Wenn wir von Neuwahlen in Israel am 1. November sprechen, klingt das nach einer Mischung aus Ironie und Sarkasmus – denn was soll daran »neu« sein?
Als nach den Wahlen im April 2019 keine Regierungsbildung möglich war und deshalb schon im September desselben Jahres wieder gewählt werden musste, war das Beiwort »neu« noch in jeder Hinsicht angebracht. So etwas hatte es ja in der Geschichte des Staates noch nie gegeben!
Bürger, Kommentatoren, Analysten, Politiker und Strategen aller Lager schienen in kollektivem Entsetzen die Köpfe zu schütteln und die Augen zu rollen. Das darf doch nicht wahr sein und das kann doch niemand wollen, hieß es, das ist überflüssig und absurd, eine haarsträubende Geldverschwendung, Israel ist gelähmt, geschwächt, gefährdet!
Nun steht Israel vor dem fünften Wahlgang in dreieinhalb Jahren, und niemanden regt das mehr auf. Um den Überblick zu bewahren: Gewählt wurde 2019 (eben sogar zwei Mal); dann 2020 und 2021 wieder – und jetzt wird 2022 halt wieder gewählt. Da musste ja ein Gewöhnungseffekt eintreten. Und auch die jetzt wieder Woche für Woche brandneu gelieferten Umfragen sehen ganz alt aus, weil sie ein ums andere Mal nur bestätigen: Es wird wieder keine klare Entscheidung geben, das wahrscheinlichste Ergebnis der Wahl Nr. 5 ist also die Wahl Nr. 6.
Ein paar Punkte zur Hilfe bei der Suche nach einem System im israelischen Wahl-Wahnsinn:
1. Alles bleibt gleich
Wie jedes Mal, wenn ein neuer Wahltermin feststeht, laufen auch jetzt wieder gewaltige seismische Wellen durch Israels politisches Erdreich. Parteien werden gegründet, ändern ihre Namen, spalten sich, fusionieren, gehen unter, rekrutieren Überläufer und Quereinsteiger, reihen ihre Kandidaten. Alles gerät in Bewegung, doch es ist eine Scheinbewegung. Am Ende kommen immer rund vierzig wahlwerbende Listen heraus, von denen es dann zehn bis zwölf ins Parlament schaffen. Und die Blöcke, auf die es bei der Koalitionsbildung ankommt, bleiben mehr oder weniger gleich stark.
2. Alte Schemata gelten nicht mehr
Sehr vereinfacht gesprochen gibt es im Parlament schon seit langer Zeit drei Blöcke: die jüdischen Parteien A, die jüdischen Parteien B und die arabischen Parteien. Dabei wurden die arabischen Parteien lange Zeit beim Zählen der Mandate für Koalitionen von vornherein weggelassen, weil einerseits sie nicht mitmachen wollten und andererseits die anderen Parteien sie nicht dabeihaben wollten.
Noch bis zur ersten Wahl 2019 galt: A ist »die Linke«, B »die Rechte«. Doch seit der zweiten Wahl 2019 ist das anders. Nun steht A für »Anti-Bibi« und B für »Pro-Bibi«. Damit ist gemeint, dass die einen auf gar keinen Fall mit Benjamin »Bibi« Netanjahu, dem Chef des rechtskonservativen Likud, zusammenarbeiten wollen, während für die anderen nur Netanjahu als Regierungschef infrage kommt.
Das Rechts-Links-Schema gilt also nicht mehr. Zum Anti-Netanjahu-Lager gehören etwa mit dem jetzigen Finanzminister Avigdor Lieberman oder dem jetzigen Justizminister Gideon Saar langgediente prominente Politiker, die rechts von Netanjahu stehen. Zudem gilt seit vorigem Jahr die »Regel« nicht mehr, dass arabische Parteien für Koalitionen nicht zur Verfügung stehen, weil erstmals eben doch eine arabische Partei offiziell Koalitionspartnerin geworden ist.
3. »Unmögliche« Regierungen
Die Bildung einer homogenen, arbeitsfähigen Regierung galt grundsätzlich nur dann für möglich, wenn entweder Block A oder Block B auf mindestens 61 der 120 Parlamentsmandate kommt. Das ist nach keiner der letzten vier Wahlen eingetreten. Ja, zwei Mal wurden trotzdem Regierungen gebildet, aber das waren dann eben »unmögliche« Regierungen.
