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Israel zwischen Warnungen und Mordaufrufen

In Israel gehen die Proteste gegen die Regierung weiter
In Israel gehen die Proteste gegen die Regierung weiter (© Imago Images / ZUMA Wire)

Der Alltag in Israel wandelt sich, die gegnerischen Fronten prallen immer heftiger aufeinander. Während aus dem Ausland die erste Warnung vor Investitionen in Israel kam, rief ein israelischer Ex-Pilot zum politisch motivierten Mord auf.

Die interessanten Zeiten, die Israel aktuell durchlebt, werden immer interessanter. Beständig stellen sich neue Höhepunkte ein und Szenarien wie Theokratie, Bürgerkrieg und Wirtschaftskrise schweben gleich einem Damoklesschwert über der Gesellschaft.

Die neue Regierung setzte die ersten Veränderungen in Gang, die alle israelischen Bürger im Alltag spüren. Dazu gehört die Rücknahme von Zusatzsteuern auf Einweggeschirr ebenso wie auf gesüßte Getränke, aber auch die Streichung des Pfands für 1,5-Liter-Plastikgetränkeflaschen – beschlossen, um die Lebenserhaltungskosten zu senken, ohne die (ökologischen) Langzeitwirkungen zu bedenken. Entscheidungen im Transportwesen wie die Rücknahmen eigener Spuren für Busse steigern nicht die ohnehin mäßige Attraktivität öffentlicher Verkehrsmittel, sondern drohen die bereits jetzt endlosen Verkehrsstaus zu verschlimmern. Für Abiturienten werden sich in kürzester Zeit erneut Prüfungsrichtlinien ändern. 

Das sind unter Hochdruck umgesetzte Maßnahmen, die Reformen der letzten Regierung reformieren. Die staatliche Förderung für ultraorthodoxe Studenten religiöser Einrichtungen übersteigt wieder die Förderung von Studierenden an Hochschulen. Gehälter von Generaldirektoren staatlicher Behörden steigen, während sich für ohnehin schlecht entlohnte Soldaten und Polizisten so gut wie gar nichts tut. Der ministeriale Kampf gegen die wachsende Armutwird den Fokus primär auf eine oberflächliche Linderung richten, während Projekte, die das Durchbrechen des Armutskreislaufs in Aussicht stellen, hinten anstehen.

Ohne Frage gibt es Israelis, die solche Schritte aus tiefem Herzen begrüßen. Genauso, wie es ohne Frage Israelis gibt, für die ein Albtraum Gestalt annimmt. Das gilt auch, wenn Israels Bürger den Blick auf das Verteidigungsministerium richten, in dem nun nicht mehr nur der Verteidigungsminister das Sagen hat, sondern ein zweiter Herr mitmischt, da aufgrund der politischen Agenda der Religiösen Zionisten deren Vorsitzendem Finanzminister Bezalel Smotrich Mitspracherechte in Sachen Westjordanland zugesprochen wurden. Und auch wenn die Israelis in Richtung Justizministerium schauen, driften die Ansichten über die auf der Tagesordnung stehenden Veränderungen auseinander. Nicht weniger geteilter Meinung sind Israelis, bezüglich der Töne, die aus dem Finanz- wie auch aus dem Wirtschaftsministerium zu vernehmen sind.

Start-up-Nation im Taumel?

Israels Wirtschaftsminister Nir Barkat, der als millionenschwerer Gründer einer Softwarefirma vor dem Sprung in die Knesset als Jerusalemer Bürgermeister amtierte, ist sich sicher: Die geplante Justizreform wird weder dem israelischen Rechtsstaat noch der Wirtschaft des Landes schaden. Er und andere Regierungsvertreter sind der Überzeugung, das Land werde davon profitieren, was für sie ein weiterer Grund ist, die Reform uneingeschränkt voranzutreiben. Dem halten inzwischen nicht weniger als fünfzig ehemalige Generaldirektoren des Wirtschaftsministeriums entgegen, auf Israel würden schwerwiegende ökonomische Folgen zukommen, und fallen damit in den anschwellenden Chor der Warnungen namhafter Wirtschaftsexperten und ehemaliger Landesbankgouverneure ein.

Die Liste der Firmen des Hightech-Sektors wächst, die dem Beispiel von Papaya Global beim Kapitalabzug aus Israel folgen. Die ersten Banken des Landes teilten der Regierung mit, nicht nur einzelne derartige Bewegungen, sondern geradezu einen diesbezüglichen Trend erkennen zu wollen. Verantwortliche der Bank of Israel bestätigten hingegen zwar, dass übergebührlich viele Transaktionen ins Ausland getätigt werden, bestehen jedoch darauf, dies sei eine Momentaufnahme, die keine Langzeitschlussfolgerungen zulasse.

