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»Die Masken sind gefallen«: Wie Israelis nach dem 7. Oktober 2023 in Berlin leben

Chasan Assaf Levitin, Matthias Naumann, Ron Segal und Andrea von Treuenfeld bei der Präsentation des Buchs »Israelis in Berlin nach dem 7. Oktober«
Chasan Assaf Levitin, Matthias Naumann, Ron Segal und Andrea von Treuenfeld bei der Präsentation des Buchs »Israelis in Berlin nach dem 7. Oktober« (© Geneviève Hesse)

Das neue Buch von Andrea von Treuenfeld handelt davon, warum Israelis nach Berlin kommen und wie sich ihr Leben nach dem 7. Oktober 2023 verändert hat.

Geneviève Hesse

Nur wenige Schritte vom Mahnmal für die ermordeten Juden Europas entfernt findet in der Hessischen Landesvertretung die Vorstellung des Buches Israelis in Berlin nach dem 7. Oktober statt. Der Einlass ist streng kontrolliert. Der moderne Konferenzraum mit bodentiefen Fenstern und Blick in den Garten ist voll. Zur Lesung der Autorin mit anschließender Podiumsdiskussion haben die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) und die Friedrich-Naumann-Stiftung eingeladen.

Nach einigen Begrüßungsworten vom DIG-Vorsitzenden Jochen Feilcke eröffnet der israelische Diplomat Daniel Aschheim den Abend: »Für viele Israelis fühlt sich der Alltag in Europa heute unsicherer an als je zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.« Der 7. Oktober 2023 habe das Leben vieler Israelis auch in Deutschland nachhaltig verändert. »Während sie um Angehörige bangten, Freundinnen und Freunde verloren und das Unfassbare zu begreifen versuchten, schlug ihnen bereits auf Straßen, Schulhöfen, in Universitäten und U-Bahnen unverhohlener Antisemitismus entgegen.« Die weltweite Welle des Judenhasses habe »eine Realität offengelegt, die viele verdrängt oder unterschätzt hatten«.

Das Buch gebe den Betroffenen ein Gesicht, mache ihre Stimmen hörbar und erinnere daran, dass Israelis keine politische Kategorie seien, sondern Menschen – mit Geschichten, Familien, Ängsten und Hoffnungen.

Achtzehn Porträts

Die Journalistin und Autorin Andrea von Treuenfeld hat für ihr Buch achtzehn der schätzungsweise 20.000 in Berlin lebenden Israelis in Form von Selbstzeugnissen porträtiert. Ursprünglich wollte sie untersuchen, wie sie aufgewachsen sind und warum sie sich ausgerechnet für Berlin als neuen Lebensmittelpunkt entschieden haben. Nach dem Hamas-Überfall auf Israel bekam das Projekt eine neue Richtung.

Am Ende des Abends bedankt sich die Autorin für das Vertrauen der Interviewten. Viele der angefragten Israelis hätten aus Sorge um ihre Sicherheit nicht geantwortet oder ein Gespräch abgelehnt. Umso mehr schätze sie den Mut derjenigen, die sich mit Namen und Foto öffentlich zeigen. Ihre Sichtbarkeit sei nicht selbstverständlich, ergänzte Aschheim, und mit persönlichem Risiko verbunden.

Die Gespräche fanden wenige Monate nach dem 7. Oktober 2023 statt, betont Andrea von Treuenfeld. Von ihren aktuelleren Gedanken und Eindrücken in Berlin erzählten zwei der porträtierten Israelis bei der Podiumsdiskussion, die vom Verleger Matthias Naumann moderiert wurde.

»Die Masken sind gefallen«, konstatierte der Schriftsteller Ron Segal. Heute wisse er genau, wer was denke, worin auch ein Vorteil liege, denn er sei ein realistischer Mensch: »Ich kann mir kaum vorstellen, dass von einer Palästinenserin verlangt würde, sich für die Hamas zu rechtfertigen. Oder dass man einen Russen mit ›Na, du und dein Putin‹ begrüßen würde.« Dieses unterschiedliche Maß habe seiner Meinung nach mit Antisemitismus zu tun, wofür viele Deutsche blind seien. »Die erste Frage sollte lauten: Wie geht es dir und deiner Familie? Erst danach kann man über politische Ansichten sprechen.«

Eine weitere neue Realität erfuhr Segal durch den Polizeischutz bei seinen Lesungen, die er als Autor von zwei ins Deutsche übersetzte Romane hält: Jeder Tag wie heute und Katzenmusik. »Polizeischutz kennen wir vor Synagogen oder bei Prominenten. Aber ich war es nicht gewohnt, mit Bodyguards herumzulaufen.« Hebräisch auf der Straße zu sprechen, bereite ihm keine Angst; dennoch überlege er ständig, was für seine drei Kinder gefährlich sein könnte.

