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Warum Jüdischsein in Irland gefährlich geworden ist

Lior Tevet (2. v. re.) und Freunde protestieren gegen eine antiisraelische Demonstration in Irland
Lior Tevet (2. v. re.) und Freunde protestieren gegen eine antiisraelische Demonstration in Irland (Quelle: JNS)

Wie der Tausende von Kilometern von Israel entfernte Nordirland-Konflikt zu dem sich verschärfenden antisemitischen Ressentiment auf der »grünen Insel« führte.

Nissan Shtrauchler

Der fünfzehnjährige John ist der einzige jüdische Schüler an seiner Schule in der irischen Hauptstadt Dublin. Seit dem 7. Oktober 2023 kann er diese Tatsache nicht einen Augenblick lang vergessen. Wie viele andere Juden in diesem Land versucht er, unter dem ständigen antisemitischen Beschuss zu überleben.

»Vor einem Monat haben einige Kinder in der Schule darüber gelacht, dass Juden vergast wurden, und sie wissen, dass er Jude ist«, erzählt seine Mutter Masha. »Ich sagte ihm, er solle es ignorieren, aber am nächsten Tag sprach ihn ein anderes Kind, mit dem er noch nie gesprochen hatte, in der Pause an und gab ihm eine CD mit Aufnahmen von Hitler. Ich ging zur Schulleiterin, um das zu klären und sie sagte, mein Sohn hätte sich auch nicht anständig benommen.«

Masha und ihr Sohn sind mit Vorkommnissen dieser Art nicht allein. Berichte über verbale Angriffe gegen jüdische und israelische Kinder in Bildungseinrichtungen häufen sich, sodass einige Jugendliche auf andere Schulen wechseln müssen.

Ähnlich ist die Situation für jüdische Studenten an akademischen Einrichtungen. »Bereits am 9. Oktober 2023 organisierte die nationale Studentenvereinigung hier eine pro-palästinensische Demonstration und viele Studentenvereinigungen, darunter auch die Universität, an der ich arbeite, gaben Erklärungen zur Unterstützung der Palästinenser ab, nur zwei Tage nach dem Hamas-Massaker«, erinnert sich Lior Tevet, eine Mutter von zwei Kindern. Ursprünglich aus Ramat Gan stammend, zog sie mit ihrem Mann nach Irland und arbeitet seit sechs Jahren als Kursleiterin an einer Universität.

Nur ein Teil des Bildes

Am 22. Mai kündigte der irische Premierminister Simon Harris die Anerkennung eines palästinensischen Staates an. Norwegen schloss sich dem bei diesem Schritt in Europa führenden Irland an, eine Woche später folgte Spanien. Irlands dramatischer Schritt reiht sich ein in eine Reihe von Maßnahmen gegen Israel in den vergangenen Monaten. Unter anderem unterstützt es eine Untersuchung der Europäischen Union über »Menschenrechtsverletzungen« durch Israel während des Gazakriegs, schloss sich der EU-Forderung an, Handelsabkommen mit Israel zu überprüfen und verurteilt Israel regelmäßig.

Die besorgniserregende Situation in irischen Bildungseinrichtungen ist nur ein kleiner Teil des düsteren Bildes. Die Vorstellungen von Whiskey, Bier, Musik und Lebensfreude, die Irland heraufbeschwört, verbergen eine nicht ganz so einfache Realität für Israelis und Juden, die heute dort leben.

»Die Pro-Palästinenser haben den öffentlichen Diskurs völlig übernommen, niemand wusste rechtzeitig zu reagieren, und jetzt wird die Pro-Israel-Stimme überhaupt nicht mehr gehört«, sagt der in Dublin geborene Vorsitzende des Jewish Representative Council of Ireland und zionistische Jude Maurice Cohen: »Sie wird weder in den Medien noch in der Politik oder der Gesellschaft gehört. Die einzige Stimme, die in allen Schichten der irischen Gesellschaft zu hören ist, ist die pro-palästinensische. Israel wird hier als das absolut Böse im israelisch-palästinensischen Konflikt dargestellt.«

