Stefan Frank im Interview mit dem pensionierten Richter und Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Gießen Wolfgang Bock über das Völkerrecht und Israels Angriff auf den Iran.
Stefan Frank (SF): Man liest in den Medien derzeit viele Meinungen von Juristen, die behaupten, der israelische Angriff auf die iranischen Atomanlagen sei »völkerrechtswidrig«, da die Bedrohung durch die Atombombe zu »abstrakt« sei und ein Angriff aus dem Iran nicht unmittelbar bevorstand. Es habe also keine akute Bedrohung gegeben. Wie ist Ihre Ansicht? Verstößt der Angriff Israels gegen das Völkerrecht?
Wolfgang Bock (WB): Wir müssen zwei tatsächliche Entwicklungen voneinander getrennt betrachten. Zunächst stellt sich die Frage, ob nicht schon seit längerer Zeit, nämlich seit dem Angriff der Hisbollah auf Israel, ein Kriegszustand zwischen Israel und dem Iran besteht. Wird eine militärische Organisation komplett von einem Land beherrscht, so ist dieses Land für das Handeln dieser Organisation verantwortlich.
Angesichts dessen, dass die Hisbollah immer in engster Koordination mit dem Iran und seiner Revolutionsgarde (IRGC) handelte und der Iran jederzeit ein geplantes militärisches Handeln der Hisbollah verhindern konnte, wird man im Tatsächlichen davon ausgehen müssen, dass eine groß angelegte militärische Aggression der Hisbollah gegen Israel – wie die heftigen Raketenangriffe gegen Israel nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 – unmöglich war, ohne dass der Iran damit einverstanden gewesen wäre.
Israel hat auf eine dauernde, feste organisatorische Zusammenarbeit zwischen Hisbollah and der IRGC hingewiesen. Selbst, wenn das Regime im Iran nicht jeden einzelnen militärischen Schritt der Hisbollah durch die IRGC gelenkt haben mag, wurden wesentliche militärische Aktionen doch so abgesprochen, dass der Iran – verkörpert durch die IRGC – komplett eingeweiht war und jederzeit das ihm zustehende Vetorecht ausüben konnte.
Deshalb erscheint mir das Argument plausibel, dass durch den Angriff der Hisbollah, der im Übrigen mit den Angriffen der Huthi als einen weiteren Verbündeten des Irans verbunden war, zwischen Israel und dem Iran ein Kriegszustand entstanden ist. Diese tatsächliche Lage ist meinem Wissen nach bislang rechtlich kaum untersucht worden. Angesichts des tatsächlichen Verlaufs des Konflikts zwischen Israel und der Hisbollah ist zudem erheblich, dass in einem Kriegszustand auch längere Pausen auftreten können, ohne dass der Krieg dadurch rechtlich beendet wird.
Nachdem die Hisbollah durch die Tötung ihres Führungspersonals weitgehend besiegt war und kaum noch Angriffe starten konnte, griff der Iran in direkter Vergeltung Israel mit 180 ballistischen Raketen an. Zudem schossen die vom Iran ausgerüsteten und von ihm beratenen Huthi weiter Raketen auf Israel.
SF: Wenn ein Staat also über Handlanger oder Stellvertreter, auf Englisch werden diese Proxys genannt, Krieg führt, ist das gleichbedeutend damit, dass er selbst ein Land angreift und er sich nicht aus der Verantwortung stehlen kann?
WB: Wenn er die letztendliche Entscheidung über das Handeln dieser Proxys hat, dann ja.
SF: Trifft das Ihrer Meinung nach auch auf die Hamas und den Islamischen Dschihad im Gazastreifen zu?
WB: Auf den Islamischen Dschihad trifft das angesichts seiner direkten Abhängigkeit vom Iran wohl zu. Die Gruppe Islamischer Dschihad hatte aber keine mit der Hamas auch nur entfernt vergleichbare Rolle. Bei der Hamas ist es schwierig, das muss man sehr genau untersuchen. An sich hat die Hamas ohne zentrale Beherrschung durch den Iran gehandelt. Allerdings gab es in Beirut regelmäßige, mindestens alle vier Wochen, ein strategisches Treffen zwischen der Hamas, der Revolutionsgarde und der Hisbollah. Es wurden auch Vorbereitungsschritte für das Massaker vom 7. Oktober 2023 abgesprochen.
SF: Inwieweit ist das schon als Kriegshandlung des Irans zu betrachten?
WB: Ich bin da skeptisch. Aber es könnte angesichts konkreterer Tatsachen anders zu bewerten sein.
Atomarer Fortschritt
SF: Welche Rolle spielen die permanenten Androhungen der Vernichtung Israels, die es schon seit Khomeinis Machtübernahme im Jahr 1979 gibt? Sind das Kriegserklärungen im Sinne des Völkerrechts?
WB: Nein. Der völkerrechtliche Kriegsbegriff setzt eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Staaten voraus. Eine Kriegserklärung kann, muss aber nicht an deren Beginn stehen. Bis zum Angriff der Hamas und der Hisbollah auf Israel gab es keinen Kriegszustand.
SF: In einer etwaigen Gerichtsverhandlung könnten die Androhungen bzw. sogar Ankündigungen der Vernichtung aber als Belege für die Absicht des Angriffs dienen, oder?
