch von rechts wird den Höchstrichtern seit vielen Jahren vorgeworfen, sie seien zu „aktivistisch“ und würden durch linksliberale Entscheidungen über die Köpfe der gewählten Mandatare hinweg Politik machen – und gerade das sei undemokratisch, weil die Gewaltentrennung aufgeweicht werde. Tatsächlich hat der OGH oft das letzte Wort bei politischen Entscheidungen gehabt, ob es nun den Armeedienst der Strengreligiösen, den Verlauf eines Grenzzauns oder den Fleischimport betroffen hat. Die Wahrung der Balance im Gerichts-Aktivismus ist ein kniffliges Thema für Rechtsphilosophen, die Debatte darüber scheint legitim.

Doch über den OGH kann man anscheinend nicht ruhig reden. Ein geradezu groteskes Beispiel war 2011 der Streit um die „Lex Grunis“. Asher Grunis hätte damals als längst dienender Höchstrichter routinemäßig zum nächsten OGH-Präsidenten designiert werden müssen. Laut zu der Zeit geltendem Gesetz musste aber ein Gerichtspräsident mindestens drei Jahre im Amt bleiben und spätestens mit 70 in Pension gehen.

Demnach hätte Grunis das Pech gehabt, eine Spur zu alt zu sein – er hätte einen Monat (!) vor Ablauf der drei Jahre das Alter von 70 erreicht. Per Gesetzesänderung sollte daher die Mindestdienstzeit des OGH-Präsidenten von drei auf zwei Jahre reduziert werden. Doch die Opposition sah darin einen verfassungsrechtlich bedenklichen Versuch, durch ein maßgeschneidertes Gesetz einen OGH-Präsidenten ins Amt zu hieven, der wegen seiner konservativen Ansichten der Rechten bequem wäre. Die Regierung wolle das Land „in eine finstere Diktatur verwandeln, die ihre Bürger mundtot macht“, wetterte die damalige Oppositionschefin Zipi Livni. De facto war es nur um eine bedeutungslose technische Gesetzeskorrektur gegangen. Aber derartig unangemessene Formulierungen lassen die Welt immer wieder glauben, in Israel finde gerade ein Rechtsputsch statt.

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