Jemen: Der vergessene Krieg

Jemenitische Binnenflüchtlinge im Lager Dharawan im Norden der Hauptstadt Sanaa
Jemenitische Binnenflüchtlinge im Lager Dharawan im Norden der Hauptstadt Sanaa (© Imago Images / Xinhua)

Der Krieg im Jemen dauert bereits acht Jahre und kostete 380.000 Menschenleben. 2023 ist mit weiterer Gewalt und einer anhaltenden humanitären Katastrophe zu rechnen.

Im April 2022 gelang es den Vereinten Nationen, einen Waffenstillstand zwischen den Huthi-Rebellen und der von der UN anerkannten Regierung zu verhandeln. Die Waffenruhe brachte der Zivilbevölkerung eine dringend benötigte Atempause: Die Zahl der zivilen Opfer ging erheblich zurück, der Zugang zu humanitärer Hilfe verbesserte sich. Nachdem einer zweimaligen Verlängerung lief er im Oktober aus, und kurze Zeit später wurden die Kämpfe der Huthi-Milizen und Regierungstruppen fortgesetzt.

Wurzeln des Kriegs

Die Wurzeln des heutigen Konflikts reichen weit zurück. Bis vor dreißig Jahren gab es zwei jemenitische Länder. Die Zaiditen, ein Zweig des schiitischen Islams, regierten den Nordjemen über Jahrhunderte als Monarchie, bevor 1962 die Arabische Republik Jemen ausgerufen wurde. Der Süden des Landes wird von Sunniten dominiert und war seit dem 19. Jahrhundert ein Protektorat Großbritanniens. Über die südjemenitischen Hafenstädte kontrollierte die Kolonialmacht die Meerenge Bab al-Mandeb, die bis heute einer der meistfrequentierten Schifffahrtskorridore der Welt ist. 1967 entließ Großbritannien den Süden in die Unabhängigkeit, der sich in den folgenden Jahren der Sowjetunion zuwandte. 

Der moderne jemenitische Staat wurde 1990 durch die Vereinigung der von den USA und Saudi-Arabien unterstützten Arabischen Republik Jemen im Norden und der Demokratischen Volksrepublik Jemen im Süden gegründet. Ali Abdullah Saleh, ein Militäroffizier, der den Nordjemen seit 1978 regiert hatte, übernahm die Führung des neuen Landes.

Die Politik wurde fortan von Salehs Regierungspartei und dem Norden in der Hauptstadt Sanaa bestimmt. Viele Südjemeniten hatten den Eindruck, die Regierung bediene sich der Ressourcen des Südens, ohne sich um dessen Bevölkerung zu kümmern. Eine Sezessionsbewegung entstand, die 1994 blutig niedergeschlagen wurde. Das Land blieb vereint, doch die Bruchlinien konnten nicht gekittet werden.

Der Streit um die Verteilung von Ressourcen ist nur ein Aspekt der Krise. Ein weiterer ist die in den frühen 1980er Jahren begonnene Ausbreitung der Salafisten im Nordjemen, die Hand in Hand ging mit einem wachsenden Einfluss Saudi-Arabiens. Diese Entwicklung wurde von den schiitisch geprägten Zaiditen immer wieder kritisiert und führte bereits in den Jahren 2004 und 2010 zu Kriegen zwischen den zaiditischen Huthi-Milizen und dem Regime von Saleh. 

Im Januar 2011 erreichte der Arabische Frühling den Jemen. Tausende Menschen gingen auf die Straße und demonstrierten gegen Korruption und die grassierende Armut. Monate später kündigte der seit drei Jahrzehnten regierende Präsident Saleh das Ende seiner Amtszeit an. Doch die Verhandlungen zwischen Opposition und Regierung scheiterten. Im Februar 2015 lösten nordjemenitische Zaiditen mithilfe der Huthi-Miliz das Parlament auf und jagten den Nachfolger Salehs, Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi, aus dem Amt.

Der mächtige Nachbar Saudi-Arabien gewährte dem gestürzten Präsidenten Exil in seiner Hauptstadt Riad. Im März 2015 startete die Golfmonarchie in einer Allianz mit afrikanischen und nahöstlichen Staaten – und mit Unterstützung der USA, Frankreichs und Großbritanniens – ihre Offensive im Jemen. Und auch die Huthi sahen sich nach internationalen Verbündeten um – und fanden sie im Iran.

