Benjamin Netanjahu blickt auf ein Comeback als Premier einer rechtsorientierten Koalition mit stabiler Mandatsmehrheit. Dennoch ist die Spaltung in zwei gleich starke Blöcke nicht überwunden.
In Israel zog sich die Auszählung der letzten zehn Prozent der insgesamt 4,84 Millionen Wahlzettel hin, die in sogenannten Doppelten Umschlägen eingegangen waren. Trotzdem gab es bereits in der Wahlnacht nichts mehr daran zu rütteln, dass Likud-Chef Benjamin Netanjahu Israels neuer alter Premier wird.
In die Reihen seiner Koalition wird er das kometenhaft zur drittstärksten Fraktion aufgestiegene Bündnis der extrem rechtsgerichteten Religiösen Zionisten und zweier ultraorthodoxer Parteien holen. Gemeinsam bringen sie es auf eine Mehrheit von 65 Mandaten, was tatsächlich Bewegung in Israels politische Sackgasse brachte.
Mandatszahl ≠ Wählerstimmenanteil
Die hohe Mandatszahl, die die Parteien des rechten Spektrums zusammenbringen, legt nahe, dass Israels Wähler dem Stellungskampf zwischen den vielbesungenen Blöcken Bibi-Ja versus Bibi-Nein ein Ende bereiteten, indem sie sich zu einer klaren Mehrheit auf die Seite eines Blocks schlugen. Differenziert man allerdings die Parteien nach dem Kriterium Bibi-Ja und Bibi-Nein und wirft so einen Blick auf die Verteilung der Wählerstimmen, sind beide Blöcke weiterhin fast gleich stark.
Der Block um Netanjahu erhielt geringfügig mehr Wählerstimmen, die aber dennoch nicht einmal zur Stärke eines Mandats auflaufen würden. Wählerstimmentechnisch gäbe es keine klare Entscheidung für oder gegen Netanjahu. Vielmehr wäre erneut der altbekannte Gleichstand angesagt, der seit mehreren Wahlgängen keine der beiden Blöcke die problemlose Formung einer stabilen mehrheitsfähigen Koalition ermöglichte.
Israels Wähler stellten diesmal somit zum wiederholten Mal ihre »Blocktreue« unter Beweis. Abgesehen davon zeigten sie ideologische Linientreue. Mitte-Links-Wähler verharrten größtenteils ebenso unbeirrt in ihrem »heimischen« Spektrum, wie die Rechtskonservativen zumeist nichts anderes taten. Auf den ersten Blick ist auch diesbezüglich alles beim Alten und spiegelt das typisch israelische Wahlverhalten wider. Und dennoch lauert in naher Zukunft keine sechste Wahl, da die Knesset die Ausfahrt aus der Sackgasse fand.
Hochgeschraubte Hürde
Nicht unter Wahlmüdigkeit leidend, unternahmen 71,3 Prozent der Stimmberechtigten den Gang zur Wahlurne. Zieht man die Zahl der im Ausland lebenden Staatsbürger ab, die wegen der obligatorischen persönlichen Stimmabgabe am Wohnort mehrheitlich nicht ohne Reiseaufwand wählen können, so machten sogar über 75 Prozent aller in Israel lebenden Stimmberechtigten ihre demokratische Mitsprache geltend. Eine so hohe Wahlbeteiligung ist insofern eine gute Nachricht, als die gefallene Entscheidung nun als wohlfundierte Mehrheitsentscheidung präsentierbar ist.
Für kleinere Parteien war sie allerdings eine Art Todesstoß, da der Umfang der Wahlbeteiligung das zum Meistern der Sperrklausel von 3,25 Prozent erforderliche Stimmenkontingent in die Höhe schraubte.
