Von kaum jemand ist BDS so besessen wie von der Band Radiohead, die nicht nur immer wieder in Israel auftritt, sondern die auch öffentlich Partei gegen die Boykottbewegung ergriffen hat.
Dem Antisemitismus wohnt ein Paradoxon inne: Er ist seinem Wesen nach gleichzeitig das Monströseste der Welt als auch das Kindischste. Während er Leichenberge auftürmt und Menschen zu Tode foltert, ahmt er zugleich das Kind nach, das im Ärger über die Mitspieler mit dem Ball nach Hause geht und brüllt: »Ihr seid doof, mit euch spiele ich nicht mehr!«
Jenes Kind ist ein Stereotyp, aber das Kindische des Antisemiten ist echt. Im Bestreben, für seine lebenslange abstrakte Wut ein konkretes Ziel zu finden, oszilliert er beständig zwischen dem Größten und dem Kleinsten. Zu den großen Dingen zählen etwa, dass die Juden Gottesmörder seien, bei allen Revolutionen und Kriegen die Fäden zögen, hinter Kapitalismus und Kommunismus steckten und »fünfzig Holocausts« (Mahmud Abbas) verübt hätten – hier treffen sich Antisemiten aller Länder und Kulturkreise, es ist die hohe, philosophische Ebene des Diskurses, gewissermaßen die Champions League.
Daneben findet der Antisemitismus in der Amateurliga im Kleinen statt, und das ist keine Metapher: Bei einem Fußballspiel Dreizehnjähriger von Maccabi in Berlin wurden Makkabi-Spieler mit Stöcken und Messern verfolgt. So befreit sich Palästina.
Global denken, lokal handeln
Der Antisemit redet also von Weltpolitik und der Geschichte, doch fürs Pogrom begnügt er sich mit dem, was er an Opfern vorfindet: Wozu darauf warten, dass Maccabi Tel Aviv oder ein anderer israelischer Verein einmal an die Spree kommt, wenn es in Berlin doch auch Fußball spielende Juden gibt, die man jagen kann? Als 1096 der erste aller Kreuzzüge, ausgerufen von Papst Urban II., zur »Befreiung des Heiligen Landes« auf dem Programm stand, ermordete ein »Volkskreuzzug« die Juden von Mainz, Speyer, Worms, Köln und anderen Städten im Rheinland.
Aus Sicht der Täter ergab das Sinn: Wer konnte schon sicher sein, dass er jemals bis nach Jerusalem kommen würde? Warum nicht jene Juden vernichten, derer man an Ort und Stelle habhaft wird? Palästina befreien konnte man anschließend ja immer noch. Global denken, lokal handeln.
Im deutschen Kaiserreich schrieben Antisemiten über den »Börsenschwindel« von 1872/73, mit dem die Juden sich auf Kosten anderer bereichert hätten. »Der jüdische Bankier« und die »Hochfinanz« taugen als Feindbild, sind aber schwer fassbar. In einer Ersatzhandlung werden die Juden an ihre Stelle gesetzt, die man auf der Straße trifft. Um Rothschild zu treffen, wirft man dem Kleinkrämer die Scheiben ein.
Klar hat aus Sicht des Antisemiten das eine etwas mit dem anderen zu tun. Die jüdische Weltverschwörung ist ja unsichtbar; könnte man sie durch einen Zauber sichtbar machen, würde sich bestimmt herausstellen, dass alle Fäden beispielsweise im Friseursalon des jüdisch-usbekischen Einwanderers Slava Shushakov in der Stadt Yonkers, New York, zusammenlaufen. Der 34-jährige Ahmed al-Jabali bekannte sich letzten Monat schuldig, versucht zu haben, Shushakov umzubringen. Laut der Anklage sagte er: »Ich will dich umbringen, du [Schimpfwort] Jude«, bevor er sich eine Schere griff und dreimal in den rechten Arm und die rechte Hand des Friseurs einstach. News 12 New Jersey berichtete:
»Am Mittwoch war der Laden mit getrocknetem Blut bedeckt, und auf einem leeren Stuhl stand eine Menora. ›Er mag Israel nicht, er mag die Juden nicht, er wollte aus irgendeinem Grund Rache, nahm meine Schere und fing an, mich anzugreifen‹ … ›Er sagte mir: Ich will deine Niere treffen, ich will dein Herz treffen, ich will dein Gesicht treffen, und er hat es versucht‹, so Shushakov.«
Es ist das gleiche Muster wie vor fast tausend Jahren: Der Judenhasser redet von Dingen, die Tausende Kilometer weit weg sind, doch in Wahrheit will er den erstbesten Juden töten, den er sieht. Und danach den zweiten, dritten und vierten.
