Ist Israels Demokratie tatsächlich in Gefahr? 

Israels neu vereidigte Regierung
Israels neu vereidigte Regierung (© Imago Images / Xinhua)

Dass Benjamin Netanjahu den linken Rand einer Regierung bildet, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Gerüchte über das Ableben des israelischen Rechtsstaats sind freilich stark übertrieben.

Für Leute, die Politik aus der Perspektive der Fankurve eines Fußballstadions betrachten, zählt nur, dass die »eigene« Mannschaft gewinnt. Sowohl Linke als Rechte fiebern auch für »ihre Parteien« in anderen Ländern mit – oder für jene, die sie dafür halten. Ich konnte mit dieser Sichtweise nie etwas anfangen, zum einen, weil ich dieses Lagerdenken für anachronistisch halte, zum anderen mangels einer »Mannschaft«, deren Fan ich bin.

Umso bemerkenswerter, wenn auch nicht überraschend, finde ich, dass Europa von der israelischen Innenpolitik nahezu besessen scheint. Jeder Nachrichtenleser oder -hörer kennt mittlerweile den Namen des neuen israelischen Ministers für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir. DIe Namen der Innenminister von Rumänien, Tschechien oder Spanien dürften den Wenigsten bekannt sein. 

Sorge um die Demokratie

Die deutsche taz ist sich nicht zu schade, unter der Überschrift »Judenstaat im wahrsten Sinne« fortzufahren: »Eine semiautokratische Theokratie droht den demokratischen Staat zu ersetzen.« Ein Gottesstaat ist also nach Ansicht der Redaktion offenbar die »wahrste« Natur des Judentums. Daraus spricht nicht die Sorge um die Demokratie in einem befreundeten Staat, sondern schlicht und einfach eine Mischung aus Lagerdenken, Geschichtsvergessenheit und, man muss es sagen, antisemitischen Vorurteilen. 

Florian Markl ist nicht nur in diesem Punkt vorbehaltlos zuzustimmen, wenn er hier schreibt, es gebe schon mehr als genug Leute in Europa, »die davon überzeugt sind, besser als die Israelis zu wissen, was das Land zu tun oder zu lassen habe, und deshalb nie um wohlfeile Ratschläge verlegen sind, deren mögliche Konsequenzen sie nicht selbst zu tragen haben«.

Die europäischen Ratschläge zur Bewahrung der israelischen Demokratie sind umso verzichtbarer, als die politische Debatte in Israel selbst mit großer Härte geführt wird. So trat zum Beispiel David Horovitz, Gründungsredakteur von The Times of Israel und davor bei The Jerusalem Post, die Regierung schon vor ihrer Angelobung in die Tonne. »Chanukka 2022, als Netanjahu begann, der israelischen Demokratie die Lichter abzudrehen«, ist seine Abrechnung übertitelt, die mit den Sätzen endet: 

»[D]ie Zukunft, in die er Israel führt, ist keine, die Netanjahu selbst noch vor ein paar Jahren toleriert hätte. Sie wird von einer demokratisch gewählten politischen Mehrheit geschaffen und gestaltet, spiegelt aber weder den Willen der israelischen Mehrheit wider noch schützt sie die Rechte der israelischen Minderheiten – ein Fall von, wie Menachem Begin es so treffend formulierte, ›einer Gruppe von Führern‹, die ihre Mehrheitsmacht ›als Deckmantel für ihre Tyrannei‹ missbrauchen.«

Justiz versus Politik 

Die substanziell gewichtigste Befürchtung lautet, dass die Regierung die Gewaltenteilung aushebelt, indem sie das Parlament Urteile des Obersten Gerichtshofs aufheben lässt, und Israel dadurch zu einer »illiberalen«, sprich: nicht rechtsstaatlichen Demokratie wird. Bei näherer Betrachtung relativiert sich diese Sorge allerdings. 

In Israel hat das Oberste Gericht mehr legislativen Einfluss als in anderen Demokratien, in denen ein Verfassungsgerichtshof nur überprüft, ob ein Gesetz oder Urteil der Verfassung (bzw. in Deutschland dem Grundgesetz) entspricht. Israel hat keine Verfassung und daher auch keinen Verfassungsgerichtshof. 

