Immer wieder wird Israel vorgeworfen, dass eine Hungersnot in Gaza unmittelbar bevorstünde – oft auch unter selektivem Bezug auf das Völkerrecht.
»Familien im Gazastreifen sind am Verhungern«, lautete es erneut vonseiten Cindy McCains, der Exekutivdirektorin des Welternährungsprogramms (WFP). Als Reaktion auf die ins Stocken geratene Geiselverhandlungen setzte Israel am 2. März alle Hilfslieferungen in den Gazastreifen aus. Während humanitäre Organisationen bestreiten, dass seitens Hamas nennenswerte Mengen an Hilfsgütern gestohlen werden, wirft Israel der Terrorgruppe vor, diese zu horten, weiterzuverkaufen und die Gewinne zur Finanzierung militärischer Aktivitäten zu nutzen.
Das WFP berichtete unlängst, seine Lebensmittelvorräte seien aufgebraucht und seine Bäckereien mangels Mehl und Treibstoff zum Schließen gezwungen. Die Hilfsorganisation World Central Kitchen stellte angesichts leerer Lagerbestände Anfang des Monats ebenfalls ihre Arbeit ein.
Die UN-Organisation zur Beobachtung akuter Ernährungsunsicherheit (IPC) veröffentlichte eine Prognose, nach der zwischen dem heurigen Mai und September fast eine halbe Million Menschen –und damit jeder fünfte – von katastrophaler Ernährungsunsicherheit betroffen sein werde, darunter über 70.000 Fälle akuter Mangelernährung bei Kindern unter fünf Jahren. Der Bericht verwies auf leere Lagerhäuser, explodierende Lebensmittelpreise und einen sich verschlechternden Trend bei der Prävalenz akuter Mangelernährung.
Kritiker machten jedoch rasch darauf aufmerksam, dass die IPC im Lauf des Gaza-Kriegs wiederholt dramatische Warnungen ausgesprochen hatte, die später von ihrem eigenen Famine Review Committee widerlegt wurden. 57 vom Gesundheitsministerium im Gazastreifen gemeldete Hungertote sind nicht verifizierbar und liegen ohnehin weit unter den Schwellenwerten einer Hungersnot. Der Anteil an Kindern mit akuter Mangelernährung stieg von 2,5 Prozent im Februar auf 4,2 Prozent im April, blieb damit aber weiterhin vergleichbar mit dem Vorkriegsniveau und weit entfernt von Hungersnotwerten.
Gemäß dem technischen Handbuch der IPC wird alles unter fünf Prozent mit Phase 1 (Akzeptabel) oder maximal Phase 2 (Angespannt) von insgesamt fünf klassifiziert. Warum im Gaza-Bericht die Klassifikation Phase 2 bis 3 (Ernst) angewandt wurde, ist nicht ersichtlich.
Europa wird ungeduldig
So weit, so gewöhnlich: Sensationelle Warnungen der Hilfsorganisationen weitab jeder faktischen Grundlage sind in diesem Konflikt wahrlich nichts Neues. Neu ist allerdings, dass sich dieses Mal gemäß einem Bericht der New York Times auch israelische Beamte der wachsenden Besorgnis anschließen und warnen, die Lebensmittelvorräte könnten in den kommenden Wochen ausgehen.
Derweil arbeiten Israel und die USA an einem alternativen Verteilungsplan für Hilfsgüter, um die Gelegenheiten für Diebstahl seitens der Hamas möglichst einzugrenzen. Laut ersten, bislang noch unbestätigten Berichten hat die israelische Regierung zugestimmt, die Blockade aufzuheben, während der alternative Plan schrittweise ausgerollt wird.
In der Zwischenzeit hat sich in Europa ein neuer Konsens gebildet, der die Blockade humanitärer Hilfslieferungen in den Gazastreifen scharf verurteilt. Sei es, weil Europa auf das Wohlwollen muslimischer Staaten angewiesen ist, um den Zustrom afrikanischer und nahöstlicher Migranten zu bremsen. Sei es, weil die Rückkehr Donald Trumps ins amerikanische Präsidentenamt endgültig offenbart hat, dass Europa militärisch gesehen im fortgeschrittenen Alter immer noch bei seinen Eltern wohnt – und dementsprechend Partner wie die Türkei für die Nachrüstung und die arabischen Golfstaaten für Energierohstoffe im herannahenden Konflikt mit Russland brauchen wird.
Oder sei es lediglich, weil die Bereitschaft – man ist unweigerlich versucht zu sagen: der Eifer –, mit der die Hamas ihre eigene Zivilbevölkerung zur Schlachtbank führt, derart bizarr ist, dass sie bei Menschen weltweit einen intellektuellen Kurzschluss auslöst. Aus welchem Grund auch immer, auf jeden Fall beklagen mehr und mehr europäische Politiker – fälschlicherweise – angebliche Völkerrechtsverstöße.
Der französische Präsident Emmanuel Macron nennt die Blockade »inakzeptabel« und »beschämend« und fordert EU-Sanktionen gegen Israel.
