IStGH-Chefankläger Karim Khan soll sexuell missbrauchter Mitarbeiterin geraten haben, an »die Opfer im Gazastreifen« zu denken und ihre Vorwürfe gegen ihn fallenzulassen.
Canaan Lidor
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Khan hat einem Bericht des Wall Street Journal (WSJ) zufolge eine Mitarbeiterin, die ihn der sexuellen Nötigung beschuldigt, gebeten, ihre Anzeige zurückzuziehen, damit er einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu erlassen kann.
Einige Details zu den Vorwürfen waren bereits im November vergangenen Jahres bekannt geworden, kurz bevor der IStGH auf Antrag von Khan die Haftbefehle gegen Netanjahu und den damaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant erließ. Die WSJ-Enthüllungen liefern nun neue Einzelheiten und erklären, wie Khan die Anschuldigungen angeblich mit den beiden Haftbefehlen in Verbindung gebracht hat.
Die Klägerin, eine malaysische Anwältin, mit der Khan jahrelang beruflich auf Reisen war und eng zusammengearbeitet hatte, behauptete, mehrfach von diesem sexuell missbraucht worden zu sein. Eine Anzeige gegen ihn würde »der Gerechtigkeit für die Opfer« schaden, also »denken Sie an die palästinensischen Haftbefehle«, übte Khan Druck auf sie aus, wie aus einer vom WSJ geprüften Zeugenaussage hervorgeht.
Fragwürdiger Zeitpunkt
Der Zeitpunkt der wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen gegen Netanjahu und Gallant erlassenen Haftbefehle weckte den Verdacht, die Entscheidung des Chefanklägers könnte darauf abzielen, die Aufmerksamkeit von seinem eigenen Sexskandal abzulenken, der wenige Wochen zuvor intern bekannt geworden war. Khan hat mittlerweile über seinen Rechtsbeistand jegliches sexuelle Fehlverhalten bestritten und eventuelle Verbindungen zwischen den Vorwürfen und seinem Vorantreiben der Haftbefehle zurückgewiesen.
Mit seinen Anträgen unterstützte Khan die antiisraelische Linie mehrerer IStGH-Mitgliedstaaten. Der Gerichtshof ist kein Teil der Vereinten Nationen und leitet sein Mandat aus dem Römischen Statut über den Internationalen Strafgerichtshof ab – einem Vertrag, den Israel, die USA und mehrere andere Länder nie unterzeichnet haben.
Die Haftbefehle waren von Anfang an und unabhängig von den Ermittlungen gegen Kahn persönlich sehr umstritten und stießen auf heftigen Widerstand einiger Mitgliedstaaten, darunter Ungarn und Deutschland. Deshalb entschied sich die Anwältin zunächst, die internen Ermittler gegen Kahn nicht zu unterstützen, da sie den Fall der Palästinenser nicht durch eine Anzeige gegen Khan gefährden wollte, wie das Wall Street Journal berichtete.
Doch ab August 2024 wurde ihr die Zudringlichkeit ihres obersten Vorgesetzten zu viel: »Er hält mich immer fest und drängt mich aufs Bett. Es ist das Gefühl, gefangen zu sein.« Dennoch wollte die Juristin laut WSJ ihre Position nicht aufkündigen, da sie sich der Menschenrechtsarbeit verpflichtet fühlte, finanzielle Verpflichtungen gegenüber ihrer todkranken Mutter erfüllen musste und zunehmend Angst vor Vergeltungsmaßnahmen seitens des Chefanklägers hatte. Diese Darstellung wurde von aktuellen und ehemaligen IStGH-Beamten bestätigt, so das Wall Street Journal.
Einschüchterung
Im Moment findet eine Untersuchung des Büros für die interne Aufsicht der Vereinten Nationen statt, die nicht nur die Vorwürfe sexuellen Fehlverhaltens analysiert, sondern auch Behauptungen, Khan habe versucht, die Beschwerdeführerin und andere, die seine Handlungen gemeldet hatten, einzuschüchtern.
Während die Absetzung des Chefanklägers eine Mehrheit der 125 Mitgliedstaaten des Gerichtshofs erfordert, könnte das Ergebnis der Untersuchung erhebliche Folgen für den IStGH haben – insbesondere zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Glaubwürdigkeit von mächtigen Nichtmitgliedern wie den Vereinigten Staaten, China, Russland und Israel infrage gestellt wird und Khan auch anderweitig unter Druck geraten ist. Khan hingegen deutete laut WSJ an, die Vorwürfe seien Teil eines umfassenderen Versuchs, den IStGH zu schwächen.
Der Fall wegen sexuellen Fehlverhaltens begann sich bereits am 29. April 2024 zu entwickeln, als die Malaysierin vor Thomas Lynch, einem hochrangigen Rechtsberater des IStGH, und einem weiteren Kollegen zusammenbrach und den monatelangen sexuellen Missbrauch durch Khan offenbarte, wie es in vom WSJ zitierten Kreisen innerhalb des IStGH heißt.
Am 2. Mai konfrontierten Lynch und zwei Mitarbeiter Khan mit den Anschuldigungen und teilten ihm mit, dass die Angelegenheit der Personalabteilung des Gerichts gemeldet werde. Khans erste Reaktion, von seinem Posten zurückzutreten, relativierte er gleich darauf mit den Worten: »Aber dann werden die Leute denken, ich renne vor dem Palästina-Fall davon.« Am folgenden Tag veröffentlichte sein Büro eine Erklärung, in der gefordert wurde, »alle Versuche, seine Beamten zu behindern, einzuschüchtern oder unangemessen zu beeinflussen, unverzüglich einzustellen«, ohne jedoch direkt auf die Vorwürfe gegen den Chefankläger einzugehen.
Just zu dieser Zeit bereitete Khan eine seit Monaten geplante Reise nach Israel und in den Gazastreifen vor. Der damalige US-Außenminister Antony Blinken hatte gemeinsam mit dem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan Israel zur Genehmigung dieser Visite gedrängt, da sie darin eine Chance sahen, Khans Entscheidung bezüglich der Haftbefehle zu beeinflussen. Am 3. Mai teilte Khan Blinken mit, die Reise würde wichtige Erkenntnisse liefern, bevor eine Entscheidung getroffen werde.
Doch es kam anders: Am 19. Mai sagte Khan den Besuch kurzfristig ab und gab einen Tag später die Beantragung der Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant entgegen den Empfehlungen hochrangiger Staatsanwälte bekannt, die davor gewarnt hatten, öffentlichen Druck auf die Richter auszuüben, welche die Anträge prüften, berichtete das Wall Street Journal.
In Folge soll Khan versucht haben, seine Mitarbeiterin zu überreden, ihre Behauptungen zurückzuziehen. »Leider wird es drei Opfer geben: Sie und Ihre Familie, ich und meine Familie und die Gerechtigkeit für die Opfer«, so seine Worte in einem Telefonat mit der Juristin, das inzwischen Teil der Ermittlungen der Vereinten Nationen ist.
Der Text erschien auf Englisch zuerst beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung von Alexander Gruber.)