Israel: Ereignisse von historischer Tragweite

Protest gegen geplante Justizreform: Grenzpolizist bewacht die Absperrungen vor Knesset in Jerusalem
Protest gegen geplante Justizreform: Grenzpolizist bewacht Absperrungen vor Knesset in Jerusalem (© Imago Images / UPI Photo)

Aus dem Iran war Frohlocken zu vernehmen. Israel, so hieß es, versinke im innenpolitischen Chaos. In aller Welt vermeldeten die Newsticker, in der Knesset trugen sich beispiellose Tumulte zu. Festhalten kann man: Stimmt – und stimmt doch nicht.

In der vergangenen Woche wurde Jerusalem zum Ziel einer ungewöhnlichen Protestbekundung. Hunderte Veteranen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) fanden sich für einen mehrtägigen Protestmarsch Richtung Jerusalem zusammen. Nach Shabbat-Ausgang strömten dann auch in Israels anderen Städten erneut Demonstranten zu Kundgebungen gegen die juristischen Visionen der neuen Regierung. 

Diesbezügliche Zahlen sind nur noch schwer zu ermitteln. Zum einen wächst die Liste der Städte, in denen Kundgebungen stattfinden, darunter seit Kurzem auch Efrat, eine Siedlung im Westjordanland südlich von Jerusalem. Zum anderen schwellen die Menschenmassen an. Trotzdem verlief alles wohlgeordnet und friedlich. Erneut führten die Demonstranten nicht nur Plakate, sondern ausgesprochen viele Israel-Flaggen mit sich.

Auch die Kundgebungen des letzten Wochenendes mussten wieder mit Schweigeminuten für die Opfer palästinensischer Terrorakte eingeleitet werden, unter denen unter anderem zwei Brüder im Grundschulalter waren. Schon seit Jahren sind in Jerusalem nicht mehr so viele Tote durch palästinensische Terroranschläge in so kurzer Zeit zu beklagen gewesen. Im Westjordanland kommt es täglich zu Zwischenfällen, während Israels Süden wieder vermehrt mit Raketen aus dem Gazastreifen beschossen wird.

Israels Alltag im Zeichen wachsender Spannung

Die Israelis blicken keineswegs nur sorgenvoll auf die Sicherheitslage. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigt, dass der Anteil der Bürger wächst, die Bedenken wegen der Justizreform hegen. Satte 62 Prozent wünschen sich, dass die Reform entweder gestoppt oder die Pläne ausgesetzt werden; nur noch einer von vier Israelis begrüßt die Absicht der Regierung, die Reform wie geplant voranzutreiben.

Zehntausende widmen diversen individuellen Protestaktivitäten Zeit und Energie und folgen nicht nur den Aufrufen der NGOs, zu Demonstrationen zu kommen. Von einem Land im Chaos ist dennoch keine Spur, sogar protestbedingte Störungen, zum Beispiel im öffentlichen Verkehr, sind lediglich punktuell zu spüren. Zu Zwischenfällen kam es bislang eher auf den Campusgeländen akademischer Einrichtungen, weil gegnerische Studentengruppen aneinandergerieten. Dennoch war spätestens im Verlauf der letzten Woche nicht mehr von der Hand zu weisen, dass sich etwas zusammenbraut – wozu nicht zuletzt ein TV-Interview mit Ex-Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit beitrug.

Der ultraorthodoxe Jurist Mandelblit, der von 2016 bis 2022 als Generalstaatsanwalt des Landes amtierte, stand der Journalistin Ilana Dayan in ihrer Sendung Uvda (Fakt) beim TV-Sender Channel 12 rund fünfzig Minuten lang Rede und Antwort. In dem Interview wies er nicht nur zurück, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die Klagsgründe gegen Netanjahu erfunden hätten, um einen politischen Putsch vom Zaun zu brechen, sondern bekräftigte, »ohne diese Anklage gäbe es keine israelische Demokratie«. 

