Latest News

»Im Kulturbetrieb zensieren sich viele selbst aus Angst vor dem postkolonialen Mob«

Der Musiker und Autor Wolfgang Seidel beklagt den Antisemitismus im Kulturbetrieb
Der Musiker und Autor Wolfgang Seidel beklagt den Antisemitismus im Kulturbetrieb (© Photomusix)

Im Gespräch mit Elisa Mercier spricht der als Schlagzeuger der Band »Ton Steine Scherben« bekanntgewordene Musiker und Autor Wolfgang Seidel über den Antisemitismus im Kulturbetrieb.

Elisa Mercier (EM): Vor kurzem wollte der Moderator Jan Böhmermann mit dem Rapper Chefket ein Konzert im staatlich geförderten Haus der Kulturen der Welt in Berlin organisieren. Chefket werden antisemitische Äußerungen vorgeworfen. Aktuell wird zudem über einen Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest diskutiert. Die Kunst- und Kulturszene, die lange als eher inklusiv galt, hat sich seit dem 7. Oktober 2023 deutlich verändert, oder?

Wolfgang Seidel (WS): Absolut. Antisemitismus wird nicht nur kaum noch kritisiert, er ist in weiten Teilen der Kulturszene akzeptiert. Das unter dem Deckmantel der »Israelkritik«, dem »Postkolonialismus« und einer vermeintlich moralisch gerechtfertigten Parteinahme für die »palästinensische Sache«. Ich habe Ende der 1960er Jahre mit der Musik in einer Rockband angefangen. Das war die Zeit, als sich alle Love and Peace auf die Fahnen geschrieben hatten.

Wo sind wir heute? Nehmen wir als Beispiel das Festival in Glastonbury. Statt »Give Peace a Chance« schallten dort Mordaufrufe gegen die IDF von der Bühne und die Menge brüllte begeistert mit. In Berlin, berühmt für seine Club-Szene, werden Locations drangsaliert, die sich nicht der Verurteilung Israels anschließen wollen. Wobei sich die »Kulturschaffenden« gebildeter geben als der Antisemitismus der Straße. Neu ist das nicht.

EM: Können Sie uns die Berliner Musikszene, in der Sie aktiv sind, genauer beschreiben?

WS: Berlin ist in den letzten zwanzig Jahren zu einem Zentrum geworden für Free Jazz, freie Improvisation – oder, wie es sich seit einiger Zeit als Genrebegriff etabliert hat, Echtzeitmusik. Musik, wo die soziale Interaktion gleichberechtigter Akteure im Vordergrund steht. Man sollte meinen, dass eine Musik mit emanzipatorischem Anspruch immun ist gegenüber autoritären Ideologien.

Es war eine unangenehme Erfahrung, als nur Stunden nach dem 7. Oktober Musiker die Kufiya herausholten und die Sammelbüchse für Gaza herumgehen ließen. Ausgerechnet Musiker, bei denen der individuelle Ausdruck zentral ist, solidarisieren sich mit einer Ideologie, der der einzelne Mensch egal ist. Das ist die Botschaft der schwarzen, alle gleich machenden Masken der Hamas. Ihre Masken stehen für die Auslöschung des Individuums.

EM: Wie gehen Sie damit um, dass im Kulturbetrieb häufig Partei für die »palästinensische Sache« ergriffen wird, oft verknüpft mit offenem Israelhass?

WS: Es macht mich ratlos, wenn ich Musiker hier in Berlin sehe, wie sie sich eitel wie Pfauen mit der Kufiya präsentieren. Gerade sie müssten wissen, was es für ihre Kunst bedeuten würde, wenn die Kräfte, für die sie die nützlichen Idioten abgeben, siegen würden. Der islamistische Terror richtet sich nicht nur gegen Israel. Es ist ein Hass auf die Freude am Leben. Was hatten die Anschläge auf das Bataclan in Paris oder die Manchester Arena in Großbritannien mit Israel zu tun? Nichts. Diskussionen mit solchen Leuten sind zwecklos. Zum Glück gibt es aber noch viele Menschen in dieser Szene, die vernünftig sind.

Was mich auch irritiert, ist, dass das, was ich einmal als politisch links betrachtet habe, und zu dem ich mich zählte, in Teilen offen antisemitisch geworden ist. In Frankreich etwa ist eine unheilige Allianz aus Versatzstücken linker Politik mit dem Islamismus unter dem Namen Islamogauchisme entstanden. Nur ein Beispiel.

Empathielosigkeit, Kälte und Hass

EM: Sie haben das Bataclan und die Manchester Arena erwähnt. In Berlin ist gerade eine Ausstellung über das Nova-Festival zu sehen, das am 7. Oktober 2023 von der Hamas und anderen Dschihadisten grausam überfallen wurde. Die globale Festival- und Clubszene zeigte damals kaum Solidarität oder Mitgefühl mit den Opfern. Warum nicht?