Nach der Wahl Nr. 3 ließ sich Benny Gantz, Chef einer Zentrumspartei, die sich damals Blau-Weiß nannte und zu jenem Zeitpunkt Galionsfigur des »Anti-Bibi«-Blocks war, zur allgemeinen Verblüffung auf eine Koalition mit Netanjahu ein. Rechtfertigung dafür war die Corona-Misere, aber auch schlicht die Staatsräson, weil man ja um jeden Preis Wahl Nr. 4 vermeiden wollte. Aber die Vernunftehe hielt nur von März bis Dezember 2020, eine Periode, in der ständig gestritten wurde und nichts weiterging.
Die Regierung, die nach der Wahl Nr. 4 zustande kam und als Übergangsregierung immer noch amtiert, war noch »unmöglicher«. Sie fußte auf einer Koalition von nicht weniger als acht Parteien. Die Koalitionspartner vertraten unterschiedliche bis konträre Ideologien. Die Koalition hatte im Parlament bloß genau die Minimalmehrheit von 61 Mandaten. Und Premierminister wurde mit dem Nationalreligiösen Naftali Bennett der Chef einer kümmerlichen Sechs-Prozent-Partei.
4. Einiges zusammengebracht
Trotzdem hat die Regierung Bennett ein ganzes Jahr gehalten, nach jetzigen Maßstäben eine schon bemerkenswerte Leistung. Und sie hat auch einiges zusammengebracht. Die letzte Corona-Welle hat man ohne Lockdown durchgestanden, auch deswegen, weil Israel nach einer mutigen Entscheidung Bennetts schon im Januar als erstes Land der Welt die vierte Impfung zugelassen hat. Die Wirtschaft ist bisher auch relativ gut durch die globale Krise gekommen, mit Nulldefizit, geringer Arbeitslosigkeit und Teuerungsraten, die deutlich niedriger sind als jene in der Eurozone.
Im Bereich der Sicherheit war zu registrieren, dass die Hamas keineswegs versucht hat, eine etwa wahrgenommene »Schwäche« der israelischen Regierung auszunützen, sondern sich im Gasastreifen relativ still verhält und seit mehr als einem Jahr keine Raketen oder Brandballons auf Israel losgelassen hat. Der Islamische Dschihad hat Anfang August zwar einen Raketenkrieg angezettelt, der aber von Israels politischer und militärischer Führung gut gemanagt wurde und nach drei Tagen schon wieder beendet war.
Nahostpolitisch wurde das Abraham-Abkommen gefestigt, das noch unter der letzten Regierung Netanjahu die Beziehungen zwischen Israel und einigen arabischen Ländern normalisiert hatte. Ein Highlight war der Negev-Gipfel im März, als sich vier arabische Außenminister ganz unbefangen auf israelischem Boden mit ihren Amtskollegen aus Israel und den USA zeigten. Im Mai wurde dann sogar ein Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten unterzeichnet, das erste zwischen Israel und einem arabischen Land.
5. Pragmatischer Partner
Gut gelungen ist etwas, was als gewagtes Experiment galt: die erstmalige Regierungsbeteiligung einer arabischen Partei. Mansour Abbas, Chef der kleinen Ra’am-Partei, wirkte wie ein seriöser, verlässlicher und pragmatischer Partner. Von seiner Weltanschauung her ein erzkonservativer Islamist, demonstrierte er, dass er Politik in Israel und nicht gegen Israel machen will.
Anders als viele andere arabische Parlamentarier schimpft er nicht ständig auf die israelische Führung, sondern sucht den Konsens, um bessere Straßen, eine bessere Stromversorgung oder mehr Wohnungen und Arbeitsplätze für die arabischen Städte und Dörfer herauszuholen. Offen blieb, wie das in einer wirklich ernsten Sicherheitssituation funktionieren würde, etwa während eines längeren Kriegs gegen die Hamas oder die Hisbollah.