Aus Mandelblits Sicht wird die geplante Justizreform, die er »radikal« nannte, so vehement forciert, damit die gegen Netanjahu laufenden Prozesse frühzeitig ein Ende finden. Er bezeichnete die Pläne der Regierung als »Regimewechsel«, der »die Unabhängigkeit des israelischen Rechtssystems grundsätzlich eliminieren« würde. Verbesserungen seien angebracht, »doch das ist die Zerstörung des Rechtsstaates«. 

Mandelblit führte aus, die Reform werden die »Werte der [israelischen] Unabhängigkeitserklärung verändern« und zur Folge haben, dass Justizbeamte fortan gegenüber Ministern und Politikern, nicht jedoch gegenüber dem Staat loyal sind, was eine der gefährlichsten Konstellationen überhaupt darstelle. 

Überdies glaubt der Ex-Generalstaatsanwalt, die Reform stelle eine Repression der Rechte von dem Regime nicht genehmen Minderheiten in Aussicht. Eine Demokratie ohne Menschenrechte könne man, sagte er unumwunden, schwerlich Demokratie nennen, und setzte nach: »So sind wir nicht, und gerade das ist unsere Stärke.«

Dem Interview wurde große Bedeutung beigemessen, da Mandelblit während seiner Amtszeit im November 2019 die Anklage gegen Netanjahu veranlasste, während er in den Jahren zuvor, in die die Aufnahme der polizeilichen Ermittlungen fällt, als Kabinettssekretär zu Netanjahus engsten Vertrauten zählte, weswegen viele nun Insiderinformationen an die Oberfläche treten sehen.

Aufschlussreich war dann eine Reaktion auf Mandelblits Ausführungen: Der Knesset-Abgeordnete Simcha Rothman (Religiöse Zionisten), der als Vorsitzender des Justizausschusses amtiert und maßgeblich das flotte Tempo vorgibt, mit dem die Reform durchgesetzt werden soll, verkündete, Mandelbit »sollte wegen Anstiftung und Betrug ins Gefängnis gesteckt werden«. Rothman formulierte mit dem Wort »sollte« zwar im Konjunktiv, aber überspringt der Vorsitzende des Justizausschusses hier nicht einige wichtige Phasen, die das Justizwesen einer funktionierenden Demokratie vorgibt, wie Ermittlung eines Strafbestandes, Anklageerhebung und Prozess, Feststellung von Schuld oder Unschuld in einem Gerichtsurteil und dementsprechende Festsetzung eines Strafmaßes?

Präzedenzlose Bezugnahmen

Kaum von der letzten Kundgebung zu Hause zurückgekehrt, bereiteten sich viele auf die nächste Runde vor; dieses Mal an einem freizunehmenden Werktag, an dem eine Protestveranstaltung in Jerusalem in der Nähe der Knesset und zum Zeitpunkt der ersten Verhandlungsrunde über die Justizreform angesetzt war. 

In die Vorbereitungen platzte die Stellungnahme von US-Präsident Joe Biden, die insofern höchst ungewöhnlich war, als sich hier ein ausländischer Regierungschef explizit zu innenpolitischen Vorgängen eines anderen Landes äußerte. Biden bezeichnete die amerikanische und die israelische Demokratie als stark wegen ihrer unabhängigen Justiz und ließ keinen Zweifel daran, dass fundamentale Veränderungen nur auf der Grundlage eines gemeinsam ermittelten »öffentlichen Konsenses« umgesetzt werden sollten. 

Am Vorabend der ersten Lesung zur Justizreform fiel dann auch Israels Staatspräsident Jitzhak Herzog mit einer für ein Staatsoberhaupt ungewöhnlichen Stellungnahme in den Chor der mahnenden Stimmen ein.

