Israel: Eine Lawine kommt ins Rollen

Demonstration gegen die geplante Justizreform vor Israels Oberstem Gericht in Jerusalem
Demonstration gegen die geplante Justizreform vor Israels Oberstem Gericht in Jerusalem (© Imago Images / UPI Photo)

Vor dem Hintergrund der sich ausweitenden Proteste der israelischen Zivilgesellschaft wirken die Aktionen der Oppositionsparteien vergleichsweise schwach. 

Israelis behaupten immer, dass es in ihrem Land nie langweilig wird. Auf die vergangenen Wochen trifft das ohne Zweifel zu. Tatsächlich wird es Tag für Tag interessanter. Dazu tragen maßgeblich die Knesset und deren Abgeordnete bei, allerdings nicht unbedingt jene Parlamentarier, die das Wahlergebnis vom 1. November 2022 auf die Oppositionsbänke beförderte.

In der Knesset geht es um sehr viel mehr als die geplante Justizreform, die viele Bürger des Staates Israel zu Demonstrationen auf die Straße treibt. Darüber hinaus gibt es Bestrebungen, eine umfassendere Wahrung der Shabbat-Ruhe zu verordnen und im öffentlichen Leben die Geschlechtertrennung nicht nur für gewisse Veranstaltungen durchzusetzen, sondern auch für Naturschutzgebiete mit Badegelegenheit geschlechterspezifische Eintrittszeiten einzuführen.

Und dann sind da noch in erster Phase eingeläutete Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Medien sowie unzählige weitere parlamentarische Initiativen, die verheißen, dass sich der israelische Alltag grundlegend zu verändern beginnt.

Schwache Oppositionsperformance

Natürlich wird in der Knesset hitzig debattiert. Doch aufsehenerregende Aktionen der Oppositionsabgeordneten? Fehlanzeige! Ihre Parteien, denen anfangs noch eine Art Schockstarre zuzugestehen war, sollten längst ihre oppositionelle Arbeit aufgenommen haben. Doch anstatt jede parlamentarische Kampfmöglichkeit gegen die neue Regierung auszuschöpfen, machen sie sich weiter gegenseitig Vorwürfe und grenzen sich voneinander ab.

Zwar sieht man einige Parlamentarier dieser Parteien auch unter den Demonstranten der vergangenen Wochenenden, doch nur Yair Lapid, dessen Zukunftspartei mit 24 Sitzen zweitstärkte Partei im Parlament ist, wartete mit einer sich von der allgemeinen Starre der Opposition abhebenden Initiative auf. Er bat Staatspräsident Isaac Herzog, sich in Sachen Justizreform vermittelnd einzuschalten. 

Herzog warnte vor einigen Wochen zwar vor einer »historischen Konstitutionskrise«, riet darüber hinaus aber lediglich zu Besonnenheit. Nun scheint er Lapids Bitte in Erwägung zu ziehen, eine Kommission einzusetzen, die eine »ausgewogene Lösung« in Sachen Justizreform ausarbeitet.

Vorstoß der Staatsanwaltschaft

Mehr Entschlossenheit zur Aktivität zeigt unterdessen Israels Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die eine juristische Prüfung der Frage anordnete, ob Premier Benjamin Netanjahu für »amtsuntauglich« erklärt werden muss

Vor dem Hintergrund der gegen ihn laufenden Gerichtsverfahren in Zusammenhang mit Vorwürfen wie Bestechlichkeit, Betrug und Untreue lässt sie seit einigen Tagen evaluieren, ob diesebzüglich wegen seiner Bestrebungen im israelischen Justizwesen maßgebliche Veränderungen vornehmen zu lassen, schwerwiegende Interessenkonflikte und infolgedessen Amtsuntauglichkeit vorliegen könnten.

Schon die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes bezüglich der Disqualifizierung von Minister Arie Deri schürte die Vorwürfe, dass bei richterlichen Entscheidungen politische Erwägungen mitschwingen, wenn nicht sogar die Richtung vorgeben. Während der Ausgang der Prüfung noch vollkommen ungewiss ist, propagieren die regierenden Koalitionspartner allerdings schon, dass jedwede Maßnahme gegen Netanjahu »mit einem Staatsstreich«gleichzusetzen wäre.

Beamte nehmen ihren Hut

In Israel erregte sowohl der Schritt als auch die Begründung Aufsehen, die der an der Tel Avi Universität wirkende Wirtschaftsprofessor Moshe Hazan für seinen Rückzug aus dem Dienst für das staatliche Währungskomitee gab: Er wolle lieber politisch aktiv werden, teilte er Premier Netanjahu genauso unverblümt mit, wie der israelische Botschafter in Kanada, Ronen Hoffman, seine Rücktrittsmotivation offenlegte. Angesichts der neuen israelischen Regierung und deren politischer Agenda sehe er sich aus Gründen »seiner persönlichen wie auch professionellen Integrität« zu diesem Schritt veranlasst.