Cohen zufolge handelt es sich dabei nicht um ein völlig neues Phänomen, sondern vielmehr um die Eskalation einer bereits länger bestehenden Realität. »Neben der zunehmenden Unterstützung für die Palästinenser hat sich in Irland seit Jahren ein Antisemitismus zusammengebraut. Der 7. Oktober hat den Antisemitismus einfach von unter dem Teppich auf den Tisch gebracht.«

Die irische Feindseligkeit spiegelt sich unter anderem in der wachsenden Forderung politischer und akademischer Gremien wider, den Staat Israel ebenso wie lokale Unternehmen, die Israelis gehören, und Produkte aus Israel zu boykottieren. Hinzu kommen Lehrpläne, die eine ganze Generation dazu erziehen, die Palästinenser zu lieben und Israel zu hassen, indem sie die Geschichte verdrehen, und Angriffe in den sozialen Medien gegen jeden, der sich für Israel ausspricht. All dies wird durch die starke Präsenz einer feindseligen muslimischen bzw. arabischen Gemeinschaft noch verstärkt.

Winzige Gemeinde

Insgesamt leben nur etwa eintausendzweihundert Juden in Irland. Hinzu kommen etwa zweitausend Israelis, die hier arbeiten – Irland ist ein Steuerparadies für Technologieunternehmen. »Systematisch hat sich die Stimmung gegen Israel verschlechtert und der Hass auf Israel ist jetzt gesellschaftlicher Konsens«, erklärt Alan Shatter, der von 2011 bis 2014 irischer Minister für Justiz, Gleichstellung und Verteidigung war, ein zionistischer Jude, der in internationalen parlamentarischen Gremien aktiv war.

Ihm zufolge gibt es derzeit keine einzige parlamentarische Stimme, die den jüdischen Staat unterstützt. Israel anzugreifen ist zu einem Mittel geworden, um Wahlkampfkapital zu lukrieren, und da in Irland in den nächsten neun Monaten Parlamentswahlen stattfinden werden, sieht es nicht gut aus für die Zukunft.

»Auch in den Medien hat sich der Ton gegenüber Israel rapide verschlechtert, die israelische Seite wird nicht mehr dargestellt«, sagt Shatter. »Wer fernsieht oder Zeitung liest, könnte denken, dass Israel den Gazastreifen aggressiv zerstört und so viele Zivilisten wie nur möglich tötet. Sie werden nichts über die Raketen hören, die von der Hisbollah oder der Hamas auf Israel abgefeuert werden, es wird nichts über die Tunnel gesagt und es wird nicht erwähnt, dass Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt werden.«

Einige Iren wüssten zwar, »dass es Geiseln gibt, aber es wird nicht über sie und ihr Schicksal berichtet. Die irischen Medien berichten nicht darüber, dass die Hamas angekündigt hat, die Gräueltaten vom 7. Oktober zu wiederholen. Im Aufruf der irischen Regierung zu einem Waffenstillstand wird die Hamas nicht dafür verurteilt, dass sie die Geiseln nicht freilässt, und die Agenda der Hamas, welche die Zerstörung Israels fordert, bleibt unerwähnt.«

Shatter berichtet, dass »fast jedes Wochenende Tausende von Menschen auf Demonstrationen ›Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein‹ rufen. Der einzige Grund, warum der israelische Handel nicht boykottiert wird, ist, dass Irland an die Abkommen der Europäischen Union gebunden ist, deren Mitglied es ist.«

Historische Feindschaft

Der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland war für viele Katholiken ein Krieg zwischen Siedlern und Einheimischen. »In den 1970er Jahren schlossen sich IRA-Terroristen mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas [PFLP] zusammen; ihre Kämpfer wurden in Tunesien von Palästinensern ausgebildet.

Die IRA glaubte, dass die katholischen Republikaner gegen die Briten und die protestantische Herrschaft kämpften, so wie die Palästinenser gegen Israel kämpften. Ebenso wurden Palästinenser als einheimische Kämpfer gegen israelische Siedler gesehen«, erläutert Shatter. »Hätten Sie in den 1970er bis 1990er Jahren Belfast, die Hauptstadt Nordirlands, besucht, hätten Sie in den katholischen Vierteln Bilder und Wandmalereien gesehen, auf denen palästinensische Terroristen als Helden dargestellt waren. Wenn Sie dagegen die protestantischen Viertel besucht hätten, hätten Sie Bilder und Wandmalereien gesehen, die IDF-Soldaten verherrlichten«, beschreibt er einen Zustand, der teilweise bis heute so anhält.