In Israel ist bekannt, dass Herzog seit Wochen mit beiden Seiten das Gespräch gesucht, eine eigene inhaltliche Positionierung aber geflissentlich vermieden hatte. Im Bewusstsein der Bedeutung seines Schrittes, eine solche öffentliche Ansprache und obendrein zur Hauptnachrichtenzeit zu halten, erschien ein sichtlich bewegter Staatspräsident vor der israelischen Nation, der mit zitternden Händen die Manuskriptseiten umblätternd seiner tiefen Sorge um die Demokratie Ausdruck verlieh. 

Herzog warnte vor »einem verfassungsrechtlichen und sozialen Zusammenbruch« und vor möglichen gewalttätigen Folgen. Patriotisch gestimmt, sich dennoch weiter zurücknehmend, gab er zu bedenken: »Beide Seiten müssen verstehen, wenn nur eine Seite gewinnt – welche Seite auch immer das sein mag –, so werden wir alle verlieren. Der Staat Israel wird verlieren.«

Staatspräsident Herzog rief dazu auf, vor einem Vorantreiben der Reform den Dialog aufzunehmen. Als Grundlage für die Verhandlungen über einen Kompromiss legte er fünf Prinzipien dar. Wie üblich im gespaltenen Israel der Gegenwart waren einige angetan von Herzogs beispiellosen Schritt wie von seinen Vorschlägen, während andere ihm vorwarfen, in Zeiten einer so manifesten Krise weiterhin keine deutliche Position zu beziehen – und jene, die über die parlamentarische Mehrheit verfügen, durch Justizminister Yariv Levin zwar Gesprächsbereitschaft signalisieren, aber zugleich unmissverständlich mitteilen ließen, es gebe keinen Anlass, das Vorantreiben der Reform zu zügeln oder gar einzustellen.

Teil dieser Haltung, die in Israels Medien bereits mehrfach als machttrunken bezeichnet wurde, war wohl auch, dass sich Premier Netanjahu über eine juristische Anweisung hinwegsetzte. Wegen seines Interessenkonflikts infolge der laufenden Gerichtsverfahren hatte ihm Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara jede Involvierung in die Angelegenheiten der Justizreform untersagt; doch genau darüber beriet er an dem Abend mit Justizminister Levin.

Knesset-Tumulte – wieder einmal

Was sich am darauffolgenden Tag in und vor der Knesset zutrug, machte weltweit Schlagzeilen. Gemeint ist nicht die letztlich erfolgte Annahme der ersten Phase der Justizreform. Vielmehr standen die tumultartigen Zwischenfällein der Knesset im Rampenlicht, die vielfach als präzedenzlos in Israels Geschichte bezeichnet wurden. 

Dass das nur bedingt zutrifft, zeigt allerdings ein Blick zurück in Israels Geschichte. Nachdem Menachem Begin, damals Oppositionsführer und Vorsitzender der acht Mandate innehabenden Partei Herut, am 7. Januar 1952 eine glühende Knesset-Rede gegen das Wiedergutmachungsabkommen mit der Bundesrepublik Deutschland gehalten hatte, griffen die zahlreich zusammengeströmten Herut-Anhänger Israels damaliges Parlamentsgebäude im Jerusalemer Stadtzentrum an. Steine flogen, Scheiben zerbrachen, Abgeordnete wurden verletzt, und im weiteren Verlauf kam es auch zu Handgreiflichkeiten unter den Abgeordneten.

Israels Parlament sah bereits viele Tumulte, wenn die Meinungen der Parlamentarier wie der Einwohner auseinandergingen, ohne dass Kompromisse in Sicht waren. In jüngster Vergangenheit waren es Themen wie der Libanon-Krieg 1982, die Abkommen mit der PLO in den 1990er Jahren und der Rückzug aus dem Gazastreifen 2005. Jedes Mal standen Bedenken vor nicht zu kittenden Brüchen im Raum, doch selten wurde in Israel so viel über bereits greifbar scheinende bürgerkriegsähnliche Szenarien gemunkelt.

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