Der von Yair Lapid ernannte Hoffman ist der zweite israelische Diplomat, der diese Konsequenze zieht. Bereits im Dezember 2022 dankte Israels Botschafterin in Frankreich, Yael German, ab, die zuvor einige Jahre für die Zukunftspartei und nachfolgend für die Blau-Weiß-Partei in der Knesset amtiert hatte. Auch diese Diplomatin wählte deutliche Worte: Wegen der extremistischen Ansichten, die in den Koalitionsabkommen zum Tragen kommen, könne sie den Staat nicht weiter im Ausland repräsentieren.

Kreativität zeigen

Aktivisten, die die ersten Demonstrationen zu organisieren halfen, hoffen, dass die Menschenmassen weiter anschwellen werden. Doch Langzeitaktivistinnen, wie Shikma Bressler, die seit 2020 Anti-Netanjahu-Proteste auf die Beine stellt, sind der Ansicht, dass demonstrieren nicht ausreiche, »wir müssen sehr viel kreativer und auch sehr viel aggressiver werden.«

Einige Graswurzel-Bewegungen ergehen sich in Überlegungen, wie nicht nur mehr Kreativität, sondern auch ein angriffslustigeres Vorgehen bei den Protesten aussehen könnte. Einhergehend damit sind Initiativen diverser Sektoren der israelischen Gesellschaft bemerkenswert, die nie zuvor in irgendeiner Form zusammengefunden, geschweige denn sich gemeinsam organisiert haben. 

Unter dem Schlagwort »Not our Judaism« trafen sich diese Woche in Jerusalem religiöse Aktivisten des linken Spektrums, was die Tageszeitung Haaretz nicht nur zu einem langen Bericht, sondern auch zu der Feststellung veranlasste: »Das gibt es tatsächlich – religiös und links.« Schätzungsweise 650 Anwesende diverser religiöser Strömungen beschlossen, längst angelaufene Einzelkampagnen gemeinsam auf ein anderes Niveau heben. Als gläubige Juden wollen sie u.a. im Bildungssektor einen Dominoeffekt in Ganz setzen, indem sie kundtun: Auch wir sind »religiöse Zionisten«, wehren uns aber gegen Rassismus und Xenophobie.

Startschuss mit Lawinenpotenzial

Diese Woche machten die Warnstreiks unzähliger israelischer Hightech-Betriebe nationale wie auch internationale Schlagzeilen. Allseits wurde darauf verwiesen, wie ungewöhnlich eine solche Maßnahme für einen Sektor ist, der als bedeutsamer Träger der israelischen Wirtschaft gilt. Dennoch zeigte sich Israels Premier Netanjahu nach wie vor unbeeindruckt. Warnungen vor einem Schaden der israelischen Wirtschaft infolge der Justizreform bezeichnete er als »unverantwortlich.«

Doch für genauso unverantwortlich halten es nunmehr die ersten Hightech-Betriebe, es bei Demonstrationen wie auch der nächste Stufe, den Warnstreiks, zu belassen. 

In den vergangenen Wochen wurde wieder und wieder erklärt, Hightech-Firmen könnten nach Umsetzung der ersten juristischen Reformphase, ihr Kapital ins Ausland transferieren. Das wird nun bereits in der vierten Woche der Massendemonstrationen und zu einem Zeitpunkt, zu dem sich kein anderer gewerkschaftlich organisierter Berufsverband den Protestmaßnahmen angeschlossen hat, Realität – und dies bereits vor Umsetzung der Justizreform. 

Die Firma Papaya Global, eine Plattform für cloud-basierte Gehaltsabrechnungen, »hat die Geschäftsentscheidung gefällt, das Firmenkapital aus Israel abzuziehen«, gab Geschäftsführerin Eynat Guez am 26. Januar auf Twitter bekannt. Die 2016 gegründete Firma Papaya Global gilt als Stern am Himmel der israelischen Start-Ups. Sie beschäftigt in Israel 500 Angestellte und wurde bei der letzten Finanzierungsrunde im September 2021 auf einen Wert von 3,7 Milliarden US-Dollar geschätzt.

Nach der Ankündigung des Papaya-Rückzugs meinte Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten), es werde »kein wirtschaftliches Desaster geben, da die israelische Wirtschaft stark ist.« Da innerhalb kürzester Zeit aber auch weitere Firmen bekannt gaben, dem Beispiel von Papaya Global zu folgen – darunter ein Risikokapitalfonds mit einer Rücklage in Höhe von 250 Millionen US-Dollar – wird es interessant, was noch so rund um den bisherigen  Slogan des israelischen Hochtechnologiesektors passieren wird: »There´s no high-tech without democracy.«

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