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Israel: Auch Geheimdienst bekennt eigene Versäumnisse

Logo des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. (© imago images/Manfred Siebinger)
Logo des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet. (© imago images/Manfred Siebinger)

Laut dem israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet hätte der Überfall der Hamas auf Israel verhindert werden können.

Nachdem die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) vergangene Woche die Ergebnisse einer umfassenden Untersuchung des eigenen Versagens vor und während des Massakers der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 veröffentlichten, ist nun der Inlandsgeheimdienst Shin Bet am Dienstag gleichgezogen und gab die Bilanz seiner eigenen Nachforschungen bekannt. Haben die IDF von einem »kolossalen Versagen« ihrerseits gesprochen, so kommt der Shin Bet zu einem nicht minder harten Urteil: Hätte es sich anders verhalten, »wäre das Massaker verhindert worden«.

Viele Details müssen aufgrund der sensiblen Natur der enthaltenen Informationen geheim bleiben, aber ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung lautet, dass der Geheimdienst sich in einem Kampf gegen eine »normale« Terrorgruppe wähnte und darauf konzentriert habe, einzelne Terroranschläge zu verhindern. Er habe die Transformation nicht ausreichend erfasst, die aus der Hamas eine wie eine Armee agierende Terrortruppe gemacht hatte, die schließlich am 7. Oktober 2023 einen Großangriff mit Beteiligung mehrerer tausend Angreifer durchführen konnte. Hinzu sei eine unklare Aufgabenverteilung sowie mangelnde Zusammenarbeit zwischen der Armee und dem Inlandsgeheimdienst gekommen.

Zu den wesentlichen eigenen Versäumnissen zählt der Shin Bet, das Land nicht vor der Invasion durch die Hamas gewarnt, die Absichten der Hamas missverstanden und das Ausmaß der Aufrüstung der Hamas falsch eingeschätzt zu haben.

Zu den falsch eingeschätzten Warnsignalen gehörte, dass der Geheimdienst am Vorabend des Massakers sehr wohl mitbekommen hatte, dass im Gazastreifen praktisch zeitgleich 45 SIM-Karten aktiviert wurden. Aber das sei nicht als Auftakt für einen bevorstehenden Angriff verstanden worden, da etwas Ähnliches schon zwei Mal, im Oktober 2022 und im April 2023 stattgefunden habe, ohne dass danach etwas geschehen sei.

Hinweise auf Pläne für eine Großinvasion wurden, ähnlich wie von den Streitkräften, auch vom Geheimdienst nicht ernstgenommen, weil sie als unrealistisch eingestuft worden seien. Außerdem sei man davon ausgegangen, dass die Hamas sich in ihren Terroraktivitäten auf Anschläge im Westjordanland konzentrieren würde. Und wie die IDF habe man sich zu sehr auf die Hightech-Grenzanlagen rund um den Gazastreifen verlassen.

Politischer Sprengstoff

Laut dem Shin Bet sei Israel in den Jahren vor dem 7. Oktober um Ruhe im Gazastreifen bemüht gewesen. Um diese zu erhalten, habe man auch umfangreiche Gelder aus Katar nach Gaza fließen lassen, von denen ein großer Teil in die Aufrüstung der Hamas geflossen sei. Im Interesse der Ruhe habe man sich auch zu sehr auf rein defensive Terrorabwehr konzentriert, anstatt auch offensiv gegen Bedrohungen aus dem Gazastreifen vorzugehen.

Das sind allerdings Feststellungen, die über eine interne Bilanz hinausgehen und sich, wenn auch nicht offen ausgesprochen, so doch klar gegen die politische Führung und den von ihr verfolgten Kurs richten.

Politischen Sprengstoff enthält auch eine weitere Schlussfolgerung des Geheimdienstes, welche die Times of Israel folgendermaßen zusammenfasst: »Zu den Auslösern für die Entscheidung der Hamas, den Angriff durchzuführen, gehörten die Häufung israelischer Verstöße auf dem Tempelberg, die Haltung gegenüber palästinensischen Gefangenen und die Auffassung, dass die israelische Gesellschaft geschwächt sei«.

Die ersten beiden Punkte beziehen sich laut Jerusalem Post hauptsächlich auf den rechtsextremen Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der die Zahl erlaubter jüdischer Besucher am Tempelberg deutlich erhöht, diesbezügliche Einschränkungen gelockert und die Behandlung inhaftierter Palästinenser verschärft hatte. Der letzte Punkt ist ein kaum verhohlener Hinweis auf die Spaltung der israelischen Gesellschaft durch die Justizumbau- und sonstigen umstrittenen Vorhaben der rechts-rechten Regierung Benjamin Netanjahus.

Zornige Reaktionen

Auch wenn diese Bemerkungen über politische Maßnahmen nur einen kleinen Teil der Shin-Bet-Untersuchung ausmachen, sind sie eindeutig die brisantesten. Entsprechend erbost fiel die Reaktion aus dem Büro des Premierministers aus: »Die Schlussfolgerungen der Shin-Bet-Untersuchung werden der Schwere des immensen Versagens der Behörde und ihres Leiters nicht gerecht«, war von dort zu vernehmen.

Die Untersuchung beantworte keine der offenen Fragen und gehe über die schwerwiegenden Versäumnisse und gravierenden Fehleinschätzungen des Geheimdienstes hinweg, der bis unmittelbar vor dem blutigen Massaker versichert habe, die Hamas sei nicht auf einen Kampf aus. Informationen über Angriffspläne seien nicht an die politische Führung weitergegeben worden.

Der Versuch aus dem Umfeld von Premier Netanjahu, den Schwarzen Peter dem Geheimdienst zuzuschieben, erntete wiederum scharfe Kritik durch Oppositionspolitiker. Der ehemalige Außenminister und Ministerpräsident Yair Lapid warf Netanjahu vor, die Schuld für den 7. Oktober immer noch anderen anhängen zu wollen. Stattdessen solle er endlich um Vergebung bitten und Verantwortung übernehmen.

Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz schrieb auf X: »Anstatt Verantwortung zu übernehmen, sich zu entschuldigen und eine staatliche Untersuchungskommission einzurichten, wirft der Premierminister Dreck auf den Shin Bet.«

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