Der Tunnelblick
Es schmeichelt dem Selbstbild des Antisemiten, über Politik zu reden. Wer von »Gaza« und »Dschenin« spricht, wirkt, als hätte er etwas von der Welt gesehen. Wer »Bethlehem« sagt, ist beinahe ein Heiliger. Und wer glaubt, Benjamin Netanjahu zum Feind zu haben, kann sich als Chef eines mächtigen Staates wähnen. Jedes Mal, wenn der Antisemit die Worte »Apartheid« und »Genozid« ausspricht, ist ihm das eine innere UN-Generalversammlung.
Was machen die Teilnehmer einer propalästinensische Demonstration in Deutschland in ihrer Wut? Sie ziehen zur nächsten Synagoge und skandieren dort »Scheiß Juden!« Wie die Hamas haben sie nie vergessen, dass die »Befreiung Palästinas« ein Code für eine Welt ohne Juden ist. Israel wird bekämpft, weil es als einer der letzten Zufluchtsorte für Juden gilt, vergleichbar mit York Castle im März 1190. Dorthin war die gesamte jüdische Bevölkerung Yorks vor einem Pogrom geflohen. Als der Mob in die Festung eindrang, nahmen die Juden sich das Leben. Es gab keine Überlebenden.
Der Judenhasser hat einen Tunnelblick: Denkt er an Juden, verliert alles andere an Bedeutung. Mag er auch noch so mit der Welt hadern und alle möglichen Leute und Gruppen hassen, ist er doch überzeugt, dass es letztlich die Juden seien, die ihm das Leben versauern. Der Jude bzw. Israel als ideeller Gesamtjude, als »Jude unter den Staaten« (Leon Poliakov) scheint ihm das einzige Hindernis auf dem Weg zur Glückseligkeit zu sein. Der Slogan »Die Befreiung Palästinas ist die Befreiung der Welt« bringt diesen Wahn auf den Punkt.
Bei der antisemitischen Israelboykott-Kampagne BDS treffen wir auf einen Tunnelblick der besonderen Art. Ihre Verfechter wissen, dass sie sich nicht mit Israel anlegen können. Es ist eine wissenschaftlich-technologische Großmacht, jeder benutzt täglich Produkte, die auf israelischem Know-how basieren. Also suchen sie sich willkürlich symbolische Ziele, die sie mit Israel in Verbindung bringen: Caterpillar, Hewlett Packard, Puma, Sodastream.
Wichtig ist den Boykotteuren, dass es nicht zu viele sind, man will ja nicht den Überblick verlieren. Dass mit Caterpillar ein Hersteller von Baumaschinen boykottiert werden soll, ist ein besonderer Gag. Wenn Pax Christi seine Bagger, Radlader, Asphaltfräsen und Planierraupen nur noch bei der Konkurrenz kauft, ist das sicherlich ein harter Schlag für die Bilanz von Caterpillar. Selbst die Palästinensische Autonomiebehörde benutzt die gelben Bagger? Mist!