6. Politischer Selbstmord
Egal, wie man die Leistung seiner Regierung bewertet – es war sofort klar, dass Bennett mit der Bildung dieser Regierung paradoxerweise politischen Selbstmord begangen hatte. Der Chef der nationalreligiösen Partei Yamina (»Nach rechts«) hatte im vorigen Wahlkampf seinen Anhängern nämlich vor laufender Kamera (!) schriftlich (!) versprochen, dass er nie und nimmer in eine Koalition mit linken oder arabischen Parteien eintreten würde.
Genau das hat Bennett aber dann gemacht, und die Yamina-Wähler fühlten sich zu Recht betrogen. Da diese von vornherein schon ein sehr kleiner Haufen waren, sind jetzt nur noch Spurenelemente übriggeblieben. Fazit: Bennett hatte ein interessantes Jahr als Premierminister, aber jetzt keine Chance, ins nächste Parlament zu kommen, und tritt daher gar nicht mehr an.
7. Premierbonus
Fair und vertragstreu hat Bennett das Amt an Yair Lapid abgegeben, den Chef der Zentrumspartei Yesch Atid (»Es gibt eine Zukunft«). So war es nämlich im sogenannten Rotations-Abkommen für den Fall vorgesehen war, dass der rechte Flügel der Koalition deren vorzeitiges Ende verschuldet. In der Tat war ja durch das Abspringen von Abgeordneten der Bennett-Partei die Mehrheit im Parlament verloren gegangen.
Dem früheren Fernsehmoderator und Zeitungskolumnisten Lapid haftet noch immer das Flair des Novizen an, weil er erst vor zehn Jahren im Alter von 48 Jahren in die Politik eingestiegen ist. Manche nehmen ihn nicht wirklich ernst und empfinden ihn als Effekthascher. Aber seine Partei ist jetzt auf Platz zwei etabliert, und Lapid war inzwischen schon Finanzminister und Außenminister und geht jetzt sogar mit dem Premierbonus in die Wahlen.
8. Mittelpunkt »Bibi«
Im Mittelpunkt auch der Wahl Nr. 5 steht aber wieder Benjamin Netanjahu, der am Wahltag immerhin schon 73 Jahre alt sein wird. Er ist immer noch da, obwohl er seit mehr als zwei Jahren als Angeklagter vor Gericht steht und vier Mal hintereinander gar keine oder keine stabile Regierung zustande gebracht hat. Netanjahus Likud liegt in den Umfragen nach wie vor mit Abstand auf Platz eins.
Weil Lapid vor Kurzem in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung überraschend von einer Zwei-Staaten-Lösung gesprochen hat, kamen plötzlich wieder viele Wortmeldungen zum Konflikt mit den Palästinensern, der früher immer das entscheidende Wahlkampfthema gewesen ist. Aber nein –, dominant ist auch bei diesen Wahlen wieder die Frage: »Bloß nicht Bibi« oder »Nur Bibi«.
9. Anhaltende Blockade
In einigen der letzten Umfragen kommt der Pro-Netanjahu-Block zwar auf die magischen 61 Mandate, in den meisten liegt er aber bei 60 oder weniger. Es wird also sehr knapp, und es sieht wieder nach Blockade aus. Wer ist schuld daran? Die Antwort hängt von der Perspektive ab.
Man kann sagen, dass Netanjahu schuld ist, denn hätte er den Anstand gehabt, nach der Anklage von allen politischen Ämtern zurückzutreten, hätte er seinem Land den Schaden und den Spott erspart. Man kann aber auch sagen, dass die Netanjahu-Gegner schuld sind, weil sie einen Rivalen, der immer wieder die meisten Stimmen bekommt, ohne Rücksicht auf die Folgen ausgrenzen.
Und wie und wann wird Israel aus dieser Blockade herausfinden? Vorläufig wohl gar nicht. Ja, wenn Netanjahu rechtskräftig verurteilt würde, wäre der Knoten zerschlagen, aber der Weg durch alle Instanzen dauert noch Jahre. Immer wieder hört man den Vorschlag, die Hürde für den Parlamentseintritt (derzeit 3,25 Prozent) zu erhöhen, damit kleine Fraktionen ausgesperrt bleiben und der Wählerauftrag klar wird. Aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn dafür wäre eine Gesetzesänderung nötig, für die es eben keine Mehrheit gibt.
10. Last but not least
Die vielleicht interessanteste Lehre für Israel und die Welt: Auch ohne Regierung geht das Leben weiter, und nicht einmal so schlecht.