WB: In dem Moment, in dem es zu gewalttätigen Schlägen kommt, etwa durch die vom Iran beherrschten Proxys, ist durch diese Erklärungen natürlich eine Absicht des Irans selbst bewiesen. Wir brauchen ein absichtliches Verhalten, und das liegt beim iranischen Regime und dem Handeln der Hisbollah, das ihm zuzurechnen sein dürfte, in jeder Hinsicht vor.
SF: Wann ging das Ihrer Meinung nach los? Sie sprachen vom 7. Oktober 2023, aber die Hisbollah gab es schon vorher. Sie hat auch schon vorher Raketen auf Israel geschossen und auch israelische Soldaten getötet, was dann ja 2006 auch zu dem damaligen Libanonkrieg führte.
WB: Es bedarf der erheblichen, nicht nur vereinzelten Gewaltanwendung. Ein einzelner Raketenbeschuss dürfte dafür nicht ausreichen. Der Raketenbeschuss durch die Hisbollah war aber ein derartiges Ereignis – und zwar der dauerhafte Beschuss seit dem Oktober 2023. Vorher gab es einzelne Auseinandersetzungen, die aber nicht als gewalttätiger andauernder Konflikt zu bezeichnen waren.
SF: Wir müssen also differenzieren zwischen dem andauernden Beschuss und Grenzscharmützeln, die es schon vorher gegeben hat?
WB: Ja. Eine zweite tatsächliche Entwicklung wird mit Grund diskutiert: Ist ein präventiver Krieg Israels gegen den Iran angesichts dessen nuklearbezogenen Verhaltens gerechtfertigt? Israel hat nach seinen Angaben seine diesbezüglichen Erkenntnisse den Verbündeten gegenüber belegt. Danach ist seit dem Oktober 2023 eine erhebliche Beschleunigung des atomaren Fortschritts durch den Iran zu beobachten. Der Iran habe beabsichtigt, so schnell wie möglich Atombomben zu produzieren, um diese sodann an seine Proxys weiterzugeben, damit diese sie wiederum gegen Israel einsetzen könnten.
SF: Ist ein Staat verpflichtet, den Aufbau von Atombomben gegen ihn hinzunehmen, bis er von allen Seiten von Atombomben umzingelt ist?
WB: Angesichts der Darlegungen der israelischen Seite über die Absichten des iranischen Regimes ist tatsächlich von einer solchen Lage auszugehen. Das hat Israel wohl hinreichend detailliert dargelegt. Natürlich fehlen uns bislang die konkreten Beweise. Das mag schwierig sein, weil es sich um geheimdienstliche Erkenntnisse handelt und wir wissen, dass, wenn diese offenbart werden, zugleich die Quellen in Gefahr sind. Insofern sind wir da in einer schwierigen Lage.
Aber wenn das stimmt, was die israelische Seite behauptet, wäre auch insofern ein Recht auf einen Präventivkrieg gegeben, weil eine imminente, unmittelbar bevorstehende Gefahr der nuklearen Weiterverbreitung gegeben war. Der Iran hatte, wie von Israel in Erfahrung gebracht werden konnte, eben diese Absicht. Nach dem, was die israelische Seite sagt und was auch Feststellungen der IAEA bestätigen, war er davon nur Tage oder wenige Wochen entfernt.
Aufs Höchste bedroht
SF: Der damalige iranische Präsident Ali Rafsandschani hat 2001 gesagt, eine einzige Atombombe auf Tel Aviv würde ganz Israel zerstören, während der Schaden eines etwaigen israelischen Gegenschlags für die islamische Welt beherrschbar sei. Spielt es Ihrer Meinung nach völkerrechtlich eine Rolle, dass Israel wegen seiner sehr geringen Landmasse in einer ganz anderen Lage ist, als es etwa die USA im Angesicht der Bedrohung durch sowjetische Atomwaffen während des Kalten Kriegs waren?
WB: Es ist sicher, dass eine Existenzbedrohung des Staates Israel durch die iranische Atombewaffnung in viel höherem Maße gegeben ist als umgekehrt. Denn man darf nicht vergessen, dass auch Israel über Atomwaffen verfügt; aber es ist klar, dass es diese niemals anwenden wird, wenn es nicht selbst atomar angegriffen wird. Das ist politisch völlig klar und wird von niemandem bestritten. Wir haben also ein klares Ungleichgewicht, denn der Iran strebte den möglichen Einsatz von Atomwaffen gegen Israel an. Dadurch war die Sicherheit des Staates Israel aufs Höchste bedroht.
SF: Welche Möglichkeiten hätte Israel angesichts der Bedrohung durch das Mullah-Regime einerseits und den seit vielen Jahren andauernden Beschuss durch von diesem bewaffnete Terrorgruppen wie die Hamas andererseits, rechtlich – etwa bei der UNO – dagegen vorzugehen?
WB: Der einzig mögliche rechtlich-politische Weg wäre jener über den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dort haben China und Russland ein Vetorecht. Aus diesem Grund ist im Sicherheitsrat noch nie eine Israel endgültig schützende Resolution zustande gekommen. Insofern musste dieser Weg von Vornherein aussichtslos erscheinen.