Während wir vor Jahren darauf hingewiesen haben, dass Microsoft als Unternehmen mit beträchtlichem Forschungszweig in Israel dennoch nicht boykottiert wird, soll dies nun offenbar in einer stark abgespeckten Version nachgeholt werden. Weil ein Boykott aller Microsoftprodukte nicht praktikabel ist, ruft BDS – unter dem wahnsinnig witzigen und originellen Slogan »Genozid ist kein Spiel« – dazu auf, nicht mehr mit einer Xbox zu spielen. Es gibt ein Reddit-Forum, in dem BDS-Unterstützer darüber klagen, dies sei ein »schrecklicher Zeitpunkt« für einen Microsoft-Boykott, schließlich sei am 22. April das neue Computerspiel The Elder Scrolls 4: Oblivion Remastered von Microsofts israelischer Spielefirma Bethesda erschienen. Darf man das jetzt noch kaufen?
Sport und Musik
Stolz ist BDS auf sein Engagement gegen Puma. Angeblich habe die fünfjährige Schmutzkampagne gegen den Sportartikelhersteller dazu geführt, dass dieser nun nicht mehr Ausrüster des israelischen Fußballverbands ist. »Eine fünfjährige, weltweite Boykottkampagne zwang Puma, seinen Vertrag mit dem Israelischen Fußballverband zu beenden.« Drohungen gibt es gegen den Nachfolger: »Als neuer Sponsor ist der deutlich kleinere italienische Trikothersteller Erreà gewarnt.« Wie berichtet wird, wurden die Führungskräfte von Erreà bedroht, so dass sie sich aus Angst weigerten, den Vertrag zu erfüllen. Die Mafia feiert: »BDS funktioniert.« Nun droht BDS dem neuen Sponsor Reebok.
Der Ausschluss von Juden aus deutschen Sportvereinen war im Frühjahr 1933 eine der ersten Maßnahmen der Nationalsozialisten ihrer Politik, die in Auschwitz endete. Eine andere Obsession betraf die Musik. Richard Wagner gab in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik (1850) die Richtung vor: »Der Jude, der bekanntlich einen Gott ganz für sich hat, fällt uns im gemeinen Leben zunächst durch seine äußere Erscheinung auf, die, gleichviel welcher europäischen Nationalität wir angehören, etwas dieser Nationalität unangenehm Fremdartiges hat: Wir wünschen unwillkürlich mit einem so aussehenden Menschen nichts gemein zu haben.«
Schon das Reden des Juden sei unangenehm: »Im Besonderen widert uns nun aber die rein sinnliche Kundgebung der jüdischen Sprache an. Es hat der Kultur nicht gelingen wollen, die sonderliche Hartnäckigkeit des jüdischen Naturells in Bezug auf Eigentümlichkeiten der semitischen Aussprechweise durch zweitausendjährigen Verkehr mit europäischen Nationen zu brechen.« Besonders »unausstehlich« sei es, wenn Juden singen: »Der Gesang ist eben die in höchster Leidenschaft erregte Rede: die Musik ist die Sprache der Leidenschaft. Steigert der Jude seine Sprechweise, in der er sich uns nur mit lächerlich wirkender Leidenschaftlichkeit, nie aber mit sympathisch berührender Leidenschaft zu erkennen geben kann, gar zum Gesang, so wird er uns damit geradewegs unausstehlich.«
Im Dritten Reich hatten jüdische Musiker Auftrittsverbot und durften im Radio nicht gespielt werden. Gleichzeitig führte das Regime eine Propagandakampagne gegen den Jazz, der angeblich die »entartete Musik« der Juden sei.
So überrascht es nicht, dass BDS heutzutage dazu aufruft, Juden nicht singen zu lassen, was unter anderen die marokkanischstämmige israelische Sängerin Neta Elkayam und der jüdische US-Bürger Matisyahu – der kein Israeli ist – zu spüren bekamen. Auch hier wieder zeigt sich der Tunnelblick. Zwar werden jüdische Musiker im Allgemeinen boykottiert, wie die Beispiele zeigen. Doch von kaum jemand ist BDS so besessen wie von der Band Radiohead. Sie tritt nicht nur immer wieder in Israel auf, sondern ihr Sänger Thom Yorke hat auch öffentlich Partei gegen BDS ergriffen. Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood ist mit der Israelin Sharon Katan verheiratet.
