Auch die Corona-Pandemie wird genutzt, um Israel an den Pranger zu stellen – aktuell unter falscher Bezugnahme auf internationales Recht.
Sehr geehrte Standard-Redaktion,
in ihrem Artikel über die relativ erfolgreiche COVID-19-Impfkampagne in Israel schreibt Maria Sterkl, dass die Prognose für die palästinensischen Gebiete „weniger erfreulich“ sei. Menschenrechtsorganisationen würden kritisieren, dass Israel „seine Verantwortung als Besatzungsmacht nicht wahrnehme“. Suggeriert wird, dass Israel gemäß internationalem Recht auch für Corona-Impfungen im Gazastreifen und im Westjordanland zuständig sei. Leider macht Sterkl keinerlei Anstalten, diese Behauptung zu überprüfen.
Das IV. Genfer Abkommen
In Artikel 56 des „Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten“ von 1949, das die Rechte und Pflichten einer Besatzungsmacht regelt und die hier relevante Rechtsgrundlage darstellt, ist zu lesen:
„Die Besatzungsmacht ist verpflichtet, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln in Zusammenarbeit mit den Landes- und Ortsbehörden die Einrichtungen und Dienste für (…) das öffentliche Gesundheitswesen im besetzten Gebiet zu sichern und aufrechtzuerhalten, insbesondere durch Einführung und Anwendung der notwendigen Vorbeugungs- und Vorsichtsmaßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten und Epidemien.“
Der als maßgeblich geltende Kommentar zu diesem Artikel durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) räumt gleich zu Beginn mit dem Missverständnis auf, dass die Besatzungsmacht alleine für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitswesens und die Pandemiebekämpfung verantwortlich ist: „Diese Aufgabe kommt in erster Linie den zuständigen Stellen des besetzten Landes selbst zu.“ Wenn das vorhandene Gesundheitssystem in der Lage ist, sich um die Gesundheit der Bevölkerung zu kümmern, soll sich die Besatzungsmacht nicht einmischen, sondern nur der Arbeit der lokalen Gesundheitsbehörden nicht im Weg stehen.
Die Genfer Konvention wurde, wie das IKRK betont, mit Blick auf Kriegsgebiete und die mit Kriegen einhergehenden Zerstörungen und Verwüstungen verfasst:
„In den meisten Fällen wird die Invasionsmacht ein Land besetzen, das schwer an Kriegsfolgen zu leiden hat: Krankenhäuser und medizinische Dienste werden desorganisiert sein, ohne notwendige Hilfsstoffe und kaum in der Lage, den Bedürfnissen der Bevölkerung nachzukommen.“
Wenn das der Fall ist, muss die Besatzungsmacht einspringen. Mit der Situation im Gazastreifen und im Westjordanland hat das freilich wenig zu tun: Hier gibt es ein mehr oder minder gut funktionierendes öffentliches Gesundheitssystem – und für dieses ist nicht Israel verantwortlich.
Die Oslo-Abkommen
Zuständig ist vielmehr die Palästinensische Autonomiebehörde, die im Zuge des Friedensprozesses Mitte der 1990er Jahre geschaffen wurde. Artikel 17 des dritten Annexes zum „Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen“ (oft auch „Oslo II“- Abkommen genannt) vom September 1995, das bis heute die Kompetenzverteilung zwischen Israel und den Palästinensern regelt, hält unmissverständlich fest:
„Befugnisse und Zuständigkeiten im Bereich des Gesundheitswesens in der Westbank und im Gazastreifen werden auf die palästinensische Seite übertragen“.
Israel unterscheidet bei seinen eigenen Staatsbürgern nicht zwischen Juden und Arabern – selbstverständlich werden die israelischen Araber im Rahmen der Impfkampagne gegen COVID-19 geimpft, genauso übrigens wie auch die arabischen Bewohner Ost-Jerusalems, die größtenteils nicht israelische Staatsbürger sind. Für die Bevölkerung des Gazastreifens und des Westjordanlandes ist Israel aber schlicht nicht zuständig.
Bei der Bekämpfung von ansteckenden Krankheiten und Pandemien sollen die beiden Seiten laut dem Interimsabkommen zusammenarbeiten. Eine solche Kooperation findet aktuell nicht statt, aber nicht etwa, weil Israel sie verweigern würde, sondern weil die palästinensische Führung sie nicht will. So berichtete die Jerusalem Post kurz vor Weihnachten:
„Die Palästinenser haben sich nicht an Israel gewandt, um Hilfe bei der Beschaffung von COVID-19-Impfstoffen zu erhalten, und planen, diese mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft selbst zu kaufen, sagten palästinensische und israelische Beamte (…).
Ein hoher Beamter des Gesundheitsministeriums der Palästinensischen Autonomiebehörde sagte, dass die Palästinenser nicht erwarten, dass Israel ihnen den Impfstoff verkauft oder in ihrem Namen von irgendeinem Land kauft. Er sagte der Jerusalem Post, dass die Palästinenser bald fast vier Millionen in Russland hergestellte Impfstoffe gegen COVID-19 erhalten werden.
Ein anderer Beamter des PA-Gesundheitsministeriums sagte, er erwarte, dass die Impfungen im Westjordanland und im Gazastreifen im nächsten Monat beginnen werden. Auch er stellte klar, dass die PA Israel nicht darum gebeten hat, die Palästinenser mit dem Impfstoff zu versorgen. ‚Wir arbeiten auf eigene Faust, um den Impfstoff aus verschiedenen Quellen zu beschaffen‘, fügte der Beamte hinzu. ‚Wir sind keine Abteilung im israelischen Verteidigungsministerium. Wir haben unsere eigene Regierung und unser eigenes Gesundheitsministerium, und sie machen große Anstrengungen, um den Impfstoff zu bekommen.‘“
Kritischer Journalismus?
Das ZDF hielt kurz vor dem Jahreswechsel fest, was es zum Thema COVID-19-Impfungen zu sagen gibt: „Wer behauptet, die israelische Regierung sei verantwortlich, dass Corona-Impfungen an Palästinensern im Westjordanland und Gaza noch nicht anlaufen, unterschlägt wichtige Details.“
All das hätte auch Maria Sterkl wissen oder wenigstens mühelos recherchieren können. Stattdessen hat sie sich entschieden, der Standard-Leserschaft eine haltlose Anprangerung Israels aufzutischen. Kann es sein, dass sie die unhinterfragte Wiedergabe unbegründeter Vorwürfe gegen den jüdischen Staat, die sich in ihren Artikeln leider nicht zum ersten Mal findet, mit kritischem Journalismus verwechselt?
Mit freundlichen Grüßen,
Florian Markl
Mena-Watch – der unabhängige Nahost-Thinktank