Die Europäische Union will ihre Handelsbeziehungen mit Israel überprüfen, nachdem der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp in einem Brief an EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas erklärt hatte, das israelische Verteilungssystem für Hilfsgüter sei »nicht mit den humanitären Grundsätzen der Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit vereinbar und würde eine bedingungslose und ungehinderte Verteilung an Bedürftige nicht ermöglichen«.
Kallas selbst betonte Israels Recht auf Selbstverteidigung, bezeichnete die Maßnahmen jedoch als unverhältnismäßig und erklärte unlängst, die Lage im Gazastreifen sei »unhaltbar« und »Israel müsse die Blockade sofort beenden«.
Derartige Äußerungen sind mittlerweile Usus geworden: Israel wird nominell unterstützt, aber konkrete Forderungen zum militärischen Vorgehen richten sich ausschließlich an Israel. Die Hamas hingegen wird zwar gelegentlich zur Freilassung der Geiseln aufgefordert, nie jedoch zur Entwaffnung oder zur Beendigung der Nutzung ziviler Infrastruktur und Plünderung von Hilfsgütern.
Beispielsweise erklärte die österreichische Außenministerin Beate Meinl-Reisinger, die klare Haltung der österreichischen Regierung sei, dass nach dem 7. Oktober 2023 »wir an der Seite Israels« stehen, »gleichzeitig mahnen wir ein, dass Völkerrecht eingehalten werden muss – und das Zurückhalten humanitärer Hilfe ist ein Bruch des Völkerrechts«. Das ist fast richtig – aber eben nur fast.
Und das Völkerrecht?
Unter normalen Umständen – sprich: wenn nicht eine Seite gezielt ihre eigene Zivilbevölkerung opfern will – sind Konfliktparteien verpflichtet, humanitäre Hilfe zu ermöglichen. Der relevante Passus der Genfer Konvention, der die Notwendigkeit anerkannt, zynische Akteure wie die Hamas vom Missbrauch des Völkerrechts abzuhalten, erlaubt jedoch die Zurückhaltung von Hilfsgütern, wenn ein glaubwürdiges Risiko der Umleitung und berechtigte Bedenken bestehen, dass die feindliche Partei einen offensichtlichen militärischen oder wirtschaftlichen Vorteil aus solchen Lieferungen ziehen könnte.
An Belegen der Plünderung von Hilfslieferungen durch die Hamas mangelt es nicht. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, bestätigte dies und sagte Anfang Mai, er mache »hauptsächlich mit der Hamas verbundene Banden verantwortlich« für »Plünderungen und Diebstähle, die auf Lagerhäuser mit humanitären Hilfsgütern abzielen«. Selbst humanitäre Organisationen bestreiten nicht, dass Diebstahl stattfindet. Sie bestreiten lediglich, dass dies in nennenswertem Ausmaß geschieht.
Aber irgendetwas passt hier nicht zusammen: Während der sechswöchigen Feuerpause vom 19. Januar bis zum 2. März ermöglichte der israelische Coordinator of Government Activities in the Territories (COGAT) die Einfuhr von fast 340.000 Tonnen Lebensmitteln in den Gazastreifen. Das entspricht einem Viertel aller seit Oktober 2023 eingeführten Lebensmittel und müsste bei regulärem Verbrauch deutlich mehr als ein halbes Jahr ausreichen. Wie kann es also sein, dass die Bevölkerung kaum zwei Monate später verhungert?
Es gibt eine Welt, in der die Küstenenklave am Rande einer Hungersnot stehe, und es gibt eine Welt, in der die Hamas keine nennenswerten Mengen der gelieferten Hilfsgüter horte. Beides zugleich kann jedoch nicht sein. Wenn also irgendjemand Hunger als Waffe missbraucht, dann ist es die dafür so gut wie nie kritisierte Terrororganisation Hamas. Zweifelsfrei verdient ihre Rolle im fortwährenden Leid der Zivilbevölkerung wesentlich mehr europäische Aufmerksamkeit.
Zwar finanziert die EU die Hamas nicht direkt, ist aber einer der größten Geldgeber der Palästinensischen Autonomiebehörde. Man kann sich nur auf den Tag freuen, so er denn je kommen wird, an dem sie ihr finanzielles Gewicht endlich im Sinne ihres erklärten Ziels eines friedlichen Zusammenlebens einsetzen wird, etwa, indem sie Hilfsgelder an die verbindliche Entfernung antisemitischer und terrorverherrlichender Inhalte aus palästinensischen Schulbüchern knüpft.
Die EU trägt außerdem über vierzig Prozent des UNRWA-Budgets, der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge. Insofern kann man sich ebenso auf den Tag freuen, so er denn kommen wird, an dem europäische Länder die zahlreichen Verstöße der UNRWA überprüfen und offen benennen werden. Das würde eine Gelegenheit bieten, zu beweisen, dass das europäische Engagement im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht nur ein opportunistisches, scheinheiliges Virtue Signalling gegenüber ihrer TikTok-süchtigen Wählerschaft und ihren geopolitisch viel mächtigeren muslimischen Partnern ist, die Israel in die Wehrlosigkeit mobben wollen.