Radioheads Debütsingle Creep aus dem Jahr 1992 wurde zuallererst im israelischen Radio ein Erfolg, nachdem sie anderswo zunächst keinen Durchbruch erlebt hatte. »Trotz Protesten von Fans und Aktivisten trat die Band während ihrer gesamten Karriere weiterhin in Israel auf«, so Laura Snapes, stellvertretende Musikredakteurin der britischen Zeitung The Guardian. Als aktive »Boykottbrecher« werden die Mitglieder von Radiohead wohl mehr gehasst als jeder Israeli. Es ist, als hätten sie sich im November 1938 in Deutschland öffentlich dazu bekannt, weiterhin bei Juden einkaufen zu wollen.
Abgesagte Konzerte
Nun rühmt sich BDS, für die Absage zweier Konzerte von Jonny Greenwood und seinem gelegentlichen Partner, dem israelischen Musiker Dudu Tassa, verantwortlich zu sein. Das Duo sollte am 23. Juni im Beacon in Bristol und am 25. Juni in der Hackney Church in London auftreten, doch beide Shows wurden vom Veranstalter abgesagt.
Schon vor einem Jahr hatte BDS Stimmung gemacht: Während Israel im Gazastreifen angeblich »Babys bei lebendigem Leib« verbrenne – der zweitausend Jahre alte Ritualmordvorwurf –, habe Jonny Greenwood »nur eine kurze Autofahrt entfernt ein Konzert im Apartheid-Tel Aviv« gegeben. Nun heißt es: »Die Palästinenser begrüßen die Absage des Konzerts von Jonny Greenwood und Dudu Tassa, das am 23. Juni im britischen Bristol hätte stattfinden sollen und den israelischen Völkermord an 2,3 Millionen Palästinensern im Gazastreifen und das zugrunde liegende siedlerkolonialisierte Apartheidregime beschönigt hätte.«
Was sie nicht dazu sagen: Die Konzerte wurden nicht abgesagt, weil es dafür irgendwelche moralischen Argumente gegeben hätte, sondern weil BDS-Anhänger mit Gewalt gegen die Veranstaltungsorte und Mitarbeiter gedroht hatten. In einer Erklärung schrieben Greenwood, Tassa und ihre Musiker: »Die Veranstaltungsorte und ihre schuldlosen Mitarbeiter haben genügend glaubwürdige Drohungen erhalten, um zu dem Schluss zu kommen, dass eine Fortsetzung der Konzerte nicht sicher ist. Von den Veranstaltern der Konzerte kann nicht erwartet werden, dass sie unseren Schutz oder den unseres Publikums finanzieren.«
Die Absage, hieß es weiter, werde nun von den dahinterstehenden Aktivisten als Sieg gefeiert, während »wir keinen Grund zum Feiern sehen und nichts Positives erreicht wurde. … Musiker zu zwingen, nicht aufzutreten, und Menschen, die sie hören möchten, die Möglichkeit dazu zu verwehren, ist offensichtlich eine Methode der Zensur und des Zum-Schweigen-Bringens.« Künstler sollten die Freiheit haben, »sich unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft oder Religion auszudrücken – und ganz sicher unabhängig von den Entscheidungen ihrer Regierungen«.
Die Erklärung zieht einen Vergleich zu der Solidarisierung, die es mit der irischen Band Kneecap gab, bei der einige Konzerte abgesagt wurden, weil sie Hamas und Hisbollah verherrlicht und zur Ermordung von konservativen Parlamentsabgeordneten aufgerufen haben sollen. Eine solche Solidarisierung wie mit Kneecap hätten die beiden Musiker leider nicht erfahren: »Wir haben kein Urteil über Kneecap zu fällen, stellen jedoch fest, wie traurig es ist, dass diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit unterstützen, dieselben sind, die am entschlossensten sind, die unsrige einzuschränken.«