Die Eskalation

Mit dem Vormarsch der Huthis auf die Hauptstadt Sanaa 2015 vermischte sich der jemenitische Bürgerkrieg mit dem geopolitischen Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran. Dass der Iran die Huthis mit Militärberatung und Waffen unterstützte, alarmierte Riad, das darin einen weiteren Schritt des Irans sah, seinen Einfluss in der Region auszubauen – eine Entwicklung, die das saudische Königshaus mit Argwohn verfolgte: Seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003 konnte der Iran seine Präsenz im Nachbarland Irak deutlich ausbauen, mit dem Krieg in Syrien seit 2011 gelang es Teheran, seine Einflusssphäre bis zum Mittelmeer auszudehnen. Die Vorstellung einer Art jemenitischer Hisbollah im Nachbarland ist für Riad ein Albtraum.

Diese Wahrnehmung Saudi-Arabiens, die Huthis seien mehr ein iranischer Stellvertreter als eine einheimische Bewegung, hat Riad zur Militärintervention im Jemen veranlasst. Viele Experten sind jedoch der Meinung, der Einfluss Teherans ist eher begrenzt, zumal Iraner und Huthis unterschiedlichen Schulen des schiitischen Islams angehören. Dennoch haben sie gemeinsame geopolitische Interessen: Teheran versucht, die Vorherrschaft der Saudis und der USA in der Region anzufechten, und die Huthis lehnen die von den USA und den Saudis unterstützte jemenitische Regierung ab.

Wie weiter?

Die Gründe für den Bruch der sechsmonatigen Waffenruhe werden unterschiedlich bewertet. Der US-Sondergesandte für den Jemen, Tim Lenderking, sagte bei einer Pressekonferenz im Oktober, die Huthis hätten »maximalistische und unmögliche« Bedingungen für eine Fortsetzung gestellt und forderte die Rebellen zu mehr Flexibilität auf.

Wie Al-Jazeera berichtete, weisen sich beide Seiten gegenseitig die Schuld für das Ende des Waffenstillstands zu. Die international anerkannte Regierung wirft den Huthis vor, die Blockade der von den Regierungstruppen gehaltenen Stadt Taiz nicht wie vereinbart beendet zu haben. Die Huthis wiederum fordern, die Regierung solle die Gehaltszahlungen an Beamte in den von den Huthis kontrollierten Gebieten fortsetzen und bestehen auf die vollständige Öffnung des Hafens Hodeidah am Roten Meer. 

Militärisch scheint der Konflikt zurzeit eingefroren: Den Huthis fehlt die Schlagkraft, um ihre Gegner aus dem Jemen zu vertreiben, umgekehrt können auch die Regierungstruppen und ihre Verbündeten die Huthi-Milizen nicht besiegen. Dass neben Regierungsarmee und Huthis noch weitere Parteien am Konflikt beteiligt sind, darunter jihadistische Gruppen wie Al-Qaida, Muslimbrüder, sunnitische Stämme und Separatisten, macht die Sache nicht einfacher.

Hinzu kommen die geopolitischen Interessen der internationalen Akteure, die auch auf Seite der Verbündeten nicht immer deckungsgleich sind. So setzt Riad auf eine Kooperation mit den Muslimbrüdern, die aber von den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) bekämpft werden. Nicht zuletzt geht es auch um die Frage, wer das Bab al-Mandeb kontrolliert. Hier taten sich besonders die VAE hervor, die Küstengebiete und Häfen besetzten und die jemenitischen Separatisten unterstützten, entgegen dem saudischen Plan, eine starke Zentralregierung einzusetzen (die VAE zogen sich zwar 2019 zurück, unterhalten aber nach wie vor Milizen im Jemen, über die sie auf den Kriegsverlauf einwirken können).

Humanitäre Krise

Nach acht Jahren Krieg im Jemen leben drei Viertel der dreißig Millionen Bewohner in Armut und benötigen humanitäre Hilfe, vier Millionen Jemeniten sind nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks Binnenvertriebene. Rund 2,2 Millionen jemenitische Kinder sind akut unterernährt, viele sind von Cholera, Masern und anderen durch eine Impfung vermeidbaren Krankheiten bedroht. Mehr als 11.000 Kinder wurden getötet, verstümmelt oder verletzt. Seit Beginn des Konflikts wurden rund 380.000 Menschen getötet, die meisten von ihnen starben an den indirekten Folgen der Kämpfe. 

Wie die UN berichtet, haben sowohl Huthi-Milizen als auch Koalitionstruppen wissentlich zivile Ziele angegriffen und damit gegen das Völkerrecht verstoßen. Dazu gehört auch die Zerstörung eines von der Organisation Ärzte ohne Grenzen betriebenen Krankenhauses im Jahr 2015. Folter und willkürliche Festnahmen gehören zu den weiteren mutmaßlichen Kriegsverbrechen beider Seiten. Ein Ende der jemenitischen Katastrophe ist vorerst nicht absehbar.

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