Das Oberste Gericht entscheidet, ob ein Gesetz den oft nur mit einfacher Mehrheit beschlossenen Grundgesetzen widerspricht und beansprucht dabei einen weiten Interpretationsspielraum. Aus Sicht der Legislative, also des Parlaments, ist zumindest das Bestreben nachvollziehbar, einen Entscheid aufheben zu können, der ein heute verabschiedetes Gesetz für ungültig erklärt, weil es einem älteren Gesetz widerspricht, das ebenfalls nur durch einfache Mehrheit zustande gekommen ist. Einzelheiten zur israelischen Verfassungslosigkeit und ihren Folgen kann man in der Analyse von Raimund Fastenbauer nachlesen. 

Konflikte zwischen Legislative und Judikative um das letzte Wort in der Gesetzgebung sind in jeder Demokratie an der Tagesordnung. Uns allen ist in Erinnerung, dass der US Supreme Court das Abtreibungsrecht in die Kompetenz der Bundesstaaten verwies. Und in Europa werden wir künftig noch intensive Diskussionen über das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zur nationalen Gesetzgebung erleben.

Österreich hat den Konflikt zu Zeiten der damals tatsächlich noch »großen« Koalition zwischen SPÖ und ÖVP übrigens weniger elegant gelöst, als es jetzt in Israel diskutiert wird: Solange die beiden Parteien noch drei Viertel der Abgeordneten stellten, war es übliche Praxis, nicht-verfassungskonforme Gesetze in den Verfassungsrang zu erheben, um deren Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof zu verhindern. Dass es auf diese Weise eine Wiener Taxiordnung in die Verfassung geschafft hat, dürfte wohl kaum im Sinne von Hans Kelsen gewesen sein. 

Entwarnung unter Vorbehalt

Eine Regierung unter Beteiligung von Rechtsextremen ist immer unappetitlich und meistens schädlich, vor allem außenpolitisch. Das Wort »meistens« statt »immer« ist hier bewusst gewählt. Die wenigsten Sozialdemokraten dürften der Ansicht sein, dass die Regierung unter Bruno Kreisky Österreich geschadet habe – der immerhin sechs Nationalsozialisten mit Ministerämtern betraute (auf das übliche »ehemalige« verzichte ich: nach dem Erlass des Verbotsgesetzes von 1947 war schließlich jeder Nazi, der nicht wegen Wiederbetätigung verurteilt wurde, ein ehemaliger). Und viele Bürgerliche werden Verdienste der Kabinette Schüssel und Kurz 1 aufzuzählen wissen.

Doch weder unappetitliche noch schlechte Regierungen gefährden per se die Demokratie, ist diese doch genau jene Staatsform, in der man Regierungen gewaltfrei wieder loswerden kann. Eine Möglichkeit, von der Israel übrigens binnen vier Jahren fünf Mal Gebrauch gemacht hat. Wie lange sich die aktuelle Regierung halten kann, werden wir sehen. Ich würde jedenfalls kein Geld auf eine ganze Legislaturperiode setzen. 

Auch wenn demokratische Wahlen nicht immer Demokraten an die Macht bringen – eine Gefahr für die Demokratie sind autoritäre Politiker nur, wenn sie wesentliche Teile von Armee und/oder Polizei hinter sich haben, und davon kann in Israel keine Rede sein.

Der liberale Rechtsstaat ist durch die derzeitige Regierung nicht in Gefahr, Israels außenpolitische Interessen sind es sehr wohl. Das Verhältnis zur US-Regierung von Joe Biden ist eine Herausforderung, zumal, wenn robuste Maßnahmen zur Verhinderung eines atomar bewaffneten Iran notwendig werden sollten. Und jede Provokation der arabischstämmigen Bevölkerung durch seine Regierungspartner wird Netanjahus außenpolitisches Leuchtturmprojekt, die Ausweitung der Abraham-Abkommen, erschweren. 

Wir leben in spannenden Zeiten, aber auch das ist für Israel nicht wirklich neu. 

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