Und so wurde ein Konflikt, der Tausende von Kilometern von Israel entfernt ist, mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt verflochten, als das katholisch-republikanische Narrativ aus dem Norden allmählich auch in die benachbarte Republik Irland einsickerte.

Sinn Féin ist derzeit die größte Oppositionspartei in Irland. Sie gehört der nationalen Rechten, aber auch der wirtschaftlichen Linken an, unterstützt BDS und ist ein vehementer Kritiker Israels. »Sinn Féin fordert die Ausweisung des israelischen Botschafters aus Dublin«, sagt Shatter. »Sie wollen keine zwei Staaten für zwei Völker. Sie hören Aufrufe zur Zerstörung Israels und protestieren nicht dagegen. Es besteht die Möglichkeit, dass sie Partner bei der Bildung der nächsten Regierung sind und diese vielleicht sogar anführen.«

Das jüdische Leben in Irland entwickelte sich im 19. Jahrhundert, als Juden aus Osteuropa in das Land kamen, das damals noch unter britischer Herrschaft stand. Weitere Einwanderungswellen kamen in den folgenden Jahrzehnten und um den Ersten Weltkrieg herum. Auf ihrem Höhepunkt zählte die jüdische Gemeinde in Irland etwa fünftausend Mitglieder.

Nach Aussagen älterer Gemeindemitglieder litten die Juden in den 1920er und 1930er Jahren nicht unter offenem Antisemitismus, obwohl es klassischen Antisemitismus im Zusammenhang mit der katholischen Kirche gab, welche die Juden des Todes von Jesus beschuldigte. Während des Zweiten Weltkriegs weigerte sich das Land, Juden aufzunehmen, die vor den Nationalsozialisten zu fliehen versuchten, aber in den Anfängen des Staates Israel und bis zum Sechstagekrieg 1967 unterstützte Irland Israel.

Beispiel Barcelona

Ist es überhaupt möglich, das Phänomen der Israelfeindschaft von innen heraus zu bekämpfen? Der Leiter der Abteilung Gemeindeentwicklung bei der Israelischen Gemeinschaft Europa (ICE), Shai Doitsch, glaubt, dass es kaum eine andere Möglichkeit gibt: »Die jüdische Gemeinde in Dublin ist eine kleine Gemeinschaft, aber eine mit Geschichte. Die Familie des ehemaligen israelischen Staatspräsidenten Chaim Herzog und der jetzige Präsident Isaac Herzog gehörten zu den führenden Persönlichkeiten der Dubliner Gemeinde.«

»Nehmen wir zum Beispiel eine antisemitische und antiisraelische Stadt wie Barcelona«, erläutert er die Probleme, vor denen die Dubliner Juden stehen, »in der es eine etablierte israelische Gemeinde gibt, die mit der jüdischen Gemeinde verbunden ist und mit ihr zusammenarbeitet, um die Realität zu verändern – und dabei erfolgreich ist. Der dortigen Gemeinde gelang es, eine Initiative für Solidaritätsstreiks mit den Palästinensern im Bildungssystem zu vereiteln, die Übernahme von Unternehmen zu verhindern und vieles mehr.«

Im Gegensatz dazu kämpfe die kleine Gemeinde in Dublin mit den begrenzten Mitteln, »die ihr zur Verfügung stehen, gegen die Welle des Antisemitismus, ohne ein Gemeindezentrum, ohne eine treibende Kraft und ohne eine einheitliche Stimme. Deshalb begleiten wir von ICE in diesen Tagen die Gemeinde und arbeiten daran, Partner für die Einrichtung eines Zentrums zu gewinnen, das als Ort dienen soll, an dem man ein stolzer Israeli und Jude sein kann, während es gleichzeitig die Möglichkeit bietet, in Echtzeit zu reagieren und die öffentliche Meinung vor Ort zu beeinflussen«, fährt er fort.

»Als jemand, der Gemeinden auf dem Kontinent erforscht und begleitet, bin ich davon überzeugt, dass ein Teil der Antwort darin besteht, dass die israelische Gemeinschaft als lebendige, stolze, starke und aktive Gemeinschaft präsent ist. Gerade jetzt. Gerade in Dublin.«

Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)

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