Schlussfolgerungen für die Zukunft der israelischen Wirtschaft erlaubte sich hingegen das Finanzinstitut JPMorgan, ein US-Unternehmen, das nicht umsonst als global führend gilt und dessen Wirtschaftsanalysen zugunsten der eigenen wie auch potenziellen Kunden als bestens fundiert einzustufen sind. Daher kommt JPMorgans Warnung, man müsse Investitionen in Israel wegen der Erschütterungen infolge der geplanten Justizreform als riskant einstufen, umso mehr Gewicht zu. Darüber hinaus geht JPMorgan nicht nur auf die Sicherheit von Auslandsinvestitionen ein, sondern gab zudem die Einschätzung heraus, die Entwicklungen könnten sich negativ auf die Krediteinstufung des Staates Israel auswirken. Damit stellt das Finanzinstitut Israel schwerwiegende wirtschaftliche Einschnitte in Aussicht.

Auf diesen mächtigen Paukenschlag hin sandte Israels Premier seinen Minister für strategische Angelegenheiten Ron Dermer aus, um die Wogen im In- wie im Ausland zu glätten. Die führenden professionellen Ökonomen ließ er hingegen zu Hause, offensichtlich braucht er sie, um unter anderem einer Frage nachzugehen, welche die Medien des Landes längst aufwerfen: Wie weit werden Israels Hightech-Unternehmer mit ihren Anti-Regierungs-Protestmaßnahmen letztlich gehen?

Folgen auf Worte immer Taten?

Im Hightech-Sektor folgten der von verschiedenen Firmen gemachten Ankündigung, Kapital aus Israel abziehen zu wollen, nämlich tatsächlich handfeste Schritte zur Umsetzung der verkündeten Absichten: Israelis Hightech-Sektor macht sozusagen Nägel mit Köpfen, wobei Meinungen, welche Folgen das haben könnte, gehen wie gesagt auseinandergehen. 

Während für die Hochtechnologie eine Einschätzung der Auswirkungen aus vielen Gründen sehr komplex ist, zeichnet folgende Äußerung dann doch ein unschwer absehbares Resultat vor: »Wenn ein Premier (…) sich selbst mit diktatorischen Machtbefugnissen ausstattet, dann gebührt ihm zu sterben; so einfach ist das.« Um keinen Zweifel an der Stoßrichtung zu lassen, setzte der Ex-Pilot der Luftstreitkräfte Zeev Raz in seinem Facebook-Post nach: Wenn Führer »sich in Diktator-Manier [aufführen], dann besteht die Pflicht, sie zu ermorden«.

Durch Israel hallen somit weiterhin – genau wie während der gesamten Regierungszeit der Veränderungskoalition unter Naftali Bennett und Yair Lapid von Juni 2021 bis Juli 2022 – Aufrufe zum politisch motivierten Mord: israelische Bürger gegen israelische Bürger. Dieses Mal war es Premier Netanjahu, der sich, wenngleich im Facebook-Post nicht namentlich erwähnt, zu Recht angesprochen fühlte und ebenso vollkommen zu Recht die Facebook-Hetze aufs Schärfste verurteilte, indem er meinte: »Alle Grenzen sind überschritten.«

Auf einer Protestkundgebung vor 27 Jahren am Jerusalemer Zionsplatz scheint Benjamin Netanjahu selbst allerdings noch eine andere Auffassung bezüglich der Überschreitung von Grenzen vertreten zu haben: Im Juli 1995 hielt er gemeinsam mit anderen Knesset-Abgeordneten glühende Reden vor Demonstranten, die »Diktator, Diktator« und Todesparolen skandierten – nur wenige Wochen vor dem Mord an Premier Yitzhak Rabin am 4. November 1995. 

Wie gut, dass Netanjahu wenigstens vergangene Woche zu der Erkenntnis kam, dass so etwas als gefährliche Hetze zu verurteilen ist. Selbstverständlich und erneut zu Recht ordnete er an, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen vorzugehen. Würde das für Hetzaufrufe jedweder politischer Motivation gelten, wäre Israel einen Schritt weiter, doch leider würde auch das nicht mit Sicherheit gewährleisten, dass dem Land nicht bloß ein weiterer Politikermord, sondern im schlimmsten Fall sogar ein bürgerkriegsähnlicher Zustand erspart bleibt.

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