Auch Sänger und Chasan Assaf Levitin berichtet von seinem Alltag. In seinem Amt in einer Hamburger Synagoge und als Teil des Trios »Die drei Kantoren« stehe er als Israeli und als Jude ohnehin oft im Fokus. Nach dem 7. Oktober 2023 habe sich sein Verhalten nicht verändert. Telefoniere er mit seiner Mutter in der U-Bahn, spreche er weiterhin Hebräisch. Er führe offene Gespräche mit muslimischen Taxifahrern und seinem libanesischen Friseur. Seine Erscheinung – 1,87 Meter groß, 70 Kilo schwer, blond – sei wohl ein Vorteil: »Man kommt nicht sofort auf die Idee, sich mit mir anzulegen«, meinte er zwinkernd. »Zum Glück, denn ich bin ein Feigling.« Das Motto seines Trios: »Wir sind Juden in Deutschland – und es geht uns gut.«

Levitin erzählte auch von einem Freund, der wegen der mangelnden Solidarität im deutschen Umfeld in eine Ehekrise geriet. »Warum lässt du mich in der Kälte vor Menschen stehen, die nicht sehen, wie gebrochen mein Herz ist?«, soll er zu seiner Frau gesagt haben. Bevor er überhaupt gefragt worden sei, wie es ihm gehe, sei er bereits mit Forderungen nach Erklärungen konfrontiert worden – etwa für die vermeintliche Bombardierung eines Krankenhauses im Gazastreifen.

Widerspruch aus dem Publikum

Kurz vor Ende der Veranstaltung sprach Levitin über seine Haltung zum Gaza-Krieg und stieß damit im Publikum auf Widerspruch: »Ich rede nicht von zwei Jahren, sondern von drei Jahren, in denen ein brutaler Versuch unternommen wurde, Israel in eine Diktatur zu verwandeln, gesteuert von Netanjahus Regierung. Seitdem fällt es mir immer schwerer, Israel als mein Zuhause wiederzuerkennen. Ich sage das mit gebrochenem Herzen, aber mit israelischem Pass – und deshalb darf ich es sagen: Israel wird derzeit von einer Regierung geführt, die keinen Frieden will. Ein Krimineller steht an der Spitze – einer, der alles tun wird, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Wir erleben die gefährlichste Regierung, die Israel je hatte. Ich bezweifle stark, dass Netanjahu ein Ende dieses Kriegs will.«

»Und die Hamas?«, ruft eine Frau aus dem Publikum. – »Sie repräsentiert mich nicht«, entgegnete Levitin. In Deutschland, fügte er hinzu, habe er mehr Angst vor der AfD als vor Arabern. Ron Segal stimmte dem zu: Die größte Gefahr für die deutsche Demokratie sei die AfD. »Und der Islamismus?«  – »Der ist nicht kurz davor, an die Macht zu kommen.« Seine Haltung brachte Segal folgendermaßen auf den Punkt: »Ich will weder mit der AfD noch mit sogenannten pro-palästinensischen Kräften zu tun haben.«

Er sei nicht naiv, fügte Assaf Levitin hinzu, sondern differenziere. Bei einer Anti-Netanjahu-Demonstration, an der er in Berlin eine Woche vor dem 7. Oktober 2023 teilgenommen hatte, hätten sich Palästinenser der Kundgebung angeschlossen und offen gesagt: Sie wollten keinen Zwei-Staaten-Kompromiss, sondern einen einzigen Staat für sich allein. Die aufgeheizte Stimmung im Raum beruhigte Verleger Matthias Naumann mit einem Hinweis auf den demokratischen Diskurs, der auch kontroverse Meinungen aushalten müsse. Segal kommentierte: »Zwei Juden, drei Meinungen – bei zwei Israelis passen auch fünftausend.« Das sorgte für Heiterkeit.

Applaus erhielt Segal bereits, als er von seiner Großmutter erzählte: Mit 101 Jahren starb sie in Israel, mit sechzehn Jahren musste sie einst aus Berlin fliehen. Zwischen ihr und Segals jüngstem Kind liegen hundert Jahre. »Aber beide sind Berliner«, betonte Segal, der sein Leben in der deutschen Hauptstadt als »eine Art Rückkehr der Familie« versteht.

»Die Masken sind gefallen«: Wie Israelis nach dem 7. Oktober 2023 in Berlin leben

Andrea von Treuenfeld, Israelis in Berlin nach dem 7. Oktober, Neofelis Verlag, Berlin 2025

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