Trotz des Lukrierens von Stimmenkontingenten, mit denen sowohl die linke Bürgerrechtspartei Meretz als auch die antizionistische arabische Partei Balad bei der Wahl 2021 den Einzug in die Knesset geschafft hätten, kam für beide das Aus, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass sie keine Rettungsringe in Form von Abkommen zu Überhangsmandaten vorweisen können. Beide Parteien zählen zum Anti-Bibi-Block, so dass ihr Nicht-Einzug in die Knesset dafür sorgt, dass fast 290.000 diesen Block stützende Wählerstimmen bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werden.
Dass sich dieses brachliegende Kontingent im Jahr 2021 auf insgesamt nur 65.000 Stimmen belief, die noch dazu ausschließlich von Parteien eingebracht wurden, die für den Wettstreit der beiden Blöcke irrelevant waren, veranschaulicht den massiven Einfluss dieses Aspekts auf das Gesamtbild.
Wählerquittung für ideologische Abenteuer
Ihrer Ideologie, aber nicht ihrer Partei treu gebliebene Wähler haben mit ihrer Stimmabgabe 2022 samt und sonders jene Parteien abgemahnt, die sich 2021 wegen ihrer Anti-Bibi-Haltung für ein Wandeln auf ideologischen Abwegen entschieden hatten. Allen voran bekam Ex-Premier Naftali Bennetts Partei Jamina zu spüren, dass seine Stammwählerschaft ihm ankreidet, nicht nur mit Linksparteien, sondern überdies mit Hilfe der arabischen Ra’am-Partei regiert zu haben.
Bennett wusste, was kommen wird. Er zog sich aus der Politik zurück und überließ Parteikollegin Ayelet Shaked das Schlachtfeld, das trotz ihrer unermüdlichen Bekenntnisse zur rechtsnationalen Gesinnung zum Trümmerfeld wurde. Bennetts Wohnort Ra’anana veranschaulicht, wohin es seine sich betrogen fühlenden national-religiösen Wähler zog. In dieser zentralisraelischen Stadt griffen die Religiösen Zionisten fast das gesamte zuvor auf Jamina entfallene Wählerkontingent ab.
Aus der Größe dieses Kontingents erklärt sich auch der massive Zuwachs der Religiösen Zionisten von 225.000 auf über 516.000 Wählerstimmen, der nicht alleine aus dem Fang von Neu- und Jungwählern resultieren, sondern nur daraus, dass Jamina-Wähler sich diesmal in großen Scharen zu den Religiösen Zionisten bekannten.
Auch Avigdor Libermans Yisrael Beteinu kamen wegen der auf seiner Bibi-Aversion begründeten ideologischen Abenteuerlust, die ihn ins Lager der bisherigen Regierungskoalition führte, mehrere zehntausend Wähler abhanden.
Man darf vermuten, dass es einem weiteren Ex-Partner dieser Veränderungskoalition, Gideon Sa’ar, ähnlich erging. Seine Partei Neue Hoffnung ging ein Bündnis mit der Blau-Weiß-Partei von Benny Gantz ein, in das Sa´ar sechs und Gantz acht Knesset-Sitze einbrachten. Mit den nunmehr nur noch errungenen 12 Mandaten ist Gantz‘ Partei in den Statistiken zwar als eine jener Fraktionen der Veränderungskoalition gelistet, die Mandate hinzugewinnen konnten, doch unterm Strich sind es dennoch weniger als die zuvor separat errungenen 14 Sitze. Man muss davon ausgehen, dass dieser Verlust Großteils auf eine Abwanderung von Wählern zurückzuführen ist, die das Koalieren Sa´ars mit Links-Parteien und mit einer arabischen Fraktion nicht guthießen.
Mit diesem Trend verloren die rechtskonservativen Parteien, die sich im Frühsommer 2021 der Veränderungskoalition angeschlossen hatten, etliche Mandate. Das schwächte nicht nur sie, sondern auch ihre Ex-Koalitionspartner und damit die einst aufgebaute gemeinsame Anti-Netanjahu-Koalitionsfront, die von vornherein mandatstechnisch schwächelte – und deutlich machte: Mit einer Stimme Mehrheit kann man keine Regierung am Ruder halten.
