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Ein Riss geht durch das Land – und durch mich

Trauerfeier für die von der Hamas ermordete israelische Geisel Hersh Goldberg-Polin in Jerusalem
Trauerfeier für die von der Hamas ermordete israelische Geisel Hersh Goldberg-Polin in Jerusalem (© Imago Images / UPI Photok)

Angesichts der immer noch in den Händen der Hamas befindlichen israelischen Geiseln, steht das Land vor einem schier unlösbaren Dilemma.

Eine politische Meinung zu haben ist leicht – solange sie abstrakt bleibt. Denke ich analytisch nach, wie die Lösung aussehen könnte, um die noch lebenden Geiseln aus den Tunneln der Hamas im Gazastreifen zu befreien, weiß ich im Grunde genommen, dass der täglich zitierte »Geiseldeal« sogar bei einer tatsächlichen Umsetzung nicht die Lösung wäre.

Versetze ich mich in die Hamas, so unmöglich und unappetitlich das auch ist, wird mir klar, dass die Terroristen, Mörder, Vergewaltiger und Folterer niemals alle Entführten freilassen werden, da sie dann kein Druckmittel mehr gegenüber Israel hätten. Solange auch nur eine einzige Geisel, egal, ob sie noch lebt oder schon ermordet wurde, in ihren Händen ist, üben sie Macht aus.

Und so lange werden die Israelis, alle betroffenen Mütter, Väter, Kinder, Angehörigen und Freunde der Verschleppten Druck auf die Regierung Netanjahu ausüben. Wie sich bei den schon stattgefundenen »Geiseldeals« gezeigt hat, sind lebende oder auch tote Geiseln eine sichere Währung für die Hamas. Ihr Wert geht sogar noch über ihre großzügigen Finanzmittel hinaus, die sie jedoch nicht für die eigene Bevölkerung einsetzt.

Denn für jede der bis jetzt freigelassenen Geiseln wurden per »Deal« auch zahlreiche verurteilte palästinensische Verbrecher und Mörder aus israelischen Gefängnissen freigelassen. Sie werden ganz bestimmt nicht nach Hause gehen, um sich für friedliche Koexistenz einzusetzen. Die Verbrechen der Dschihadisten werden nicht aufhören, solange sie auch nur eine Waffe in der Hand haben, mit der sie morden können – und sie haben viele. Ein »Deal« ohne Bedingungen, welche die militärische Macht der Hamas nicht zerstört, ist mit Sicherheit nur eine Garantie für die nächsten Attacken. Das hat die Geschichte leider gezeigt.

Schier unlösbares Dilemma

Also: Treiben den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu wirklich nur persönliche Motive an, um harte Bedingungen zu stellen? Geht es ihm ausschließlich um seine persönliche Macht, die ihm die Smotrichs und Ben Gvirs sonst jederzeit entziehen könnten? Ich habe da meine Zweifel. Man kann mit Terroristen nicht fair und nett verhandeln. Ein »Geiseldeal« um jeden Preis würde also nur kurzfristig halten, bevor das nächste Morden beginnt. So sehe ich das analytisch.

Aber: Ich bin auch Vater. Mein Sohn Daniel lebte bis vor Kurzem vierzehn Jahre lang in Israel. Er war jedes Jahr bei einer Party wie dem Nova-Festival, einem Friedensfestival im Grenzgebiet zum Gazastreifen. Es ist reiner Zufall, dass ich meinen Sohn heute in New York umarmen kann und nicht in den Tunneln in Gaza weiß.

Es ist nur Zufall, dass er nicht wie zahllose andere junge Menschen in Israel in Lebensgefahr ist, weil er als Soldat versuchen würde, die Geiseln zu befreien. Diese vielen jungen Menschen, die alles hätten werden, alles noch erleben und erreichen hätten können!

Jeden Tag trauern wir um diejenigen, die kein Leben mehr vor sich haben. Wäre auch mein Sohn Daniel verschleppt worden, wäre ihm auch nur ein Haar gekrümmt worden, ich würde auch auf der Straße und mit einem Megafon an der Grenze zu Gaza stehen und mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln alles verlangen, um mein Kind wieder in den Armen zu halten. Alles, aber auch alles. Bedingungslos.

Und genau das ist das Dilemma der israelischen Gesellschaft, die zu Zehntausenden auf die Straße geht, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Der tiefe Kummer jener Generationen, deren Familien in Europa millionenfach ermordet wurden, und der nie enden wollende Überlebenskampf für das Recht auf Existenz. Fanatischer, zu aller Menschen- und Lebensverachtung bereiter Islamismus breitet sich weltweit aus. Juden können sich nirgendwo wieder sicher fühlen.

Nicht zu ertragen

Meine Generation hatte ein paar Jahrzehnte lang Glück, wir haben einigermaßen sicher und gut gelebt. Aber die Generation meines Sohnes ist jetzt – egal, wo sie lebt – dort, wo meine Eltern schon einmal waren. Wie sollen wir diesen Gedanken ertragen?

Wie kann es die Mutter einer Geisel ertragen, dass ihr Sohn nach elf qualvollen Monaten, kurz bevor die israelische Armee ihn erreichen konnte, von der Hamas ermordet wurde? Diese feige Tat sollte dazu dienen, die israelische Gesellschaft noch weiter zu spalten. Wie kann man es ertragen, sie jetzt weinend an seinem Grab stehen zu sehen und sie rufen zu hören: »Hersh, jetzt bist du frei«?

Dies ist ein Auszug aus unserem Newsletter vom 4. September. Wenn Sie den nächsten Newsletter erhalten möchten, melden Sie sich an!

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