WS: Diese Empathielosigkeit kann ich absolut nicht verstehen. Es ist auch nicht nur eine Empathielosigkeit gegenüber den israelischen Opfern. Mit derselben Kälte überbietet man sich bei den Opferzahlen der von der Hamas als Kanonenfutter missbrauchten palästinensischen Zivilbevölkerung. Ebenso schnell vergessen werden die Opfer dschihadistischer Terrorangriffe in Europa und gerade auch die außerhalb des Kontinents.

EM: Spiegelt sich in dieser Kälte bis hin zum Hass gegenüber Israel und jüdischen Menschen vielleicht auch ein grundlegender Wandel in der Linken wider?

WS: Bis Mitte der 1960er unterstützten linke westdeutsche Jugendorganisationen Israel durch Arbeit in Kibbuzim – aus Solidarität mit sozialistischen Idealen. Ende der 1960er radikalisierte sich ein Teil der Linken und suchte, von der Arbeiterklasse enttäuscht, neue »revolutionäre Subjekte«. Sie fand sie im Nahen Osten. Die radikale deutsche Linke arbeitete eng mit palästinensischen Terrorgruppen zusammen. Es folgten Terrorakte wie etwa das zum Glück gescheiterte Bombenattentat auf das jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße 1969.

Die Pamphlete dieser Gruppen zeigen dieselbe autoritäre, Fakten leugnende und selbstgerechte Sprache, die man bei heutigen Israel-Hassern erlebt. Das hat etwas Pathologisches, das Dialoge verunmöglicht.

EM: Noch einmal zu Böhmermann und dem Kulturbetrieb: Böhmermann sagte das Konzert von Chefket ab, nachdem Staatsminister Wolfram Weimar öffentlich deutliche Kritik geäußert hatte. War das ein unzulässiger Eingriff in die Meinungs- und Kunstfreiheit, wie Kritiker sagen?

WS: Der Kulturbetrieb ist in weiten Teilen abhängig von staatlichen Förderungen und hier muss man ansetzen. Das war der Weg des ehemaligen Berliner Kultursenators Joe Chialo, der zu Beginn seiner Amtszeit ankündigte, bei den Kulturförderungen genauer hinzuschauen, an wen und wofür die nicht unerheblichen Gelder fließen. Das Geschrei der Kulturszene war groß. Dass der Staat als Geldgeber das Recht hat, auf die Einhaltung von Regeln zu achten, sollte aber klar sein. Das gilt auch für Postenvergaben.

Wenn Chefket oder seine Fans jetzt Zensur rufen, irren sie. Selbstverständlich kann er auftreten. Nur muss er die Saalmiete selber bezahlen. Es gibt keinen automatischen Anspruch auf Förderungen. Staatliche Zensur ist das nicht. Was wir zurzeit erleben, ist etwas ganz anderes. Anstatt einer staatlichen Zensur zensieren sich im Kulturbetrieb viele Verlage, Ausstellungsmacher etc. selbst aus Angst vor dem postkolonialen Mob.

EM: Viele Kulturschaffende nutzen ihre Kunst für politische Botschaften, oft gegen Israel. Haben sie nicht schon allein aufgrund ihrer oft großen medialen Reichweiten eine besondere Verantwortung für ihre Äußerungen und deren Wirkung?

WS: Die Frage hat sich mir schon vor vielen Jahren gestellt. Anfang der 1970er Jahre spielte ich in einer Band, die gerne von linken Gruppen gebucht wurde, um unter dem Deckmantel des Konzertes genug Leute zu versammeln und dann zur Besetzung eines leerstehenden Hauses aufzurufen. Ziel war, daraus ein Jugendzentrum zu machen.

Am Anfang ist man begeistert, dass man diese Macht hat. Irgendwann stellte sich die Fragen, was man mit dieser Macht noch anfangen kann und welche Verantwortung man damit trägt. Wenn ich an die Bilder vom Festival in Glastonbury denke, wo sich der Sänger von Bob Vylan auf Händen tragen ließ, während die Menge »Death to the IDF« rief, fragt man sich beklommen, wieviel noch fehlt, um die Menge in einen Lynchmob zu verwandeln.

Bleiben Sie informiert!
Mit unserem wöchentlichen Newsletter erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren.

Zeigen Sie bitte Ihre Wertschätzung. Spenden Sie jetzt mit Bank oder Kreditkarte oder direkt über Ihren PayPal Account. 

Mehr zu den Themen

Das könnte Sie auch interessieren

Wir reden Tachles!

Abonnieren Sie unseren Newsletter und erhalten Sie alle aktuellen Analysen und Kommentare unserer Experten und Autoren!

Nur einmal wöchentlich. Versprochen!