Neben den rechtskonservativen Parteien der Veränderungskoalition, die ohne jegliche Ausnahme eine schmerzliche Quittung überreicht bekamen, litten unter dem Phänomen des Wählverlustes auch die Arbeitspartei Avoda und die Bürgerrechtspartei Meretz. Sie schwächeln bereits seit Jahren aus diversen Gründen, und doch dürfte der diesmalige massive Wählerverlust von zwischen 25 und 35 Prozent auf einen Imageschaden bei ihrer Stammwählerschaft zurückzuführen sein. Auch ihnen zeigten die Wähler infolge ideologischer Abtrünnigkeit die rote Karte.
Erfolgreiche Wählermobilisierung
Yair Lapids Zukunftspartei ist der einzige Partner der Veränderungskoalition, der auf einen Stimmenzuwachs blicken kann. Da aber auch seine zusätzlichen sieben Mandate durch blockinterne Wählerwanderschaft zustande kamen, fand die Vorsitzende der Arbeitspartei Merav Michaeli bereits unverblümte Worte zu Lapids Verfehlungen in Sachen der einst von ihm selbst vielgepriesenen Solidarität unter den Koalitionspartnern zugunsten der Sache: »Lapid wollte uns auslöschen.«
Der Wahlsieg der Religiösen Zionisten überschattet den Erfolg, den zwei andere Fraktionen verbuchen dürfen: die arabischen Parteien Seite an Seite mit Arie Deri an der Spitze der ultraorthodoxen Shas-Partei.
Die arabischen Parteien bringen es gemeinsam zu einem Drittel mehr Wählerstimmen als im Jahr 2021. Während die unerwartet massiv in die Höhe geschnellte arabische Wahlbeteiligung Ra’am und Hadash-Ta’al jeweils überraschende fünf Mandate bescherte, wurde dieser Erfolg durch die Spaltung der Vereinigten Liste geschmälert.
Balad griff bei seinen Ex-Partnern Hadash-Ta’al Stimmen ab, die nunmehr sogar hinter der an der scheidenden Regierungskoalition beteiligten Ra’am zurückliegen. Trotz seines Erfolgs ist gerade Ra’am-Chef Mansour Abbas am Boden zerstört. Nicht nur scheint sein in der arabisch-israelischen Politik präzedenzloser Weg zum Wohl seiner Minderheit vor dem Aus zu stehen. Auch seine mühsam aufgebaute Brücke zur jüdischen Mehrheitsgesellschaft droht von rechten Extremisten eingerissen zu werden.
In vielen Aspekten wiesen die Prognosen in die richtige Richtung. Doch eine Entwicklung entging ihnen: die erfolgreiche Mobilisierung einer bislang schlummernden ultraorthodoxen Wählerschaft. Das bescherte den zwei Parteien, die dieses Wählersegment repräsentieren und sich Sorgen machten, Stimmen an die Religiösen Zionisten zu verlieren, drei geradezu aus dem Nichts kommende zusätzliche Mandate. Sie dürften auch Netanjahu stützen, wenn er die Aspirationen der von ihm eigenhändig hochgepäppelten Religiösen Zionisten zu seinem eigenen Wohl als auch zur Wahrung des Ansehens Israels im Ausland wird deckeln müssen.
Unterm Strich muss man festhalten: Israels Mega-Wahlverlierer, die Partner der verflossenen Veränderungskoalition, sollten nicht gegeneinander die Messer zücken, weil sie stark an Wählerstimmen wegen diverser strategischer Vergehen mandatstechnisch dennoch den Kürzeren gezogen haben. Israel wird sie in der Knesset dringend brauchen, wenn das Ringen um die Wahrung des liberalen demokratischen Charakters des zweifellos, aber nicht ausschließlich jüdischen Staates Israel in die nächste Runde geht.